Friedrich Christian Delius : Die Birnen von Ribbeck

Die Birnen von Ribbeck
Die Birnen von Ribbeck Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991 ISBN 3-498-01287-8, 79 Seiten Werkausgabe in Einzelbänden Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013 ISBN 978-3-499-25994-4, 79 Seiten ISBN 978-3-644-03601-7 (eBook) Neuausgabe Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019 ISBN 978-3-7371-0077-9, 106 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Anfang 1990 kommen Westberliner bzw. Westdeutsche ins Havelland, um in Ribbeck einen Birnbaum zu pflanzen, und sie laden die Dorfbewohner zu dem Fest ein. Ein Ribbecker, der sich zunehmend betrinkt, hält einen uferlosen Monolog. Er vergleicht die Unfreiheit unter den Feudalherren mit der in der DDR, berichtet von der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, schimpft über die Planwirtschaft und die zahlreichen Spitzel in der DDR, begrüßt die neue Freiheit, argwöhnt aber zugleich, dass die Besucherinnen und Besucher aus dem Westen alles andere als altruistische Ziele verfolgen.
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Kritik

Mit der Erzählung "Die Birnen von Ribbeck" mahnt Friedrich Christian Delius, weder die Vergangenheit noch Traditionen zu ignorieren. Er überlässt das Wort einem Ribbecker, der emotional und unstrukturiert redet. Seine Gedanken springen zwischen Zeiten und Themen hin und her. Literarisch betrachtet ähnelt der Text einem Stream of Consciousness, und Friedrich Christian Delius betont das auch noch, indem er keine Sätze voneinander abgrenzt, sondern nur am Ende des Buchs einen einzigen Punkt setzt.
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Der Birnbaum

Im Frühjahr 1990, kurz nach dem Zusammenbruch der DDR, kommt eine Gruppe von Westberlinern bzw. Westdeutschen ins Havelland, um in Ribbeck einen neuen Birnbaum zu pflanzen. Theodor Fontanes Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ aus dem Jahr 1889 kennen sie alle zumindest vom Hörensagen, und sie wissen, dass von dem Birnbaum, der im Gedicht eine wichtige Rolle spielt, seit einem Sturm im Februar 1911 nur noch ein Stumpf in der Dorfkirche erhalten geblieben ist. Was sie allerdings nicht ahnen: Die Dorfbewohner haben inzwischen selbst einen Birnbaum vor die Kirchenmauer gesetzt: einen anderswo ausgegrabenen Wildling, nicht einen Birnbaum der Sorte „Gräfin von Paris“, wie ihn jetzt die Menschen aus dem Westen mitbringen. Vielleicht lässt sich der Wildling später mit einem Zweig des neuen Birnbaums veredeln.

Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, dem Luftwaffengebell und den Ribbeckschen Jagdfesten nicht mehr besetzt war, fünfzig oder sechzig glänzende, frisch gewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Fotoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten und Bier und Fassbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten und nach einer kurzen Rede, die der Bürgermeister wie gewohnt mit schafsäugigem Nicken begleitete, in den Vorgarten des Altenpflegeheims, das früher das Schloss war, einpflanzten und dabei mehr auf die Videokameras als auf den Baum schielten und sich selber Beifall klatschten und uns auf die Schultern hieben […]

[…] da kommen die Sonnenmenschen aus den Sonnenstudios und bringen mit dem neuen Birnbaum Bänke, Schirme, Kaffee und Bier von transportablen Theken und feiern mit den Ribbeckern den guten Ribbeck und spielen selbst den guten Ribbeck mit Ballons und Kugelschreibern und Fassbrause […]

Die Rede

Einer der Ribbecker, die sich von den Westlern bewirten lassen und mit ihnen feiern, beginnt mit einer Rede – und hört gar nicht mehr auf. Seine Gedanken springen durch die Zeiten, von der Sage um den Birnbaum des Herrn Ribbeck zur Ermordung Hans Georg Karl Anton von Ribbecks im Februar 1945 im KZ Sachsenhausen, von der Feudalzeit zur NS-Herrschaft und zum Leben unter dem DDR-Regime mit seinen Spitzeln.

[…] lieber besoffen mit euch als besoffen mit Leuten, die sich und deinen Suffkopf als Staatseigentum behandeln und kein falsches Wort und keinen Witz dir genehmigen, lieber so ein Fest hier, wo alles drängelt, krabbelt, knistert, als ein Betriebsfest, wo die Buchhalter für sich sitzen, die Traktoristen für sich, und die Schlosser und jeder für sich am Bier nuckelt, lieber besoffen mit euch als nüchtern mit Offizieren, die ihr Gebläff über die Wiesen schickten oder stumm in geheimer Mission an Abhörmaschinen […]

[…] und wenn ihr wüsstet, was für ein Fest das Fest heute ist nach der verordneten Misere und den letzten Betriebsfesten, auch wenn der Birnenschnaps alle ist, egal, ich glaub, du begreifst immer noch nicht, was es heißt für uns, hier sitzen auf dieser Holzbank ohne Lehne und nicht mehr stramm stehen innerlich und aufpassen müssen und kein falsches Wort sagen, jeder darf alles jetzt […]

Der Dorfbewohner ist froh, dass das DDR-Regime in der Konkurrenz mit dem Westen unterlag.

[…] ihr, die westlichen Weltmeister, habt gewonnen gegen uns, die östlichen Weltmeister, der verlogene Kampf ist entschieden, und was für ein Glück, dass nicht wir gewonnen haben […]

Dennoch beobachtet der Ribbecker die Menschen aus dem Westen skeptisch und sieht die Wende kritisch. Er befürchtet, demnächst nicht nur „Zuschauer bei der großen Prügelei um die Grundstücke“, sondern auch arbeitslos zu werden, wenn die westliche die östliche Wirtschaft überrollt.

[…] nun lasst mich mal meckern, das muss man doch sagen dürfen, ich lass mir nicht mehr die Schnauze, vierzig Jahre lang hab ich die Schnauze gehalten und soll ich ausgerechnet jetzt dumm dastehn wie die Kühe und […] wiederkäuen, was ich geschluckt hab all die Jahre und jetzt schlucke, was die geschniegelten Herren im Fernsehn vorkauen, die Weisheit zwischen Mark und Markt, soll ich nur abwarten und nicken, lieber sag ich doch, was mir nicht passt […]

[…] andere, die sich in Bügelfaltenhosen und hellen Mänteln breitbeinig vor die Häuser stellen, mit gierigem Blick und blitzendem Zollstock über den Putz fahren und mit Videokamera aufzeichnen und mitnehmen, was wir hergerichtet haben zwanzig Jahre lang, für ein Brett eine Stunde angestanden, jeder Wasserhahn ertauscht, die Rohre über Beziehungen, die jahrelange Rennerei um Dachziegel, jedes Wochenende gehämmert, gebessert, gestrichen, und Geld hineingesteckt, was nun gerissen taxiert wird […]

[…] was für eine Rechnung habt ihr in der Tasche […], dass ihr uns beschenkt mit Essen und Trinken und Kugelschreibern und Gartenbüchern und einem Baum, der fünfhundert Markt kostet, schon ist das Bier alle, der Boden schwankt, schon rollt neues Bier an aus Berlinwest, das Begrüßungsbier, ich trink gern noch eins, mit euch, ein Prost auf den Baum und die Zukunft, aber könnt ihr mir erklären, warum ich für euer Bier im Konsum, in Blech verpackt und schön Farbe auf dem Etikett, nun drei Mark zahlen soll statt sechzig Pfennig für das in der Flasche […]

Während die Besucherinnen und Besucher zusammenpacken und wegfahren, redet der Dorfbewohner betrunken weiter, bis er sich mühsam aus dem Gras erhebt und lallend nach Hause torkelt.

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Das seit 2003 von der Stadt Nauen eingemeindete ehemalige Dorf Ribbeck im Havelland, rund 40 Kilometer nordwestlich von Potsdam, wurde durch die Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ aus dem Jahr 1889 berühmt.

Der Inhalt, bei dem Theodor Fontane auf das zwei Jahre zuvor veröffentlichte Buch „Sagen aus der Grafschaft Ruppin“ von Karl Eduard Haase zurückgriff, bezieht sich auf Hans Georg von Ribbeck (1689 – 1759). Der Sage nach beschenkte der Gutsherr die Kinder mit Birnen, und weil er voraussah, dass sein Sohn zu geizig sein würde, um die Tradition fortzuführen, ließ er sich eine Birne mit ins Grab legen, aus der dann ein Birnbaum wuchs. Der fiel erst einem Sturm am 20. Februar 1911 zum Opfer. Neue Birnbäume wurden 2000 und 2010 gepflanzt.

Im 1893 errichteten Barockschloss der Familie Ribbeck wurde 1956 bis 2004 ein Altenpflegeheim betrieben. Nach einer mehrjährigen Sanierung eröffnete man 2009 ein Fontane-Museum in dem Gebäude.

Den letzten Gutsherrn von Ribbeck, Hans Georg Karl Anton von Ribbeck (1880 – 1945), brachten die Nationalsozialisten im April 1944 ins KZ Sachsenhausen. Dort starb er am 15. Februar 1945.

Während der Wende begegnete der Schriftsteller Friedrich Christian Delius (1943 – 2022) dem Ribbecker Bauern Manfred Klawitter, und was dieser und andere Dorfbewohner ihm erzählten, verarbeitete er in seiner Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“.

Dabei überlässt er das Wort einem namenlosen Dorfbewohner, der sich während eines von Westberlinern bzw. Westdeutschen in Ribbeck veranstalteten Fest betrinkt und einen uferlosen Monolog hält. Der Mann vergleicht die Unfreiheit unter den Feudalherren mit der in der DDR, er berichtet von der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, schimpft über die Planwirtschaft und die zahlreichen Spitzel in der DDR, begrüßt die neue Freiheit, argwöhnt aber zugleich, dass die Besucherinnen und Besucher aus dem Westen alles andere als altruistische Ziele verfolgen.

Der Mann redet emotional und unstrukturiert; seine Gedanken springen zwischen Zeiten und Themen hin und her. Literarisch betrachtet ähnelt der Text der Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ einem Stream of Consciousness, und Friedrich Christian Delius betont das auch noch, indem er keine Sätze voneinander abgrenzt, sondern nur am Ende des Buchs einen einzigen Punkt setzt. Eine gute Entscheidung? Das sei dahingestellt; das Lesen wird dadurch jedenfalls nicht gerade erleichtert.

Mit „Die Birnen von Ribbeck“ mahnt Friedrich Christian Delius, weder die Vergangenheit noch Traditionen zu ignorieren.

Die Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ von Friedrich Christian Delius gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

Unter der Regie von Goswin Moniac brachte das Theater der Altmark in Stendal die Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ am 25. Januar 1992 auf die Bühne.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.