Matt Haig : Die Mitternachtsbibliothek

Die Mitternachtsbibliothek
The Midnight Library Canongate Books, Edinburgh 2020 Die Mitternachtsbibliothek Übersetzung: Sabine Hübner Droemer Verlag, München 2021 ISBN 978-3-426-28256-4, 318 Seiten ISBN 978-3-426-46064-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 35-jährige Nora Seed glaubt, alles falsch gemacht zu haben, fühlt sich einsam und sieht keinen Sinn mehr im Leben. Deshalb will sie sterben und schluckt eine Überdosis Tabletten. Genau um Mitternacht findet sie sich in einer seltsamen Bibliothek wieder. Die Bücher enthalten alternative Lebensentwürfe. Nora probiert einige Dutzend davon aus ...
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Kritik

Der Roman "Die Mitternachtsbibliothek" von Matt Haig bewegt sich zwischen Wohlfühl- und Erbauungsliteratur. Die eingestreuten "Lebensweisheiten" könnten auch aus einem Ratgeber stammen. Ja, das Buch will ermutigen, das ist positiv, aber die Botschaft ist viel zu direkt.
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Lebensüberdruss

Nora Seed war 16 Jahre alt, als sie während eines Schachspiels mit der Schulbibliothekarin Louise Isabel Elm in der Hazeldene School in Bedford vom plötzlichen Herztod ihres Vaters erfuhr. Ihre Mutter starb drei Wochen vor Noras geplanter Hochzeit mit ihrem ein Jahr älteren Verlobten Dan, die sie dann zwei Tage vorher absagte.

Inzwischen ist Nora 35 Jahre alt und fühlt sich einsam. Ihre Freundin Isabel („Izzy“) Hirsh lebt seit einiger Zeit in Australien. Nora hat die Band verlassen, in der sie mit ihrem Bruder Joe und dessen Freund Ravi spielte. Der Chirurg Ash, dessen Einladung zum Kaffee sie vor längerer Zeit ausschlug, weil sie da noch mit Dan zusammen war, bringt Nora ihren toten Kater Voltaire, den er am Straßenrand fand. Der 84-jährige Nachbar Mr Banerjee lässt sich jetzt seine Medikamente von einem Jungen statt von ihr bringen. Im schlecht laufenden Musikgeschäft „String Theory“ wird sie von ihrem Chef Neil entlassen. Leo Thompson, ihren einzigen Klavierschüler, verliert sie, nachdem er mit seiner Mutter Doreen eine Stunde lang vergeblich auf sie gewartet hat.

Weil Nora glaubt, alles falsch gemacht zu haben und keinen Sinn mehr im Leben sieht, schluckt sie eine Überdosis Tabletten, um zu sterben.

Die Mitternachtsbibliothek

Nora findet sich in einer seltsamen Bibliothek wieder. Die Uhr steht auf 00.00 und bleibt so. Die Bibliothekarin Mrs Elm gibt Nora als erstes „Das Buch des Bereuens“. Es ist schwer, denn Nora bereut viel, nicht zuletzt auch, dass sie ihr Philosophie-Studium in Cambridge nicht mit einem Master abschloss und ihre erfolgversprechende Karriere als Schwimmerin nicht weiterverfolgte.

Mrs Elm erklärt Nora, dass sie sich in einer Bibliothek der Möglichkeiten befinden.

Nora nimmt ein Buch und befindet sich im nächsten Augenblick im Pub „The Three Horseshoes“ in Littleworth/Oxfordshire, dessen Wirt ihr 36-jähriger Ehemann Dan ist.

Beim nächsten Versuch lebt sie in Australien, aber Izzy ist tot. Die Freundin kam bei einem Autounfall ums Leben.

Nora hält ein Gastreferat in London. Aus eigener Erfahrung redet sie über Erfolg. Als Schwimmerin nahm sie zweimal an Olympischen Spielen teil und gewann eine Gold- und eine Silbermedaille. Vor sieben Jahren hörte sie mit dem Profisport auf. Ihr Vater lebt noch, ist von ihrer Mutter geschieden und mit Nadia Vanko verheiratet.

Während einer Forschungsreise nach Spitzbergen wird Nora mit einem hungrigen Eisbären konfrontiert. In Todesangst begreift sie, dass sie nicht sterben will. Auf dem Schiff spricht sie mit dem Forscher Hugo Lefèvre über Paralleluniversen und Schrödingers Katze, die in einem Gedankenexperiment der Quantentheorie sowohl tot als auch lebendig ist. Der Franzose vertraut Nora an, dass er sich in einer ähnlichen Lage wie sie befindet. Nur ist es bei ihm keine Bücherei, sondern eine Videothek, die von seinem eigentlich bereits toten Onkel Philippe geführt wird.

Im Rahmen einer Welttournee tritt Nora mit ihrer erfolgreichen Band in Brasilien auf. Sie spielt Keyboard und hat alle Songs geschrieben. Der berühmte Filmschauspieler Ryan Bailey ruft sie an und vergewissert sich, dass sie noch befreundet sind, obwohl sie die Affäre mit ihm beendete.

Nora arbeitet in dem Tierheim, in dem sie früher als Schülerin ein Praktikum machte. Ihr Freund Dylan, den sie noch aus der Hazeldene School in Bedford kennt, ist ebenfalls dort beschäftigt.

Mit ihrem fünf Jahre älteren aus Mexiko stammenden Ehemann Eduardo Martínez betreibt Nora erfolgreich den Buena Vista Vineyard in Kalifornien. Ihr Sohn Alejandro ist im Internat.

Nora begegnet noch einmal Hugo, der gerade vor der korsischen Küste beim Tauchen ist. Sie lehrt Englisch an einem College in Paris-Montpartnasse, sie arbeitet als Ökoarchitektin und bei einem anderen Versuch ist sie Rettungsschwimmerin am Strand von Sitges.

Sie war Rockstar, Olympiasiegerin, Musiklehrerin und Grundschullehrerin gewesen, Professorin, Firmenchefin, Presseagentin, Köchin, Gletscherforscherin, Klimatologin, Akrobatin, Baumpflanzerin, Bilanzprüferin, Friseurin, professionelle Hundeausführerin, Büroangestellte, Softwareentwicklerin, Rezeptionistin, Hotel-Reinigungskraft, Politikerin, Rechtsanwältin, Ladendiebin, Leiterin einer Stiftung zur Rettung der Ozeane, Verkäuferin […], Kellnerin, Betreuerin, Glasbläserin und tausend andere Dinge.

Nora ist mit dem Chirurgen Ash verheiratet und lebt mit ihm und der kleinen Tochter Molly in Cambridge. Sie lehrt Philosophie an der Universität, hat jedoch gerade ein Sabbatical genommen, um ein Buch über den amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau zu schreiben. Ihr Bruder Joe arbeitet als Toningenieur und lebt mit dem ebenfalls schwulen Radiologen Dr. Ewan Langford glücklich zusammen. Auf dem Etikett einer Flasche Syrah des Buena Vista Vineyard in Kalifornien stehen die Namen Alice und Eduardo Martínez.

Nora will Mrs Elm im Oak Leaf Residential Care Home in Bedford besuchen, erfährt dort jedoch, dass die alte Dame vor drei Wochen starb.

Zufällig beobachtet Nora, wie Doreens Sohn Leo Thompson nach einem schweren Ladendiebstahl verhaftet wird, und die Polizisten lachen sie aus, als sie meint, Leo sei ein guter Junge, denn sie haben nicht zum ersten Mal mit ihm zu tun.

Der Untergang der Mitternachtsbibliothek

Als Nora in die Mitternachtsbibliothek zurückkehrt, stürzt diese ein und die Bücher verbrennen. Ein einziges Buch bleibt unverkohlt. Es enthält nur leere Seiten. Nora schreibt „Ich lebe“ hinein.

Eine Minute und 27 Sekunden nach Mitternacht würgt Nora und übergibt sich in ihrem Bett. Im Schlafanzug schleppt sie sich hinaus, klingelt bei ihrem Nachbarn Mr Banerjee und bittet ihn, den Notruf zu wählen. Dann bricht sie vor seiner Tür zusammen.

Ihr Bruder Joe besucht sie im Krankenaus und vertraut ihr an, dass er im Fitness-Center einen Mann namens Ewan kennengelernt hat und auf eine Liebesbeziehung mit ihm hofft. Nora versichert ihm, dass er glücklich wird und verblüfft ihn, weil sie den vollen Namen des Radiologen kennt: Dr. Ewan Langford.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hängt Nora Zettel aus und sucht Klavierschüler. Darunter ist auch wieder Leo Thompson. Nora ist froh, ihn für Musik begeistern und vor einer kleinkriminellen Karriere bewahren zu können.

Sie spielt nun regelmäßig Schach mit Louise Elm im Oak Leaf Residential Care Home in Bedford.

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Matt Haig beginnt seinen Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ mit dem Satz:

Neunzehn Jahre bevor sie beschloss zu sterben, saß Nora Seed in der warmen kleinen Bibliothek der Hazeldene School in Bedford.

Das zweite Kapitel ist mit „Neunzehn Jahre später“ überschrieben, und nun zählt Matt Haig herunter:

Siebenundzwanzig Stunden bevor sie beschloss zu sterben, saß Nora Seed auf ihrem schäbigen Sofa […]

Neuneinhalb Stunden, neun, acht, sieben, fünf, drei, zwei Stunden …

Genau um Mitternacht findet sich Nora Seed in einem Zwischenreich wieder und probiert alternative Lebensentwürfe. Es scheint um das Leben und seine vielen Möglichkeiten zu gehen, um die Frage, was geschehen wäre, wenn Nora sich an der einen oder anderen Weggabelung anders entschieden hätte.

[…] das Leben besteht nicht nur aus dem, was wir tun, sondern auch aus dem, was wir nicht tun. Und in jedem Moment unseres Lebens wählen wir eine Abzweigung.

Am Ende wird deutlich, dass es vor allem darauf ankommt, sich selbst anzunehmen.

[…] wir vergeuden zu viel Zeit damit, dass wir uns ein anderes Leben wünschen oder dass wir uns mit anderen Leuten oder mit anderen Versionen unserer selbst vergleichen, wo es doch in fast jedem Leben gute und schlechte Zeiten gibt.

Du musst das Leben nicht begreifen. Du musst es nur leben.

Der Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig bewegt sich zwischen Wohlfühl- und Erbauungsliteratur. Die eingestreuten „Lebensweisheiten“ könnten auch aus einem Ratgeber stammen. Ja, das Buch will ermutigen, das ist positiv, aber die Botschaft ist viel zu direkt.

Den Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Annette Frier.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Droemer Verlag

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