Uwe Timm : Alle meine Geister

Alle meine Geister
Alle meine Geister Originalausgabe Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023 ISBN 978-3-462-00549-3, 281 Seiten ISBN 978-3-462-31194-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Uwe Timm träumt eigentlich von einer Karriere als Künstler, aber sein Vater sorgt dafür, dass der knapp 15-Jährige 1955 eine Kürschner-Lehre beginnt. Im Mai 1958 besteht Uwe Timm seine Gesellenprüfung in Hamburg. 1961 bis 1963 holt er jedoch am Braunschweig-Kolleg das Abitur nach.
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Kritik

In "Alle meine Geister" erfahren wir viel über das Kürschner-Handwerk, und Uwe Timm wirft auch Schlaglichter auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Den Schwerpunkt bilden seine Lektüre-Erlebnisse. Eine Handlung im engeren Sinn gibt es nicht. Das Buch ist aus Anekdoten, Zitaten und Gedanken montiert.
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Der Vater

Nachdem August Heinrich Timm seine Frau und die drei Kinder verlassen hatte, kam sein Sohn Hans (der „kluge Hans“) statt aufs Gymnasium zu einem Onkel in Coburg und machte bei ihm eine Ausbildung zum Tierpräparator. Aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, fand Hans Timm in den Trümmern von Hamburg eine Pelznähmaschine. Die reparierte er und eröffnete ein Pelzgeschäft: „Pelze Timm“.

Weil Hans Timm kein Kürschner-Meister ist, überredet er 1955 Erich Levermann, den Inhaber eines Pelz- und Modehauses in Hamburg, seinen knapp 15 Jahre alten Sohn Uwe als Lehrling anzunehmen. Eigentlich träumt Uwe Timm davon, Künstler zu werden und einen Roman zu schreiben, aber der Vater entscheidet für ihn und denkt dabei, ein guter Volksschüler bzw. Lehrling sei besser als ein schlechter Gymnasiast bzw. Abiturient.

Kürschner-Lehre

Der Kürschnermeister Walther Kruse gibt Uwe Timm das Buch „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon zu lesen und bringt ihm bei, sowohl die Gesellschaft als auch die deutsche Geschichte kritisch zu sehen. Das ist für den Jungen neu, denn sein Bruder hatte sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und war gefallen, und sein Vater, der bei der Luftwaffe war, beteuert, diese Waffengattung habe mit den Gräueln nichts zu tun gehabt.

Am 17. April 1958 demonstrieren 100.000, vielleicht auch doppelt so viele Menschen gegen die von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß angestrebte atomare Bewaffnung der Bundeswehr.

Im Mai besteht Uwe Timm seine Gesellenprüfung.

Pelzgeschäft

Hans Timm erliegt am 2. September 1958 im Alter von 58 Jahren einem Herzschlag. Es stellt sich heraus, dass „Pelze Timm“ überschuldet ist und Konkurs anmelden müsste. Uwe Timm und seine Mutter Anna beschließen jedoch, das Familienunternehmen zu retten. Er kündigt beim Pelz- und Modehaus Levermann und bricht das gerade erst begonnene Abendgymnasium ab, um das Geschäft wieder ans Laufen zu bekommen.

Das ist schwierig, denn von Mitte der Fünfzigerjahre an werden in deutschen Kaufhäusern billige Pelzmäntel aus Griechenland angeboten. Und in dem Maße, wie Pelze von Luxus- zu Massenware werden, gerät das Geschäft in Verruf. Das hat vor allem mit der aufkommenden Massenzüchtung der Pelztiere in Käfigen und der industriellen Tötung zu tun. (Als jemand Mitte der Achtzigerjahre „Mörder“ ans Schaufenster von „Pelze Timm“ schmiert, verkauft die Mutter das Geschäft.)

Braunschweig-Kolleg

Im Herbst 1960 – das Familienunternehmen läuft wieder – hört Uwe Timm von der Möglichkeit, im Braunschweig-Kolleg, einer Ganztagsschule mit Wohngelegenheit, in zwei Jahren das Abitur nachzuholen. Im Februar 1961 beginnt er dort zu lernen – und freundet sich mit Benno Ohnesorg an, in dessen Zeitschrift „teils-teils“ Uwe Timm erste Gedichte veröffentlicht.

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Als älterer Mann erinnert sich Uwe Timm daran, wie er 1955 bis 1958 das Handwerk des Kürschners lernte und 1961 bis 1963 das Abitur nachholte. Für eine Autobiografie ist der Zeitraum von weniger als einem Jahrzehnt zu kurz; „Alle meine Geister“ ist mehr eine Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte und Bildungsroman. Zum Thema Erinnerungsarbeit notiert Uwe Timm nach einem Traum:

Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen.

In „Alle meine Geister“ erfahren wir viel über das Kürschner-Handwerk, und Uwe Timm wirft auch Schlaglichter auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Den Schwerpunkt bilden seine Lektüre-Erlebnisse. Camus, Sartre, Brecht, Bachmann, Thomas Mann, Tolstoi, Nietzsche sind ihm besonders wichtig, aber er beschäftigt sich auch mit Walter Benjamin, Gottfried Benn, Fjodor Dostojewski, Franz Kafka, Herman Melville, Henry Miller, Anaïs Nin, Rainer Maria Rilke und J. D. Salinger. Dazu teilt er seine Gedanken mit und zitiert seitenlang aus Romanen – darunter auch aus einem seiner eigenen: „Die Entdeckung der Currywurst“.

Eine Handlung im engeren Sinn gibt es in „Alle meine Geister“ nicht, und dementsprechend fehlt es auch an Dramaturgie. Das Buch ist aus Anekdoten, Zitaten und Gedanken montiert. Dabei springt Uwe Timm nicht nur zeitlich vor und zurück, sondern auch thematisch hin und her.

Das Buch „Alle meine Geister“ von Uwe Timm gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Gert Heidenreich.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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