Nebel im August

Nebel im August

Nebel im August

Originaltitel: Nebel im August – Regie: Kai Wessel – Drehbuch: Holger Karsten Schmidt nach dem Roman "Nebel im August" von Robert Domes – Kamera: Hagen Bogdanski – Schnitt: Tina Freitag – Musik: Martin Todsharow – Darsteller: Ivo Pietzcker, Sebastian Koch, Fritzi Haberlandt, Henriette Confurius, Thomas Schubert: Paul Hechtle, Branko Samarovski, David Bennent, Jule Hermann, Niklas Post, Karl Markovics: Christian Lossa, Carla Karsten u.a. – 2016; 125 Minuten

Inhaltsangabe

Im Alter von 13 Jahren wird Ernst Lossa 1944 in einer Nervenheilanstalt ein­ge­sperrt, die sich am Euthansie-Programm des NS-Regimes beteiligt. Der leitende Arzt ist kein "Heil Hitler" brüllender Schurke, glaubt jedoch, es gehöre zu seinen Pflichten, den "Volkskörper" zu reinigen. Das Töten übernimmt eine Kranken­schwester. Ernst Lossa durchschaut die Machenschaften und will mit seiner Freundin Nandl fliehen ...
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Kritik

Bei der Verfilmung des Tatsachenromans "Nebel im August" von Robert Domes konzentriert sich Kai Wessel auf die letzten Monate im Leben des 13-jährigen Ernst Lossa, der von Ivo Pietzcker ebenso eindrucksvoll wie glaubwürdig verkörpert wird.
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Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) wird Anfang Mai 1944 in die Nervenheilanstalt Heiligenbrück eingeliefert. Der 13-Jährige gehört zu den Jenischen, einer heterogenen Bevölkerungsgruppe in West- und Mitteleuropa, die durch Mittellosigkeit und Dauermigration gekennzeichnet ist. Seine Mutter starb vor längerer Zeit, und der vagabundierende Vater (Karl Markovics) ist nicht in der Lage, sich um Ernst zu kümmern. Weil der Junge als rebellisch gilt, stuften ihn Erziehungsheime als „unerziehbar“ ein und schoben ihn in die von Dr. Walter Veithausen (Sebastian Koch) geleitete psychiatrische Einrichtung ab. Beim Aufnahmegespräch gewinnt der Mediziner den Eindruck, einen kräftigen, gut als Erntehelfer einsetzbaren Jungen vor sich zu haben. Als er die Striemen auf Ernsts Rücken sieht, versichert er dem Jungen, dass in seiner Einrichtung niemand geschlagen werde.

Zunächst ist Ernst entsetzt, als er erkennt, dass er in einer Irrenanstalt eingesperrt ist, aber allmählich gewöhnt er sich an das neue Umfeld, hilft auf dem Feld und geht dem gutherzigen Hausmeister Max Witt (Branko Samarovski) willig zur Hand.

Er freundet sich mit Hermann Klein (Juls Serger) an, aber der wird nach kurzer Zeit von seinen Eltern abgeholt. Ernst träumt davon, mit seinem Vater nach Amerika auszuwandern und am Michigan See zu wohnen. Christian Loss kommt tatsächlich nach Heiligenbrück, um ihn aus der Heil- und Pflegeanstalt zu holen. Er war selbst im Konzentrationslager und musste nach seiner Freilassung erst nach seinem Sohn suchen. Weil er jedoch keinen festen Wohnsitz nach- und keine Meldebestätigung vorweisen kann, verweigert ihm Dr. Veithausen die Mitnahme des Jungen und beruft sich auf die gesetzlichen Bestimmungen.

In regelmäßigen Abständen werden von einer Zentrale in Berlin bestimmte Personen aus Heil- und Pflegeanstalten in Tötungsanstalten gebracht. Die Busse aus Heiligenbrück fahren nach Hadamar bei Limburg. Eines Tages ruft Dr. Veithausen den Assistenten Paul Hechtle (Thomas Schubert) und die katholische Oberschwester Sophia (Fritzi Haberlandt) in sein Büro. Nachdem er erklärt hat, dass die Zentraldienststelle T4 in Berlin das Euthanasie-Programm mit sofortiger Wirkung beendet habe, schickt er Sophia hinaus und weiht Paul Hechtle in die neuen Bestimmungen ein: Die Heil- und Pflegeanstalten sind nun selbst für die Auswahl der Patienten und deren Tötung verantwortlich. Unterstützung erhält Dr. Veithausen durch die Krankenschwester Edith Kiefer (Henriette Confurius) aus Hadamar. Sie gibt den von ihm ausgewählten Kindern Himbeersaft mit einer tödlichen Menge Barbiturat zu trinken. Auf die Totenscheine schreibt Dr. Veithausen „Bronchopneumonie“.

Schwester Sophia durchschaut bald die Rolle der neuen Kollegin. Als sie bei Dr. Veithausen gegen das Morden protestiert, gibt dieser alles zu und fragt sie rhetorisch, warum sie nicht schon gegen die Transporte nach Hadamar protestiert habe. Sophia wendet sich auch ihren Bischof (Christian Redl), aber der speist sie mit hohlen Phrasen ab.

Ernst ist ein guter Beobachter, und ihm entgeht ebenso wenig wie Sophia, was die aus Hadamar angereiste Krankenschwester tut. Edith Kiefer erzählt ihm, sie habe als Kind ein Reh mit gebrochenen Hinterläufen gefunden und es mit nach Hause nehmen wollen. Aber stattdessen habe ihr Vater das totgeweihte Tier an Ort und Stelle „erlöst“.

Als sie der kleinen Amelie (Carla Karsten) einen Becher mit vergiftetem Himbeersaft bringt, stößt Ernst ihn um und verschüttet den Inhalt auf dem Boden. Während Edith Kiefer einen neuen Becher holt, versteckt Sophia das bedrohte Mädchen mit Ernsts Hilfe in ihrer Kammer.

Der aufgeweckte Junge freundet sich mit dem epilepsiekranken Waisenmädchen Nandl (Jule Hermann) an. Weil er einen Kellerschlüssel gestohlen hat, kann er mit Nandl aus einem Kellerschacht ins Freie klettern. Er verspricht ihr, sie mit nach Amerika zu nehmen.

Dr. Walter Veithausen reist mit anderen Leitern von Nervenheilanstalten zu einer Konferenz nach Berlin, wo ihnen ein SS-Offizier (Patrick Heyn) erklärt, dass das untere Drittel der Bevölkerung ausgerottet werden müsse. Nur so könne der „Volkskörper“ gesunden. Es müsse mehr gestorben werden, meint er zynisch. Aber die im Euthanasie-Programm eingesetzten Barbiturate und Opiate seien zu teuer. Stolz präsentiert Veithausen eine von ihm entwickelte Gemüsesuppe, der alle Nährstoffe entzogen wurden („E-Kost“). Personen, die ausschließlich damit ernährt werden, verhungern, obwohl sie dreimal am Tag essen.

Als der Geisteskranke Oja (David Bennent) laut schreiend um die tote Teresa trauert, lässt Dr. Veithausen ihn mit einer Giftinjektion ermorden.


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Ernst will mit Nandl fliehen. Bei einem Fliegeralarm bleibt er mit ihr im Speisesaal zurück, während alle anderen zum Luftschutzbunker rennen. Das Chaos ausnutzend, gelangen die beiden dann unbemerkt ins Kellergewölbe. Dort stoßen sie auf Sophia und Amelie. Die Krankenschwester hält Ernst und Nandl nicht zurück, im Gegenteil, sie ermutigt die Kinder zur Flucht. Aber in dem Augenblick, in dem diese durch den Kellerschacht ins Freie klettern wollen, wird das Gebäude von einer Bombe getroffen. Sophia und Amelie überleben die Detonation nicht; Nandl wird schwer verletzt.

Nach der Trauerfeier für Sophia beschimpft Ernst den Anstaltsleiter als Lügner und Mörder.

Nandl wird zwei Wochen lang im Bett bleiben müssen und drängt deshalb Ernst, ohne sie zu fliehen.

Aber es ist zu spät: Dr. Veithausen setzt den 13-Jährigen hasserfüllt auf die Liste der in dieser Nacht zu tötenden Kinder. Weil Paul Hechtle Skrupel hat, einen gesunden Jungen mit einer Giftspritze zu ermorden, schickt der Chef Edith Kiefer mit.

Am nächsten Morgen ahnt Nandl, dass ihr Freund tot ist, und der Hausmeister bestätigt es. Daraufhin klettert sie aus dem Bett, schleppt sich mit Krücken in den Speisesaal, wo gerade gefrühstückt wird, und verkündet, sie habe einen Brief von Ernst aus den USA erhalten. Er habe es geschafft.

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Der Kinofilm „Nebel im August“ basiert auf dem gleichnamigen Tatsachenroman von Robert Domes („Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“, 353 Seiten, cbt, München 2008). Holger Karsten Schmidt (Drehbuch) und Kai Wessel (Regie) lassen allerdings die von Robert Domes recherchierte Vorgeschichte weg und konzentrieren sich auf die letzten Monate im Leben von Ernst Lossa.

An diesem Einzelschicksal eines 13-Jährigen thematisiert das Filmdrama „Nebel im August“ eines der massenhaft ausgeführten Verbrechen der Nationalsozialisten: das Euthanasie-Programm, bei dem mehr als 200 000 Menschen ermordet wurden. Mit Dr. Walter Veithausen ist nicht nur Dr. Valentin Faltlhauser gemeint, sondern Holger Karsten Schmidt und Kai Wessel verschmelzen in der von Sebastian Koch verkörperten Filmfigur noch drei weitere Männer des Klinikpersonals. Paul Hechtle entspricht dem realen Pfleger Paul Heichele. Für die Ordensschwester Sophia gibt es kein Vorbild in der Wirklichkeit. Ebenso fiktiv ist Nandl. Bei Edith Kiefer hingegen dachten die Filmemacher an Pauline Kneissler.

Der Psychiater Michael von Cranach (* 1941), der 1980 bis 2006 als leitender ärztlicher Direktor im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren tätig war und wesentlich zur Aufarbeitung des Euthanasie-Programms des NS-Regimes beigetragen hat, regte den Journalisten Robert Domes (* 1961) zu dem Jugendbuch „Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“ an und wirkte als Berater bei dem Filmprojekt mit.

Eugenik ist nicht nur ein zeitgeschichtliches Thema, sondern auch im Zusammenhang mit der Diskussion über pränatale Diagnostik und Sterbehilfe aktuell.

Holger Karsten Schmidt und Kai Wessel erzählen die Geschichte aus dem Blickwinkel des 13-jährigen Ernst Lossa. Die Optik ist bewusst unspektakulär; „Nebel im August“ kommt ohne Effekthascherei, Pathos und dramatische Musikuntermalung aus.

Kai Wessel erklärte dazu:

Mir war wichtig, so eine Nervenheilanstalt so authentisch und wahrhaftig wie möglich zu erzählen, Behinderung nicht auszustellen und aber auch nicht zu beschönigen. Jeder Mensch, der in diesem Film vorkommt, ob gut oder schlecht oder böse oder behindert oder nicht behindert, sollte die gleiche, erst mal zumindest, die gleiche Wertigkeit und Würde bekommen […], aber wir wollten nicht schwarz-weiß zeichnen. Wir wollten den Nazis keinen NSDAP-Stempel auf die Stirn geben. In diesem Mikrokosmos Nervenheilanstalt, was ja wirklich auch eine autarke Welt war, in diesem Mikrokosmos sollte erst mal alles gleichbehandelt werden, und natürlich, wie gesagt, der Film sortiert das dann irgendwie schon durch. (Kai Wessel im Gespräch mit Susanne Burg)

Der unscheinbaren katholischen Ordensschwester Sophia, die vergeblich gegen das Töten von Kindern protestiert, steht die attraktive „Fachschwester“ Erika gegenüber, die das Töten übernimmt und überzeugt ist, richtig zu handeln. Sebastian Koch stellt den Eugeniker Dr. Walter Veithausen nicht als „Heil Hitler“ brüllenden Schurken dar, sondern als warmherzig wirkenden Arzt, der glaubt, seine Pflicht zu tun. Eindrucksvoll sind auch andere schauspielerische Leistungen, beispielsweise der elfjährigen Jule Hermann. Getragen wird „Nebel im August“ vom Hauptdarsteller Ivo Pietzcker, der bei den Dreharbeiten 13 Jahre alt war und in seiner Rolle nicht nur ausdrucksstark und facettenreich, sondern vor allem authentisch wirkt.

Die Dreharbeiten für „Nebel im August“ fanden vom 6. Mai bis 9. Juli 2015 statt. Die Deutschordenskommende Mülheim in Sichtigvor diente als Kulisse der fiktiven Heil- und Pflegeanstalt Heiligenbrück (die für die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee steht). Innenaufnahmen entstanden in der LWL-Klinik Warstein für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, wobei Patienten der Einrichtung als Komparsen mitwirkten.

Die Premiere von „Nebel im August“ wurde am 26. September 2016 in der Lichtburg in Essen gefeiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017

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