Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens: Die Balkankriege der Neunzigerjahre

Nach einem Staatsstreich am 3. Oktober 1929 benannte König Alexander I. das am 1. Dezember 1918 gegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen in „Königreich Jugoslawien“ um. Im Frühjahr 1941 fiel die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung auf dem Balkan ein; Adolf Hitler und Benito Mussolini teilten das Gebiet unter sich auf. Mit Unterstützung Großbritanniens und vor allem der Sowjetunion koordinierte Josip Broz Tito (1892 – 1980) die Partisanenkämpfe gegen die deutschen und italienischen Besatzer; er übernahm 1943 die provisorische Regierung und eroberte bis Ende 1944 fast das gesamte Land zurück. Tito regierte Jugoslawien bis zu seinem Tod am 4. Mai 1980.

Danach verschärften sich die Nationalitätenkonflikte in dem Vielvölkerstaat, und besonders in der Autonomen Provinz Kosovo kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Serben und Albanern. Nach der Einschränkung der regionalen Selbstverwaltungen in den Provinzen durch eine Verfassungsänderung im Frühjahr 1989 verhängte die Regierung in Belgrad den Ausnahmezustand im Kosovo. Ausgerechnet in dieses Jahr fiel der 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld (kosovo polje), der vernichtenden Niederlage des serbischen Fürsten Lazar gegen das Heer des osmanischen Sultans Murad I. am 28. Juni 1389, ein Ereignis, das für die Serben auch noch im 20. Jahrhundert ein Trauma bedeutete.

1991 brach Jugoslawien vollends auseinander: Zuerst Slowenien und Kroatien, dann auch Makedonien proklamierten ihre Unabhängigkeit, und es kam nicht nur in verschiedenen Teilen des Landes zu Bürgerkriegen, sondern auch zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der serbisch dominierten Bundesarmee und den slowenischen bzw. kroatischen Streitkräften. Die Kampfhandlungen verlagerten sich Anfang 1992 in die zwischen allen Kriegsparteien umstrittene, von Serben, Kroaten und muslimischen Bosniaken bewohnte jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina. Die Europäische Gemeinschaft übte Druck auf die Kriegsparteien aus und bemühte sich wie die Vereinten Nationen und die NATO um eine Friedenslösung. Der im Januar 1993 vorgelegte Vance-Owen-Plan, der eine Aufteilung Bosnien-Herzegowinas in zehn Regionen vorsah – drei für jede der Volksgruppen plus Sarajevo als neutrale Zone –, scheiterte ebenso wie weitere Teilungspläne. Im April 1994 bildeten die Außenminister der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Russlands die so genannte „Internationale Kontaktgruppe“, um die diplomatischen Anstrengungen zur Beilegung des Krieges in Bosnien-Herzegowina zu koordinieren.

Überall, wo die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des früheren Jugoslawien zusammenlebten – besonders in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo –, kam es zu gewaltsamen ethnischen „Säuberungen“. Vor den Augen der UN-Beobachter nahmen die Serben im Juli 1995 die muslimische Enklave Srebrenica an der bosnisch-serbischen Grenze ein, vertrieben drei Viertel der mehr als 42 000 Muslime aus der Stadt und ermordeten vermutlich 8000 von ihnen – was der Internationale Gerichtshof in Den Haag im Februar 2007 als Genozid brandmarkte. Ein weiteres Beispiel: Als die kroatische Armee Anfang August 1995 innerhalb weniger Tage die Krajina eroberte, flohen schätzungsweise 150 000 Serben nach Bosnien.

Ende August / Anfang September 1995 griffen NATO-Flugzeuge erstmals massiv – mit über fünfhundert Einsätzen – in den Krieg ein und bombardierten serbische Kommando- und Kommunikationszentralen, Radaranlagen, Munitionslager und Luftabwehrstellungen. Dabei kamen am 1. September zum ersten Mal auch bundesdeutsche Kampfflugzeuge (Tornado) zum Einsatz. Durch den internationalen Druck und die intensiven Vermittlungsbemühungen des amerikanischen Diplomaten Richard C. Holbrooke gelang es, den serbischen Staatspräsidenten Slobodan Miloševic, seinen kroatischen Amtskollegen Franjo Tudjman und Alija Izetbegovic, den Staatspräsidenten von Bosnien-Herzegowina, in Dayton, Ohio, an den Verhandlungstisch zu bringen, wo sie am 21. November 1995 ein Friedensabkommen paraphierten, das am 14. Dezember in Paris unterzeichnet wurde.

Zur Durchsetzung des Dayton-Abkommens rückte die „Internationale Friedenstruppe für Bosnien“ (Ifor) am 20. Dezember in die Quartiere der UNO-Schutztruppe UNPROFOR ein.

Im Kosovo lieferten sich albanische Freischärler (UÇK) heftige Kämpfe mit serbischen Streit- und Polizeikräften. Die Serben vertrieben 1998 über 250 000 Albaner aus dem Kosovo. UN, NATO und EU wurden von Slobodan Miloševic mit Versprechungen hingehalten. Erst ein auf den 27. Oktober 1998 befristetes Ultimatum der NATO veranlasste ihn zum Einlenken, und er akzeptierte eine zweitausend Mann starke Beobachtergruppe der OSZE im Kosovo, die allerdings machtlos zusehen musste, wie es vor ihren Augen zu neuen Massakern kam.

Auf internationalen Druck hin begannen am 6. Februar 1999 im Schloss Rambouillet bei Paris Verhandlungen zwischen Serben und Albanern über den Kosovo. Ein von der Internationalen Kontaktgruppe vorgelegter Friedensplan, demzufolge der Kosovo zwar unter serbischer Hoheit verbleiben aber eine umfassende Autonomie erhalten sollte, wurde von Slobodan Miloševic abgelehnt. Nach dem Scheitern der Friedensgespräche in Rambouillet griffen einige NATO-Staaten – darunter auch die Bundesrepublik Deutschland – ab 24. März 1999 mit Bombardierungen in den Kosovo-Krieg ein. Slobodan Miloševic hatte die Entschlossenheit der NATO unterschätzt und wohl nicht damit gerechnet. Auf der anderen Seite irrten sich die Entscheidungsträger der NATO, wenn sie annahmen, Miloševic werde vor der Drohung oder spätestens nach den ersten Luftangriffen zurückweichen. Im Gegenteil: Das militärische Eingreifen der NATO und vor allem die so genannten „Kollateralschäden“ – also die irrtümliche Tötung von Zivilisten – bewirkten eine Solidarisierung der serbischen Bevölkerung mit ihrem Staatspräsidenten, und die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo ging auch während des Luftkriegs weiter.

Auf der Grundlage eines von den Außenministern der G-8-Staaten am 6. Mai 1999 in Bonn vereinbarten Friedensplanes verständigte man sich Anfang Juni 1999 darauf, zeitgleich die NATO-Luftangriffe einzustellen und die serbischen Truppen aus dem Kosovo zurückzuziehen, und am 8. Juni einigten sich die G-8-Staaten in Köln auf den Text einer entsprechenden Resolution über den Einsatz einer Friedenstruppe (Kosovo Force, abgekürzt: KFOR), die zwei Tage später vom UN-Sicherheitsrat gebilligt wurde. Bis auf weiteres wurde der Kosovo einer Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen unterstellt (UNMIK).

Bereits 1993 hatten die Vereinten Nationen das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegründet, um Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu verfolgen (Taten ab dem 1. Januar 1991). Das UN-Tribunal erließ am 27. Mai 1999 auch Haftbefehl gegen Staatspräsident Slobodan Miloševic. Nach dessen Sturz am 5. Oktober 2000 durch den Oppositionsführer Vojislav Kostunica lehnte die neue Regierung in Belgrad eine Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal in Den Haag zunächst ab, aber die serbische Polizei nahm ihn am 1. April 2001 in Belgrad fest, und Ministerpräsident Zoran Djindjic ließ Slobodan Miloševic am 28. Juli nach Den Haag überstellen. In dem Prozess wurden dem früheren serbischen Staatspräsidenten Kriegsverbrechen zur Last gelegt, aber zu einem Urteil kam es nicht, weil Slobodan Miloševic am 11. März 2006 in seiner Zelle starb.

© Dieter Wunderlich 2005 / 2010

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