Saša Stanišić : Herkunft

Herkunft
Herkunft Originalausgabe Luchterhand Literaturverlag, München 2019 ISBN: 978-3-630-87473-9, 356 Seiten ISBN: 978-3-641-16324-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Saša Stanišić wird am 7. März 1978 in Višegrad als Sohn eines Betriebswirts und einer Politikwissenschaftlerin geboren. Die Mutter stammt aus einer bosniakisch-muslimischen, der Vater aus einer serbisch-orthodoxen Familie. Saša fühlt sich als Jugoslawe, bis der multikulturelle Staat zerbricht. 1992 flüchten die Eltern mit ihm nach Heidelberg ...
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Kritik

"Herkunft" ist weder Autobiografie noch Roman, denn Saša Stanišić reichert Fakten wie beim mündlichen Erzählen durch Fiktion an. Er spielt gekonnt mit der deutschen Sprache und gestaltet den Miniaturen-Reigen mit einem guten Gefühl für Ironie und Tragikomik.
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Višegrad

Saša Stanišić wurde am 7. März 1978 in Višegrad geboren. Sein Großvater Petar („Pero“) Stanišić (1923 – 1986) stammte aus Oskoruša in den bosnischen Bergen, die acht Jahre jüngere Großmutter Kristina aus der weiter nördlich am Rzav gelegenen Gemeinde Staniševac. Sie gehörten zur serbisch-orthodoxen Bevölkerungsgruppe und lebten schließlich in Višegrad. Sašas Großeltern mütterlicherseits – Muhamed und Nena Mejrema – waren bosnische Muslime, aber niemand in den beiden Familien praktizierte eine Religion.

Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion.

Großvater Pero war Steuerbeamter, als er Kristina in Staniševac kennenlernte. Großvater Muhamed arbeitete als Bremser bei der Bahn, und als 1978 die Zugstrecke zwischen Sarajevo und Višegrad stillgelegt wurde, schickte man den 57-Jährigen in Frührente.

Roter Stern

Und ich hatte meine Mannschaft: Crvena Zvezda – Roter Stern Belgrad. Ende der Achtzigerjahre holten wir in fünf Jahren drei Mal den Meistertitel. Standen 1991 im Viertelfinale des Pokals der Landesmeister gegen Dynamo Dresden. Zu wichtigen Spielen kamen hunderttausend in unserem Marakana von Belgrad zusammen, davon mindestens fünfzigtausend Wahnsinnige. Immer brannte was, immer sangen alle.

Beim Turnier um den Pokal der Landesmeister (Vorläufer der Champions League) besiegt Roter Stern Belgrad nicht nur Dynamo Dresden, sondern auch den FC Bayern München. Beim Rückspiel am 24. April 1991 in Belgrad fiebern Saša Stanišić und sein Vater im Rajko Mitić Stadium mit ihrer Mannschaft. Sie erleben mit, wie Jugoslawen in Führung geht und die Bayern in der zweiten Halbzeit ausgleichen. Im Endspiel am 29. Mai 1991 in Bari gewinnt Roter Stern Belgrad den Europapokal.

Was für eine Mannschaft! So eine wird auf dem Balkan nie wieder möglich sein. Nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden in jedem neuen Staat neue Ligen mit schwächeren Teams, die besten Spieler wechseln heute jung ins Ausland.

Heidelberg

Nach der Proklamation der unabhängigen Republik Bosnien und Herzegowina im März 1992 eskalieren die Konflikte zwischen den Ethnien, und der Bosnienkrieg beginnt. Sašas 35 Jahre alte Mutter flüchtet mit ihm. Am 24. August 1992 treffen sie in Heidelberg ein, wo eine Schwester der Mutter mit ihrer Familie lebt. Der 38-jährige Vater kommt ein halbes Jahr später nach.

Der 20. September 1992 ist Saša Stanišićs erster Schultag an der Internationalen Gesamtschule Heidelberg. In seiner Klasse spricht kein einziger Schüler deutsch. Als ihn der Geografielehrer später nach der Hauptstadt seines Heimatlandes fragt, antwortet er: „Belgrad und Sarajevo und Berlin.“

Dass Neonazis am 24. August 1992 mit Molotowcocktails ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen in Brand setzten, erfährt Saša erst einige Zeit später im Unterricht.

Zuerst wohnen die Stanišićs bei den Verwandten. Dann beziehen sie eine Wohnung in dem ab 1970 als Wohnungsbauprojekt entstandenen Stadtteil Emmertsgrund.

Im Emmertsgrund reichten einander die Hand: Bosnier und Türken, Griechen und Italiener, Russlanddeutsche, Polendeutsche, Deutschlands Deutsche. Dann und wann tauchten plötzlich größere Mengen dürrer, schweigsamer Schwarzer auf mit diesen blutunterlaufenen Augen, und da wusste man sofort: In Afrika hat es mal wieder irgendwo geknallt. Wir waren Nachbarn, Schulfreunde, Kollegen. Die Supermarktschlange sprach sieben Sprachen.
Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut. […]
Die ARAL-Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war. Multikultureller Faustdialog fand jedenfalls kaum statt. Gelegentlich überfallen wurde sie aber schon. […]
Von uns Emmertsgrundern wollte da niemand jobben. Irgendwelche Hippies aus Kirchheim im vierzigsten Semester Kunstgeschichte übernahmen das, bemitleidenswerte Kreaturen, denen man prinzipiell eigentlich nicht wehtun wollte. Ihr Verschleiß war enorm. Aber einen Blick hatten sie von der ARAL – der war sensationell. An guten Tagen konnte man bis Frankreich sehen, an schlechten sah man in den Lauf einer Pistole.

Ich kannte Jugos, die Balkan-Klischees bedienten (leicht aggro, leicht assi, leicht zu provozieren). Sie verwechselten Streitlust mit Selbstbewusstsein, Beleidigung mit Redefreiheit.

Der Vater, ein Betriebswirt, schuftet sich auf Baustellen in Deutschland den Rücken kaputt. Die Mutter, die in Sarajewo Politikwissenschaften studiert hatte und am Gymnasium in Višegrad Marxismus unterrichtete, arbeitet in einer Wäscherei.

1998, ein halbes Jahr nach dem Abitur ihres Sohnes, müssen die Eltern Deutschland verlassen und emigrieren in die USA.

Studium

Saša Stanišić hat Glück und gerät an einen verständnisvollen Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Der fordert ihn auf, seine Immatrikulationsbescheinigung vorzulegen, und Saša darf erst einmal in Heidelberg Slawistik studieren. Nach dem Magister-Abschluss in Heidelberg (2004) studiert er noch am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Ich durfte in Deutschland weitersehen. Erst mal nur so lange ich studierte. Danach brauchte ich einen Job, der mit dem Studium zu tun hatte. Ich wollte Schriftsteller werden, musste also nachweisen, dass Literaturwissenschaft mit Schriftstellern zu tun hat. Als Nächstes, dass Schriftsteller überhaupt ein Beruf ist. Und schließlich, dass dieser Beruf einen erwachsenen Menschen ernähren kann.

Die zuständige Sachbearbeiterin lacht zwar über das in seinem ersten Verlagsvertrag vereinbarte Honorar, erteilt ihm jedoch eine an die Ausübung der Schriftsteller-Tätigkeit gebundene Aufenthaltserlaubnis.

Ich durfte nichts sonst arbeiten. Das passte gut. Ich wollte auch nichts anderes arbeiten.

Ich bin ein egoistisches Fragment. Ich habe mich mehr um mich selbst gekümmert als um Familie und ihren Zusammenhalt.

Besuche in Bosnien

Saša Stanišićs Großmutter Nena Mejrema stirbt 2006 in Zavidovići, während er dort zu Besuch ist. (Sein Großvater Muhamed folgt ihr im Dezember 2011 ins Grab.)

Als Saša Stanišić 2009 seine Großmutter Kristina in Višegrad besucht, fordert sie ihn gleich nach der Ankunft auf, mit ihr nach Oskoruša zu fahren. Auf dem Friedhof im Geburtsort seines Großvaters Pero wundert er sich darüber, dass auf den meisten Gräbern der Name Stanišić steht.

Als ihn jemand fragt, was Herkunft bedeute, meint er:

Komplexe Frage: Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.

Einige Jahre später erkrankt Kristina Stanišić an Demenz.

Als meine Großmutter Kristina Erinnerungen zu verlieren begann, begann ich, Erinnerungen zu sammeln.

Saša erlebt, wie die Großmutter sich anzieht, um nach Hause zu gehen, obwohl sie sich in ihrer Wohnung befindet.

Ich glaube, dass es wenig Schlimmeres gibt, als zu wissen, wo man hingehört, aber dort nicht sein zu können.

Im Juni 2018 klettert Kristina Stanišić auf den Ofen, um die Gardinen abzunehmen und zu waschen. Dabei stürzt sie und bricht sich einen Arm. Den im Krankenhaus angelegten Gips zerstört sie zu Hause mit einem Küchenmesser. Daraufhin bringt ein Verwandter sie in ein Altenheim in Rogatica, einer Kleinstadt 50 Kilometer westlich von Višegrad.

In den Kriegsjahren wurde am Stadtrand ein Bauernhof zum Konzentrationslager für die nicht-serbische Bevölkerung. Am 15. August 1992 brachte die Einheit von Dragoje Paunović Špiro siebenundzwanzig Insassen als menschliche Schutzschilde an die Front. Sie überlebten die Schlacht und wurden anschließend von Špiros Männern erschossen. Armin Baždar war fünfzehn Jahr alt und überlebte mit zwei Kugeln im Arm.

Saša Stanišić, der inzwischen in Hamburg wohnt und einen dreijährigen Sohn hat, besucht seine Großmutter am 12. Juli 2018 erstmals in Rogatica.

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In „Herkunft“ erzählt Saša Stanišić von seiner nach dem Zerfall des multikulturellen Staates Jugoslawien über Europa und Amerika verstreuten Familie. Das Buch dreht sich um Krieg und Migration, Herkunft und Heimat, Sozialisation und Identität, Deklassierung und Ausgrenzung.

„Herkunft“ ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. Ein Buch über Sprache, Schwarzarbeit, die Stafette der Jugend und viele Sommer. Den Sommer, als mein Großvater meiner Großmutter beim Tanzen derart auf den Fuß trat, dass ich beinahe nie geboren worden wäre. Den Sommer, als ich fast ertrank. Den Sommer, in dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ und der dem Sommer ähnlich war, als ich über viele Grenzen nach Deutschland floh. „Herkunft“ ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre. „Herkunft“ ist traurig, weil Herkunft für mich zu tun hat mit dem, das nicht mehr zu haben ist. In „Herkunft“ sprechen die Toten und die Schlangen, und meine Großtante Zagorka macht sich in die Sowjetunion auf, um Kosmonautin zu werden.

Was ist das für ein Buch? Wer erzählt? Es schreibt ein Neununddreißigjähriger in Višegrad, Zürich, Split. Es schreibt ein Vierzigjähriger auf einem Balkon in Hamburg.

„Herkunft“ ist weder Autobiografie noch Roman, denn Saša Stanišić reichert Tatsachen, Erinnerungen und Selbstbefragung wie beim mündlichen Erzählen durch Fabulieren an. Er reiht zahlreiche, oft nur zwei oder drei Seiten lange Anekdoten, Fragmente und Miniaturen übergangslos aneinander. Die Chronologie spielt dabei keine Rolle. Einiges wiederholt sich, anderes bleibt ausgespart oder wird gleich wieder fallen gelassen.
Saša Stanišić erzählt weder verbittert noch larmoyant, sondern mit einem guten Gefühl für Ironie und Tragikomik. Gekonnt spielt er mit der deutschen Sprache. (Dass es in Višegrad einen Biergarten gebe, muss er allerdings von einem Nicht-Münchner gelernt haben.)

Auf Seite 289 prangt der Titel „Der Drachenhort“ in Schriftart und -größe wie der Buchtitel „Herkunft“. Diese Zäsur markiert einen Stilbruch. Auf den letzten 60 Seiten soll die Leserin bzw. der Leser nämlich zwischen verschiedenen Varianten der Weiterführung wählen.

Lies das Folgende nicht der Reihe nach: Du entscheidest, wie die Geschichte weitergehen soll, du erschaffst dein eigenes Abenteuer.

In diesem Geäst der Möglichkeiten bietet Saša Stanišić zehn verschiedene Schlussszenen an.

Den Roman „Herkunft“ von Saša Stanišić gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor (ISBN 978-3-8445-3302-6).

Saša Stanišić erhielt für den Roman „Herkunft“ den Deutschen Buchpreis 2019.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.