Theres Essmann : Federico Temperini

Federico Temperini
Federico Temperini Originalausgabe klöpfer, narr, Tübingen 2020 ISBN 978-3-7496-1026-6, 163 Seiten ISBN 978-3-7496-6026-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zwei Männer begegnen sich in Köln. Der über 80 Jahre alte Federico Temperini, der seine erfolgreiche Karriere als Violinvirtuose wegen einer Versteifung seiner linken Hand vor Jahrzehnten aufgeben musste, wohnt nun einsam und vergessen in einem schäbigen Mietshaus. Jürgen Krause, der weniger als halb so alt ist, scheiterte an der Fachhochschule für Verwaltung, fährt seit 15 Jahren Taxi und befürchtet, seinen inzwischen 16-jährigen Sohn an Ulrich zu verlieren, Leos Stiefvater, der mit Jürgens Ex-Frau Irene und dem Jungen in Augsburg lebt.
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Kritik

Die Novelle "Federico Temperini" dreht sich um Einsamkeit und Sehnsucht, Verlust, Vergänglichkeit und Loslassen. Theres Essmann konzentriert sich auf die zwei grundverschiedenen Hauptfiguren. Sie schreibt leise und feinfühlig. Ihre stilsicher gestaltete Novelle weist auch tragikomische Züge auf – und endet hoffnungsvoll. Es handelt sich im doppelten Sinn des Wortes um Schöne Literatur bzw. Belletristik.
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Jürgen Krause

Jürgen Krause lernte seine spätere Ehefrau Irene an der Fachhochschule für Verwaltung kennen, aber im Gegensatz zu ihr schaffte er den Abschluss wegen seiner Prüfungsangst nicht. Seit 15 Jahren fährt er in seiner Heimatstadt Köln Taxi. Seine Mutter Helga hätte sich wenigstens gewünscht, dass er einen Limousinen-Service betreiben würde wie sein kleinwüchsiger Vater Gustav („Limousinen-Service Starlight“), der zahlreiche Prominente chauffierte und Autogramme mit nach Hause brachte. (Zuletzt lebte der altersdemente Witwer in einem Pflegeheim.)

Irene wurde ungewollt schwanger, aber als sie und Jürgen es erfuhren, freuten sie sich auf das Kind. Inzwischen ist Leo 16 Jahre alt – und lebt bei seiner von Jürgen geschiedenen Mutter und ihrem zweiten Ehemann Ulrich, einem Steuerberater, in Augsburg. Einmal im Monat verbringt Leo ein Wochenende mit seinem Vater in Köln, und im Sommer fahren sie zusammen zwei Wochen lang durch Deutschland. Nach dem Abitur will Jürgen seinen Sohn mit einer Kanada-Reise überraschen.

Jürgen lebt allein in Köln. In seiner Freizeit liest er gerade „Mein Leben“, die Autobiografie des Rock-Gitarristen Eric Clapton, und er kennt selbstverständlich „Tears of Heaven“, die Ballade, in der Eric Clapton seine Trauer über den Tod seines vierjährigen Sohnes zu verarbeiten versuchte. Conor Clapton wurde am 21. August 1986 von dem italienischen Model Lory Del Santo in London geboren. Als sich seine Mutter mit ihm in der Wohnung eines Freundes in New York aufhielt, stürzte Conor am 20. März 1991 aus einem Fenster im 53. Stock.

Federico Temperini

Als Jürgen Krauses Telefon klingelt, geht er davon aus, dass jemand ein Taxi bestellen möchte, aber der Anrufer sagt zunächst nur seinen Namen, Federico Temperini, mit rollenden Rs, und wiederholt ihn dann noch einmal. Federico Temperini sucht einen Chauffeur, keinen Taxifahrer, und bietet dafür ein großzügiges Pauschalhonorar pro Auftrag.

So kommt es, dass Jürgen einen über 80 Jahre alten hageren Mann in schwarzem Anzug und schwarzem Mantel abholt, aussteigt, die rechte hintere Tür aufhält und dann vor der Kölner Philharmonie wartet, bis Federico Temperini wieder herauskommt. Weitere Fahrten zur Philharmonie folgen. Das stets in einem Kuvert aus Büttenpapier steckende Honorar legt der Musikliebhaber auf den Beifahrersitz.

Jürgen fällt auf, dass der Mann, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint, seine augenscheinlich gelähmte linke Hand zu verstecken versucht. Aber er wagt nicht, ihn danach zu fragen.

Der Greis spricht selten mehr als einen kurzen Satz. Fragen beantwortet er entweder gar nicht oder einsilbig. Immerhin lässt er sich ein paar Bemerkungen über den „Teufelsgeiger“ Niccolò Paganini entlocken. Neugierig geworden, bestellt Jürgen im Internet eine Paganini-Biografie, aber als er das gegenüber Federico Temperini erwähnt („krasses Leben“), fragt dieser nach dem Autor und meint dann abschätzig, der habe Paganini auch nicht verstanden.

Es heißt, Paganini habe aufgrund des Marfan-Syndroms seine besonders langen Finger überdehnen können. Deshalb seien ihm außergewöhnliche Griffe auf der Geige möglich gewesen. (Wahrscheinlich ist diese Hypothese falsch. Spekuliert wird auch darüber, dass Paganinis Hand- und Fingergelenke aufgrund des Ehlers-Danlos-Syndrom besonders beweglich gewesen seien.)

Weil Niccolò Paganini auf dem Sterbebett im Mai 1840 nicht mehr sprechen und deshalb keine Beichte ablegen konnte, verweigerte ihm die katholische Kirche ein christliches Begräbnis. Das Vorurteil, der Geiger habe sich auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen, spielte dabei wohl auch eine Rolle. Achille Ciro Alessandro Paganini, der 1825 geborene Sohn von Niccolò Paganini und der Sängerin Antonia Bianchi, durfte den konservierten Leichnam seines Vaters erst 1876 in geweihter Erde bestatten.

Eines Nachmittags verlangt Federico Temperini, statt zur Philharmonie zum Melaten-Friedhof gefahren werden, und als Jürgen Krause im Wagen auf ihn warten möchte, herrscht er ihn an: „Sie begleiten mich.“

Einige Zeit später findet Jürgen im Kuvert außer den Geldscheinen eine Konzertkarte für die Kölner Philharmonie. Auf dem Programm stehen das Violinkonzert Nr. 1 von Niccolò Paganini und „La Campanella“ aus den „Six Grandes Etudes de Paganini“ von Franz Liszt. Statt also vor der Philharmonie auf Federico Temperini zu warten, begleitet Jürgen ihn dieses Mal hinein. Dass er wie viele andere Konzertbesucher Jeans und Rollkragenpullover trägt, bringt ihm, wie erwartet, missbilligende Blicke des Auftraggebers ein. Der dirigiert ihn in der Pause zur Garderobe und meint, den Rest könnten sie sich ersparen. Statt wie bisher im Fond, sitzt Federico Temperini von nun an neben dem Fahrer.

In den Kuverts mit den Honoraren findet Jürgen immer wieder Fotokopien mit Informationen über Niccolò Paganini. Eines Abends zieht er einen Zeitungsausschnitt vom 30. März 1972 – da war er noch ein Kleinkind – heraus und erkennt Federico Temperini auf einem Foto. Auf diese Weise erfährt er, dass Federico Temperini von italienischen Einwanderern in Deutschland geboren wurde und als Geiger in verschiedenen Orchestern spielte, bevor er Ende der Sechzigerjahre das „Ensemble Virtuos“ gründete, das sich darauf spezialisierte, Paganini in kleiner Besetzung zu spielen.

Ein anderes Mal steckt in dem Umschlag eine Geschäftskarte des „Limousinen-Service Starlight“, und Jürgen begreift, dass Federico Temperini bereits von seinem Vater gefahren wurde. Das muss vor Jahrzehnten gewesen sein.

Nachdem er mit seinem Taxi einen Fahrgast abgesetzt hat, fährt er spontan zu dem schäbigen Mietshaus in der Nähe, in dem Federico Temperini wohnt. Auf den Klingelschildern gibt es nur einen einzigen italienisch klingenden Namen – Ricci –, aber da öffnet niemand. Erst als Jürgen bei „Naumann“ klingelt, summt der Türöffner. „Die Post!“, ruft er und eilt die Treppe hinauf. „Federico Ricci“ steht an einer Tür, durch die klassische Musik zu hören ist.

Die Musik wurde leiser, ich hörte Schritte.
„Wer ist da?“ Die Stimme kannte ich.
„Ich bin es. Krause.“
Temperini öffnete seine Wohnungstür einen Spalt breit, die Kette ließ er eingehängt. „Was wollen Sie?“
[…] „Sie heißen gar nicht Temperini“, sagte ich.
„Doch. Damals.“ […]
„Ich dachte, ich schaue mal nach Ihnen.“ […]
„Ich habe Sie nicht bestellt.“ […]
„Mein Vater. Wo hat er Sie eigentlich abgeholt?“
„Hier nicht!“
Und damit schloss er die Tür.

Leo

Jürgen ist enttäuscht und verärgert, als er von Irene erfährt, dass Leo in den kommenden Sommerferien sechs Wochen lang mit Ulrich Kanada bereisen und deshalb nicht – wie gewohnt – mit Jürgen in Deutschland herumfahren kann. Als Ausgleich bietet Irene an, Leo in den Pfingstferien nach Köln zu schicken. Es trifft Jürgen hart, dass Ulrich ihm die Überraschung mit der Kanada-Reise unmöglich gemacht hat, und er befürchtet, seinen Sohn an dessen Stiefvater zu verlieren.

Leo reist mit dem Zug aus Augsburg an und wundert sich über die Schallplatte mit klassischer Musik, die er in der Wohnung seines Vaters liegen sieht. Die habe er bei Ebay ersteigert, erklärt Jürgen. Es sei die einzige noch erhältliche Platte von Federico Temperini, einem seiner Fahrgäste, mit dem „Ensemble Virtuos“.

Die beiden Männer fahren nach Rostock, Hamburg, Schwerin, an die Mecklenburger Seenplatte und nach Warnemünde.

Leo wirft seinem Vater vor, sich über die Kanada-Reise zu ärgern, statt sich mit seinem Sohn zu freuen. Und er erzählt, dass Irene zornig geworden sei, als Ulrich ihn mit den Reiseplänen überraschte und er als erstes fragte, was Jürgen wohl dazu sagen werde.

Gedenken

Jürgen und Federico Temperini kennen sich seit neun Monaten, als der ehemalige Violinvirtuose den Chauffeur einige Zeit im Voraus für eine Fahrt zum Decksteiner Weiher bestellt, wo sie bereits einmal zusammen waren. Aber zur vereinbarten Zeit kommt Federico Temperini nicht aus der Tür. Jürgen steigt aus. Wo der Name „Ricci“ stand, ist das Klingelschild leer. Wie bei seinem spontanen Besuch vor einigen Monaten öffnet ihm Frau Naumann. Von ihr erfährt Jürgen, dass sie sich gewundert habe, als keine laute klassische Musik aus der Nachbarwohnung mehr zu hören war. Man habe den alten Mann dann tot in der Diele liegend aufgefunden.

Der Vermieter hat bereits die Entrümpelung der Wohnung veranlasst, und weil es keine Angehörigen gibt, ließ das Ordnungsamt den Verstorbenen in einer billigen Plastikurne beisetzen.

Jürgen erzählt die traurige Geschichte über den einsam gestorbenen ehemaligen Geiger der Wirtin der Taverne, in der er sich regelmäßig mit seinen Freunden Klaus und Wolfgang trifft. Maria schlägt ihm vor, die Trauerfeier für Federico Temperini nachzuholen. Leo kommt eigens aus Augsburg, um mit seinem Vater, Maria, Klaus und Wolfgang daran teilzunehmen. Nachts klettern sie über die Friedhofsmauer und halten am Grab von Helga und Gustav Krause eine kleine Trauerfeier mit einer kurzen Ansprache und Musik von der Schallplatte mit Federico Temperini. Im Internet bestellt Jürgen dann einen Stein mit dem Künstlernamen des Violinvirtuosen und legt ihn aufs Grab. Wenn ihn jemand fragt, wer das gewesen sei, antwortet er, es habe sich um einen Freund der Familie gehandelt.

Leo überrascht er nach der Rückkehr aus Kanada mit dem Plan einer gemeinsamen Neuseelandreise nach dem Abitur.

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„Federico Temperini“ wird als Novelle angeboten. Man könnte auch von einem Kurzroman sprechen. Die fast ausschließlich in Köln spielende Geschichte dreht sich um Einsamkeit und Sehnsucht, Verlust, Vergänglichkeit und Loslassen.

Theres Essmann konzentriert sich auf die beiden Hauptfiguren, den ehemaligen Violinvirtuosen Federico Temperini, und den Taxifahrer Jürgen Krause. Der Greis, der seine erfolgreiche Karriere als Paganini-Interpret wegen einer Versteifung seiner linken Hand vor Jahrzehnten aufgeben musste, wohnt nun einsam und vergessen in einem schäbigen Mietshaus. Jürgen Krause, der weniger als halb so alt aber ebenso verletzlich ist, scheiterte wegen seiner Prüfungsangst an der Fachhochschule für Verwaltung, fährt seit 15 Jahren Taxi in Köln und befürchtet, seinen inzwischen 16-jährigen Sohn an Ulrich zu verlieren, Leos Stiefvater, einen Steuerprüfer, der mit Jürgens Ex-Frau Irene und dem Jungen in Augsburg lebt.

Jürgen Krause ist nicht nur Protagonist, sondern auch Ich-Erzähler. Theres Essmann hält seine subjektive Perspektive konsequent ein. So erfahren wir beim Lesen ebenso wie er in kleinen Portionen etwas über den wortkargen Greis Federico Temperini, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint und lieber über Niccolò Paganini als über sich selbst spricht.

Die Geschichte über die Annäherung des früheren Violinvirtuosen und des Taxifahrers, der zum ersten Mal von Niccolò Paganini hört, ist gewiss nicht realistisch, aber das spielt keine Rolle, denn sie verfügt über eine innere Logik wie beispielsweise ein Märchen. Theres Essmann schreibt sanft und leise, feinfühlig und warmherzig. Ihre stilsicher gestaltete Novelle „Federico Temperini“ weist auch tragikomische Züge auf – und endet hoffnungsvoll.

Theres Essmann wurde 1967 in Nordwalde nordwestlich von Münster geboren. In Tübingen studierte sie Germanstik und Philosophie. Seit langer Zeit arbeitet sie als Führungskraft in einem Institut in Köln. 2018 erhielt Theres Essmann ein Arbeitsstipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, und 2019 ließ sie sich als Poesie- und Bibliotherapeutin zertifizieren. Mit „Federico Temperini“ debütiert sie nun als Schriftstellerin – und legt damit sogleich ein Werk vor, das im doppelten Sinn des Wortes zur Schönen Literatur bzw. Belletristik gehört.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © klöpfer, narr

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