Mary Gaitskill : Das ist Lust

Das ist Lust
This is Pleasure The New Yorker, New York 2019 Das ist Lust Übersetzung: Daniel Schreiber Blumenbar, Aufbau Verlag, Berlin 2021 ISBN 978-3-351-05082-5, 113 Seiten ISBN 978-3-8412-2648-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dass der Name des erfolgreichen New Yorker Lektors Quin Saunders auf einer im Rahmen der #MeToo-Bewegung erstellten Liste von angeblich übergriffigen Männern im Internet steht, zerstört seine Karriere. Während Quin überzeugt ist, nichts Unrechtes getan zu haben, sind die Überlegungen seiner mit ihm befreundeten Kollegin Margot Berland sowohl in Bezug auf ihn als auch die Reaktion der Frauen ambivalent.
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Kritik

Mary Gaitskill setzt sich in ihrer Erzählung "Das ist Lust" mit einigen Aspekten der #MeToo-Bewegung auseinander. Von Kapitel zu Kapitel wechselt sie zwischen der Eigenwahrnehmung des angeklagten Mannes und der Perspektive einer langjährigen emanzipierten Freundin, die versucht, sowohl sein Verhalten als auch die Reaktion der Anklägerinnen zu verstehen.
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Die Kündigung

Der erfolgreiche Lektor Quinlan („Quin“) Maximilian Saunders wird fristlos vom Verlag in New York entlassen, weil ihn einige Frauen beschuldigen, sie sexuell bedrängt zu haben. Sein Name steht auf einer Liste im Internet, die von Frauen im Rahmen der #MeToo-Bewegung zusammengetragen wurde. Jedes Medienunternehmen, das einen der Männer weiterbeschäftigen oder einstellen würde, müsste mit einem Boykott der Frauen rechnen.

Quin stammt aus einer ebenso alten wie reichen englischen Familie und hat sich in der Literaturszene einen Namen gemacht, aber die Aktion zerstört seine Karriere. Darunter leiden auch seine fast 20 Jahre jüngere Ehefrau Carolina und die Tochter Lucia. Carolina ist vor allem um ihren sozialen Status besorgt. Sie arbeitet als Assistentin in der Redaktion eines Modemagazins und hat sowohl argentinische als auch koreanische Wurzeln.

Quins Sicht der Dinge

Eine der Anklägerinnen ist Caitlin Robinson. Sie war im Alter von 24 Jahren vom Verlag als Quins Sekretärin eingestellt worden und elf Jahre lang mit ihm befreundet gewesen, bis er ihr eine bessere Stellung bei einem anderen Unternehmen vermittelte.

Es ist alles so schrecklich und absurd. Absurd, dass ich bestimmte Dinge getan habe, ja. Absurd aber auch, dass Caitlin eine Stelle hat, die ich ihr verschafft habe, und dass sie mir von dieser Stelle aus Dinge vorwirft, bei denen sie selbst mitgemacht hat. Noch absurder ist, dass man sie dafür „mutig“ nennt.

Caitlin beschuldigt ihn öffentlich, ihr vor Jahren ein Video geschickt zu haben mit einer Szene, in der ein Mann einer Frau den Hintern versohlt. Quin erinnert sich daran, wie Caitlin ihm ungefragt erzählt hatte, dass sie Schläge auf den Po möge. Das Video, das er ihr daraufhin schickte, war kein Porno, sondern stammte aus einem Western mit John Wayne. Caitlins Darstellung wird durch die Aussage einer anderen Frau aufgewertet, die einmal eine halbe Stunde zu spät zu einer Verabredung in sein Büro kam. Als er sie spaßeshalber fragte, ob er sie dafür nicht bestrafen müsse, beugte sie sich vor und hielt ihm den Po hin. Nachdem er einmal darauf geschlagen hatte, gingen sie zusammen ins Restaurant und sprachen nicht mehr darüber. Aber jetzt, etliche Jahre später, ist daraus ein Anklagepunkt gegen ihn geworden.

Als Ersatz für Caitlin wurde Hortense als Sekretärin eingestellt. Mit ihr ging Quin ebenso wie zuvor mit Caitlin gern zum Shoppen. Als sie ihn bei so einer Gelegenheit mit in die Umkleidekabine nahm, um seine Meinung zu einem T-Shirt zu hören, umkreiste er mit den Zeigefingern ihre Nippel und spürte durch T-Shirt und BH, wie sie erigierten. Das dauerte nur wenige Sekunden. Dann kaufte er ihr das T-Shirt und sie machten weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Hortense hat sich auch nicht an der #MeToo-Kampagne gegen ihn beteiligt.

Quin ist überzeugt, nichts Falsches getan zu haben. Die Frauen hätten doch mitgemacht, meint er. Ja, er flirtete gern und oft, weil er sich dann lebendig fühlte, aber er war seiner Ehefrau niemals untreu. Umso unverständlicher ist ihm Carolinas verächtliche Äußerung, dass es besser gewesen wäre, wenn er sie mit einer anderen Frau betrogen hätte.

„Du bist nicht einmal ein Weiberheld“, sagte sie leise. „Nicht einmal das. Du bist ein Spinner. Ein anzüglicher, übergriffiger, doppelbödiger Spinner. Das ist das eigentlich Unerträgliche daran.“

Margots Reflexionen

Margot Berland, selbst eine erfolgreiche Lektorin, kündigt Quin die langjährige Freundschaft nicht auf. Sie versucht, sowohl sein Verhalten als auch die Reaktion der Frauen zu verstehen.

Als sie sich vor mehr als 20 Jahren, mit Mitte 30, bei ihm bewarb, irritierten sie seine persönlichen Fragen. Beispielsweise wollte er wissen, ob sie einen Freund habe. Aus der Anstellung wurde nichts, und Margot fing bei einem anderen Verlag in einer besseren Position an.

Zwei Jahre später sah sie Quin bei einer Buchmesse wieder. Margot war damals noch nicht mit Todd verheiratet und nahm Quins Einladung zu einem Restaurant-Essen an. Er erinnerte sie daran, dass er beim Vorstellungsgespräch ihre Stimme bemängelt hatte und meinte nun:

„Ihre Stimme hat viel mehr Kraft als damals! Sie haben so viel mehr Kraft! Sie sprechen direkt aus der Klitoris!“ Und – als wäre es die natürlichste Sache der Welt – fasste er mir zwischen die Beine. „NEIN!“, sagte ich und hielt ihm meine Handfläche direkt vors Gesicht, wie ein Verkehrspolizist. Ich wusste, dass ihm das Einhalt gebieten würde. […] Quin wirkte leicht erstaunt, lehnte sich zurück und sagte: „Ich mag die Stärke und Klarheit Ihres Neins.“ „Gut“, erwiderte ich.

Seit dieser Klarstellung sind Quin und Margot eng befreundet. Margot versteht nicht, warum andere Frauen sich nicht ebenso wie sie wehrten und Quin nun sexuelle Belästigung vorwerfen – womit sie nicht nur ihn, sondern auch seine Familie ins Unglück gestürzt haben.

Wenn ich zu Kolleginnen von mir sage, die Frauen hätten Quin einfach sagen müssen, dass er damit aufhören solle, dass ich ihm das gesagt und er tatsächlich damit aufgehört hätte, entgegnen sie immer, das Kräfteverhältnis zwischen ihm und den Frauen sei ungleich zu seinen Gunsten verteilt gewesen. Auch wenn sie sich theoretisch hätten wehren können, dürfe man es nicht von ihnen erwarten. Sie sollten nicht in die Lage gebracht werden, sich wehren zu müssen.

Als Margot durch Zufall der von Quin entdeckten Schriftstellerin Regina March begegnet, die zu den Anklägerinnen zählt, erklärt diese, sie habe die Online-Petition unterschrieben und erst im Nachhinein den Namen ihres früheren Förderers unter den anderen auf der Liste entdeckt. Sie bedaure das sehr.

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Mary Gaitskill setzt sich in ihrer Erzählung „Das ist Lust“ mit einigen Aspekten der #MeToo-Bewegung auseinander. Die Bezeichnung „Me too“ wurde von der afroamerikanischen Bürgerrechts-Aktivistin Tarana Burke 2006 im Kampf gegen sexualisierte Gewalt geprägt. In Reaktion auf den Skandal um den Filmproduzenten Harvey Weinstein rief die Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober 2017 dazu auf, Fälle von sexueller Gewalt oder Belästigung im Internet anzuprangern und führte dafür das Hashtag ein, das sich viral verbreitete. So entstand eine globale Bewegung.

In der Erzählung bzw. dem Kurzroman „Das ist Lust“ wechselt Mary Gaitskill von Kapitel zu Kapitel zwischen der Eigenwahrnehmung des angeklagten Mannes und der Perspektive einer langjährigen emanzipierten Freundin Mitte 50, die versucht, sowohl sein Verhalten als auch die Reaktion der Anklägerinnen zu verstehen.

Während der arrivierte New Yorker Lektor Quinlan („Quin“) M. Saunders weder Muster seines Verhaltens noch das Machtgefälle zwischen ihm und den betroffenen Frauen erkennt und deshalb bei seiner Überzeugung bleibt, nichts Unrechtes getan zu haben, sind die Überlegungen seiner ebenfalls erfolgreichen Kollegin Margot Berland sehr viel differenzierter.

Weil sie aus eigener Erfahrung weiß, dass Quin ein kategorisches Nein akzeptiert, kritisiert sie Frauen, die ihn nach Jahren anklagen und sein Leben zerstören, obwohl sie sich nicht gegen Übergriffe verwahrten und ihn sogar dazu animierten. Basiert die Rache der Frauen auf einer Welle der Lustfeindlichkeit? Margot durchschaut im Gegensatz zu Quin die Abhängigkeit der Frauen und seinen unreflektierten Machtmissbrauch. Sie sieht sowohl Quins Verhalten als auch die Reaktion der Frauen ambivalent und fragt sich deshalb selbstkritisch, ob ihre Einstellung sie nicht zur Komplizin eines Schuldigen werden lässt.

Mary Gaitskill wurde 1954 oder 1955 in Lexington/Kentucky geboren und wuchs in Detroit/Michigan auf. Ihr Studium an der University of Michigan schloss sie als Bachelor of Arts ab. 1988 debütierte sie mit „Bad Behavior“ als Schriftstellerin. Mary Gaitskill setzt sich mit den von Frauen übernommenen bzw. ihnen zugedachten Rollen auseinander. Nach eigenen Angaben jobbte sie früher als Model und Stripperin, Sekretärin, Blumenverkäuferin und Buchhändlerin.

2019 erschien ihre Erzählung „This is Pleasure“ im Magazin „The New Yorker“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Aufbau Verlag

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