Norbert Gstrein : Das Handwerk des Tötens
Inhaltsangabe
Kritik
Im Sommer 1999 geraten der österreichische Journalist Christian Allmayer, der seit acht Jahren von den Kriegsgräueln auf dem Balkan berichtet, und ein ihn begleitender Pressefotograf im Kosovo in einen Hinterhalt. Allmayer wird erschossen; der Fotograf kommt mit einem Oberschenkeldurchschuss davon.
Paul, ein Reisejournalist, der seit langer Zeit davon träumt, einen Roman zu schreiben, beschließt, den Tod des Kriegsberichterstatters zum Thema seines ersten Buches zu machen. Er stammt aus der selben Gegend wie Allmayer und war während des Studiums in Innsbruck ein Jahr lang mit ihm befreundet.
Seit einigen Monaten lebt Paul in Hamburg und arbeitet bei einer Zeitung, bei der auch der ebenfalls aus Österreich stammende Ich-Erzähler beschäftigt ist. Dass der aufdringliche neue Kollege über Allmayers Tod einen Roman schreiben, also Fiktion und Wirklichkeit vermischen möchte, findet der anspruchsvolle Journalist widerwärtig.
Offensichtlich ging er wieder einmal nicht von den Tatsachen aus, sondern davon, was er daraus machen würde, und er gefiel sich auch noch darin. (Seite 252)
Zwei, drei Tage vor Allmayers Tod lernte der Erzähler Helena kennen, die neue Freundin Pauls, der von seiner Ehefrau verlassen worden war. Sie stammt aus Dalmatien, aber ihre Eltern hatten dreißig Jahre lang in Deutschland gelebt, bevor sie in die Heimat zurückgekehrt waren. Aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisation sowie der Kriegsgräuel auf dem Balkan [Die Balkankriege der Neunzigerjahre] befindet sich Helena in einem Identitätskonflikt; schon als Kind hatte sie beim Partisanenspiel immer eine Deutsche sein wollen. – Beim ersten Treffen zu dritt ließ Paul seine bei einer Modefirma beschäftigte Freundin nicht zu Wort kommen und beantwortete an ihrer Stelle die an sie gerichteten Fragen.
An Allmayers Begräbnis nimmt nicht nur dessen Witwe Isabella teil, sondern auch Lilly, eine Wiener Schriftstellerin, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich als Sekretärin einer Autorenvereinigung bestreitet und vor zehn Jahren ein Verhältnis mit Allmayer hatte. Unter den Trauergästen trifft Paul außerdem auf seine Ex-Frau. Nach der Zeremonie am Grab drängt es ihn, sie zu fragen, ob sie ihn mit Allmayer betrogen habe, denn er erinnert sich beispielsweise, wie sie einmal mit dem Kriegsberichterstatter spontan zum Skifahren abgereist war und ihm einen Zettel hinterlassen hatte. Seine Ex-Frau fühlt sich durch die Frage provoziert und beendet das kurze Gespräch mit ihm.
Einige Zeit später trifft der Erzähler zufällig Helena auf der Straße und erfährt von ihr, dass sich Paul in einem österreichischen Krankenhaus von schweren Verletzungen erholt. Er war auf dem Weg nach Zagreb in Österreich vermutlich kurz im Auto eingenickt und verunglückt. Die Rehabilitation wird Monate dauern.
Sobald Paul wieder dazu in der Lage ist, nimmt er Kontakt mit Leuten auf, die Allmayer kannten, aber bis auf die belgische Krankenschwester, die bei dem Sterbenden gewesen war, weisen ihn alle ab. Um sich auf Allmayers Spuren umzusehen, reist Paul mit Helena nach Kroatien. Vor einer zweiten Balkanreise ein paar Monate später verabreden sich die beiden mit dem Erzähler, der allerdings nicht im Auto mitfährt, sondern von Hamburg nach Split fliegt, wo sie ihn vom Flughafen abholen.
Lilly veröffentlicht einen Roman über Allmayer, der jedoch als Quelle für Paul nicht zu gebrauchen ist, denn die Autorin betont die Fiktionalität der Handlung. Über die wirkliche Person Allmayer behauptet sie, er sei Kriegsberichterstatter geworden, „weil er sich ohne die Aufregung tot gefühlt“ hätte (Seite 328).
Drei Wochen nach dem Sturz des serbischen Präsidenten Slobodan Miloevic (5. Oktober 2000) begegnen Paul und der Erzähler zufällig Isabella, die sich einige Tage in Hamburg aufhält, bevor sie zu Lilly nach Wien weiterreist. Sie kommen auf das Interview zu sprechen, das Christian Allmayer im Dezember 1991 unweit von Vukovar mit Slavko, einem der kroatischen Kriegsherren, über „das Handwerk des Tötens“ geführt hatte. Isabella besitzt die entsprechende Tonkassette und verspricht, sie Paul zur Verfügung zu stellen.
Einen Monat später hören sich Paul, Helena und der Erzähler die Aufnahme gemeinsam an. Während in der gedruckten Fassung des Interviews von einem friedlichen Gefangenenaustausch die Rede war, ist auf der Kassette zu hören, wie Slavko den Journalisten drängt, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Gleich darauf knallt ein Schuss. Paul, Helena und ihr Freund vermuten, dass jemand – möglicherweise Allmayer – den Gefangenen erschoss, aber das lässt sich anhand des vorhandenen Materials weder beweisen noch widerlegen. Jedenfalls wird deutlich, dass es im Krieg keine unbeteiligten Beobachter gibt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Weil Paul annimmt, dass er im authentischen Umfeld am besten an seinem Roman arbeiten könne – obwohl aufgrund der Sprachschwierigkeiten keine Gespräche mit Einheimischen möglich sind –, reist er für einige Zeit allein nach Zagreb.
Als er den Erzähler in Hamburg anruft, ist dieser gerade mit Helena in seine Wohnung zurückgekehrt. Aufgeregt fabuliert Paul, wie er die Romanfigur Helena während einer Balkanreise ums Leben kommen lassen werde. Möglicherweise tritt sie auf eine Mine; und um die Dramatik zu steigern, ist sie bei ihrem Tod schwanger. Weil Paul gar nicht mehr aufhört, sich Helenas Ende auszumalen, vermutet der Erzähler, dass Paul über ihr neues Liebesverhältnis mit seinem Hamburger Kollegen Bescheid weiß.
Zweieinhalb Wochen nach diesem Telefongespräch nimmt sich Paul in seinem Hotelzimmer in Zagreb mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben [Suizid]. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief, und offenbar vernichtete er vor seinem Tod alles, was er über Christian Allmayer geschrieben hatte.
Der Erzähler, der glaubt, er sei es Paul schuldig, „etwas über Allmayer zu machen“, schreibt an dessen Stelle den Roman.
Zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963 – 1999), über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß, als dass ich davon erzählen könnte (Seite 7)
Den Journalisten Gabriel Grüner, dem Norbert Gstrein seinen Roman „Das Handwerk des Tötens“ widmete, gab es tatsächlich: Der „Stern“-Reporter stammte aus Südtirol, war eng mit einer Südtiroler Schriftstellerin befreundet und lebte in Hamburg mit einer Modejournalistin zusammen, die gerade ein Kind erwartete, als er und sein Fotograf Volker Krämer am 13. Juni 1999 im Kosovo, 40 Kilometer südlich von Pritina, erschossen wurden.
Die Widmung ist bereits Teil des Romans, denn es geht um Paul, einen Journalisten, der über den im Kosovo aus dem Hinterhalt ermordeten Journalisten Christian Allmayer ein Buch schreiben möchte, trotz seiner allerdings halbherzigen Recherchen kaum belastbare Fakten findet und ohnehin von Anfang an plant, Fiktion und Wirklichkeit in einem Roman zu vermischen.
Das Besondere an dem Roman „Das Handwerk des Tötens“ von Norbert Gstrein ist die dreifache Verschachtelung und mehrfache Spiegelung: Ein Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, schreibt über Paul, der wiederum einen Roman über Christian Allmayer plant.
Mit nachgerade altakademischer Umständlichkeit erzählt dieser umfängliche Roman vornehmlich davon, wie schwierig es sei, über den ermordeten Journalisten zu schreiben. Gleich zwei Erzähler und verschiedene Zeugen werden vor dem Toten postiert, der hinter einer Flut romaninterner Erörterungen beinahe verschwindet. Das Buch, das wir vor uns haben, ist – erfährt man am Ende – nur entstanden, weil das Buch, von dessen Entstehung der Roman breit und unablässig berichtet, gescheitert sei. Paul, der Freund des toten Journalisten, der einen Roman über den Toten verfassen wollte und dafür alle möglichen Recherchen angestellt hat, nimmt sich das Leben und zerstört die bereits geschriebenen Kapitel. Der eigentliche Erzähler, ein Freund von Paul, schreibt den Roman an seiner Stelle. Der Roman, den wir lesen, ist also ein Roman über einen toten Freund, der die Geschichte seines toten Freundes schreiben will und daran scheitert: Ein Buch steckt im Buch steckt im Buch. Das ist eine erprobte, altehrwürdige literarische Spiegelfigur, die uns immer wieder warnend und mahnend auf den Kunstwerkcharakter des Kunstwerks, ja auf die abgründige Fiktionalität alles Weltlichen aufmerksam macht. Hier fehlt der Reflexion des Werks auf sein vielfach gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit allerdings die Virtuosität, ohne die eine solche Kunstfigur Staub fängt.
(Iris Radisch, Die Zeit, 22. Dezember 2003)
Die Ich-Perspektive hält Norbert Gstrein konsequent durch und notiert nur, was die Erzähler-Figur wissen kann. Das artet dann allerdings aus, wenn der Erzähler wiedergibt, was die Person A von dem Zeugen B erfahren haben will.
Dann sprach er darüber, wie sie erzählt hatte, er sei eines Tages wachgeworden.
Bei der Erzähler-Figur handelt es sich um einen nüchternen Journalisten, der großen Wert auf gewissenhafte Recherchen legt und es nicht leiden kann, wenn Kollegen Behauptungen aufstellen, die sich nicht beweisen lassen (auch wenn er selbst am Ende in einem Roman Fiktion und Wirklichkeit vermischt und möglicherweise den Tod Pauls nur erfindet, so wie dieser die Romanfigur Helena hatte sterben lassen wollen). Dementsprechend führt er bei jeder Aussage nicht nur die Quellen an, sondern relativiert sie auch gleich wieder, indem er beispielsweise auf Widersprüche und fehlende Belege hinweist. Diese Attitüde geht allerdings zu Lasten der Dramatik des Romans, zumal auch noch Unmengen nebensächlicher Details akribisch geschildert werden.
Der Roman „Das Handwerk des Tötens“ ist u. a. als Medienkritik zu verstehen, als Anprangerung von Reportern, die sich in Splitterwesten filmen lassen, während der Kameramann nur ein T-Shirt trägt, weil die Gefahr nur den Zuschauern suggeriert werden soll. Auf die Auseinandersetzungen und die Kriegsgräuel auf dem Balkan geht Norbert Gstrein nicht näher ein.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag
Die Balkankriege der Neunzigerjahre
Kosovo
Norbert Gstrein: Die Winter im Süden