Tonio Schachinger : Nicht wie ihr

Nicht wie ihr
Nicht wie ihr Originalausgabe: Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2019 ISBN 978-3-218-01153-2, 304 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ivica ("Ivo") Trifunović wuchs in Wien als Sohn bosnischer Migranten auf. Er wurde Fußballer und avancierte zum österreichischen Nationalspieler. Inzwischen zahlt der FC Everton dem 26-Jährigen 100.000 Euro pro Woche, und dazu kommen noch Sponsorengelder. Obwohl er verheiratet und Vater zweier Kinder ist, lässt er sich auf eine Affäre mit seiner Jugendliebe ein ...
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Kritik

In seinem für den Deutschen Buchpreis 2019 nominierten Debütroman "Nicht wie ihr" porträtiert Tonio Schachinger einen Profifußballer und hält damit zugleich der Gesellschaft einen Spiegel vor. Was wir lesen, sind gewissermaßen innere Monologe des Protagonisten in der dritten Person Singular.
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Ivo

Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt. […] Er hätte gar nicht mit dem Bugatti kommen sollen, aber er ist froh, es gemacht zu haben, weil durch den Bugatti alles besser wird, die Fahrt her, die Fahrt zurück und sogar das Warten. Bugattis sind Autos für Leute, die nicht warten, und sie alle, die, die keinen Bugatti haben und die, die keine Zeit haben, in ihrem zu warten, verpassen etwas. Ivo würde gerne für immer so in seinem Bugatti sitzen.

Ivica („Ivo“) Trifunović wuchs in Wien als Sohn bosnischer Migranten auf. Er wurde Fußballer und stieg zum österreichischen Nationalspieler auf. Inzwischen zahlt der FC Everton dem 26-Jährigen 100.000 Euro pro Woche, und dazu kommen noch Sponsorengelder. Sein Vertrag läuft bis 2021.

Ivo dachte immer schon, dass er besonders ist: besonders talentiert, besonders cool und er hat auch von anderen nie etwas Gegenteiliges gehört.

Wie viele Millionen Kinder träumen davon, Fußballer zu werden und wie viele schaffen es? Und Ivo gehört ja nicht nur zu dem Prozent, das es schafft, sondern innerhalb dieses einen Prozents zum obersten Prozent.

Wenn er gut spielt, wird er anerkannt. Dann steht in der Zeitung:

Ivo, jetzt bist du ein richtiger Österreicher!

Ihm ist bewusst, was das in der Umkehr bedeutet: Im Fall eines Misserfolgs betrachtet man ihn wieder als Tschuschen.

Ivo sind Worte egal; er weiß, dass sie nichts bedeuten. Deshalb ist es ihm auch egal, ob jemand „Ausländer“, „Tschusch“ oder „Mensch mit Migrationshintergrund“ sagt, obwohl er natürlich jedem, der ihn Tschusch nennt, sofort in die Pappn hauen würde. Neue Worte gibt es nur, um alte Sachen mit ihnen zu sagen. […] Aber wenn jemand Tschusch meint, dann soll er auch Tschusch sagen, statt Tschusch zu meinen und Mensch mit Migrationshintergrund zu sagen.

Seine Frau Jessy ist Schweizerin. Die Familie, zu der auch die knapp fünf Jahre alte Tochter Jelena („Lena“) und der Säugling Adnan gehört, wohnt in London. Wenn Ivo zu Hause ist und nicht weiß, wie er auf Lenas Fragen antworten soll, helfen ihm die Medienschulungen der Fußballer durch einen „Kommunikationsdramaturgen“ auch nicht weiter.

Mirna

Während er in seinem Bugatti auf Jessy und Lena wartet, sieht Ivo nach mehr als zehn Jahren zufällig seine Jugendliebe Mirna wieder. Weil sie mit einem Mann und einem Kind zusammen ist, nimmt er an, dass sie ebenso wie er inzwischen eine Familie hat.

Schließlich ist Mirna eigentlich die Einzige, die wirklich studiert hat, in diesem Studenten-Sinn. Also nicht Wirtschaft, Sportmanagement oder Maschinenbau, sondern eben dieses Studieren, wo man dann gar nichts kann, außer über etwas zu reden, was niemanden wirklich interessiert. […]

Mirna ist wirklich scheißklug.

Von Mirnas Cousin Boki Ljubičić erhält Ivo ihre Mailadresse, und er nimmt Kontakt mit ihr auf. Sie kommt zu ihm ins  Hotelzimmer, duscht und sagt nach dem Geschlechtsverkehr:

„OK, also das ist erledigt.“

In den folgenden Wochen verabreden sie sich noch ein paar Mal. Ivo ist wieder schwer verliebt in Mirna, und sie gibt sich unkompliziert. Als sie zurück nach Wien gezogen ist, schlägt sie vor, dort mit ihm auszugehen, aber das kommt für Ivo nicht in Frage.

Nein, sie können nichts unternehmen, nicht in Wien, nicht in Österreich, wo jeder Mensch Ivo erkennt. Nicht in Zeiten wie diesen, wo jeder eine Kamera auf seinem Handy hat und einfach loszufilmen beginnt, wenn er eine Berühmtheit sieht und es Medien gibt, Journalisten, die nichts anderes machen, als über solche Videos zu berichten.

Mirna lädt ihn in ihre Wohnung ein. Dort braucht sich der Nationalspieler nicht vor Fans in Acht zu nehmen; er muss nur unbemerkt hinkommen. Aber aus Sorge vor einem Skandal, der sowohl seine Ehe als auch seine Karriere gefährdet hätte, beschließt Ivo, die Affäre an diesem Abend zu beenden. Damit will er zugleich das Risiko ausschalten, dass Mirna irgendwann mit ihm Schluss machen könnte.

Die Wohnung ist winzig. […]
Vor drei Wochen hätte es Ivo noch gefallen, wie Mirna die Wohnung eingerichtet hat, jetzt findet er sie schiach. […] alte Lampen, alte Kästen, alte Sessel. Es schaut nicht aus wie die Wohnung einer jungen Frau, sondern wie die von einer schwulen Oma. […]
„Was hast du für die Wohnung gezahlt?“, fragt Ivo, weil es das Erste ist, was er sich fragt.
„Die ist nur gemietet, ich könnte mir nicht leisten, so eine Wohnung in so einer Lage zu kaufen“, sagt Mirna mit einem Lachen.
Wahnsinn. Und dafür hat Mirna studiert?

Nachdem Mirna ihn mit einem Biobrathendl verköstigt hat, setzt sie Kaffee auf. Das hält er für den richtigen Zeitpunkt. Unumwunden erklärt er, dass er sich von ihr trennen werde. Selbstverständlich erwartet er eine heftige Reaktion von ihr, aber sie meint nur: „Ah. Schade.“ Um sicherzugehen, dass sie ihn richtig verstanden hat, wiederholt er: „Ich mache Schluss mit dir.“ Darauf erwidert Mirna:

„Naja, wir waren ja nicht zam, also ist Schluss machen vielleicht das falsche Wort.“

„Aber ich versteh, dass wir das nicht ewig machen können und ich bin vollkommen einverstanden damit, aufzuhören, solange nichts kaputtgegangen ist.“

Erst jetzt erfährt Ivo, dass Mirna gar nicht verheiratet ist, wie er annahm, sondern vor einem Jahr geschieden wurde. Das steigert seine Wut über die Gelassenheit, mit der sie seine Ankündigung aufnimmt. Mirna reagiert auch darauf noch ohne Hysterie:

„Was jetzt, du bist wütend, dass ich nicht wütend bin? Dass ich nicht traurig bin und dich anheule, nicht mit mir Schluss zu machen, obwohl wir eh nie zam waren? Das ist echt krank Ivo, das ist genau dieser Scheiß-Macho-Jugo-Dreck, den ich nicht mehr wollte. Das ist so abgefuckt. Glaubst du, wir leben noch in den 90ern? Das ist der Gipfel vom Scheißnarzissmus. Wir pudern zwei Mal und …“
„Ich hab dich gepudert Mirna, nicht wir einander, sondern ich dich! […] Ich hab dich gefickt!“

Daraufhin wirft sie ihn hinaus.

Jessy

Ivo bringt Geschenke mit nach Hause, verstreut im Schlafzimmer Rosenblütenblätter und zündet Kerzen an. Er schmelzt Schokolade, um damit Jessys perfekte Brüste und seinen Penis einzureiben. Aber der Sex ist offenbar nicht leidenschaftlich genug, denn sobald eine der Kerzen umfällt – und das passiert fünfmal – flutscht Ivo aus Jessy heraus, um Schlimmeres zu verhindern. Dann klopft auch noch Lena an die Tür.

Am Ende ist es für alle das Einfachste, wenn Jessy ihm einen bläst, und daran, wie sie es macht, merkt er, dass sie nur noch fertig werden will. Sie denkt sicher schon daran, wie sie danach das Laken wechseln und für die nächste Woche den Teppchreiniger bestellen wird […].

Bald darauf macht eine Niederlage gegen Southampton Ivo so zornig, dass er nicht auf Jessy und Lena wartet, von denen er weiß, dass sie im Publikum saßen. Nach der Ankunft im Hotel erfährt er aus den Breaking News im Fernsehen, dass unmittelbar nach dem Fußballspiel der Hubschrauber des Vereinspräsidenten Vincent Khan neben dem St. Mary’s Stadion in Southampton abstürzte. Entsetzt stellt er sich vor, dass der Präsident Jessy und Lena mitgenommen habe und sie nun tot seien. Er rast mit dem Auto nach London. Zum Glück lehnte Jessy die Einladung des Präsidenten zum Mitfliegen ab. Sie und Lena sind zu Hause, allerdings verstört durch den tödlichen Unfall, dem sie um Haaresbreite entgangen sind.

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In seinem Debütroman „Nicht wie ihr“ porträtiert Tonio Schachinger einen Profifußballer und hält damit zugleich der Gesellschaft einen Spiegel vor.

Ivo ist im Sport erfolgreich und funktioniert auf dem Spielfeld. Aber in diesem Umfeld wird er auch auf die daraus resultierenden geschäftlichen Erwartungen reduziert. Das ist Kapitalismus pur. Solange Ivo unter Vertrag steht, verdient er 100.000 Euro pro Woche, und dazu kommen noch Sponsorengelder. Immerhin hat Ivo sich einen kritischen Blick auf einige Aspekte dieses Metiers bewahrt, beispielsweise den „Kommunikationsdramaturgen“, der den Fußballern beibringt, wie sie sich gegenüber Medienvertretern zu verhalten haben. Weil Ivo durch seine Eltern einen Migrationshintergrund hat, erlebt er die alltägliche, teilweise kaschierte Fremdenfeindlichkeit in Österreich. Obwohl Fußball im Team gespielt wird, hat das alles aus Ivo einen Egomanen gemacht, dem außerhalb seines Metiers jedes Maß fehlt: Da verhält er sich unreif, sexistisch und tölpelhaft.

Tonio Schachinger hat „Nicht wie ihr“ aus der Perspektive dieses Fußballers geschrieben, allerdings nicht in der Ich-Form. Was wir lesen, sind gewissermaßen innere Monologe in der dritten Person Singular. Wiener Dialektausdrücke sollen wohl verdeutlichen, dass wir nicht den Buchautor, sondern den Protagonisten hören. Dieser Ansatz bedeutet aber auch, dass wir einem außerhalb seines Metiers unreifen, sexistischen und tölpelhaften, insgesamt flachen und wenig sympathischen Mann mit all seinen Klischees und Vorurteilen ausgesetzt sind.

Leserinnen und Leser, die sich in der Welt des Fußballs auskennen, werden viele Bezüge zur Realität erkennen, beispielsweise Parallelen zwischen der Romanfigur Ivica („Ivo“) Trifunović und dem 1989 in Wien geborenen Fußballer Marko Arnautović, der auch noch einen Cameo-Auftritt in „Nicht wie ihr“ hat. Das Zitat „Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher“ ist übrigens nicht erfunden. Es stand in der Kronen Zeitung, nachdem Ivica Vastić – der seit 1996 einen österreichischen Pass besaß − bei der WM in Frankreich am 17. Juni 1998 in der 90. Minute das Tor zum Ausgleich gegen Chile geschossen hatte. Auf Seite 172 bezieht sich Tonio Schachinger auf ein Zitat von Alexander Gauland über Jérôme Boateng vom Mai 2016: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“

[…] sich daraufhin jede blöde Kartoffel zwischen München und Hamburg geil dafür gefühlt hat, dass sie sehr wohl neben ihm leben wollen würde. Ja, weil er reich st, oida! Weil er im schönsten Villenviertel von München lebt! Wenn sie beweisen wollen, dass sie keine Rassisten sind, dann sollen sie in ein Ausländerviertel ziehen […] in einen Plattenbau, dessen Wände so dünn sind, dass man alles aus den vier angrenzenden Wohnungen mithört, wo sich immer jemand anschreit. Dann sollen sie warten, bis jemand, nur um ihr Autoradio zu stehlen, alle Scheiben einhaut und danach aus purer Bösartigkeit noch in das Auto pisst; bis sie in der Nacht von lauter Musik aufwachen und sich nicht trauen rüberzugehen; bis sie mitbekommen, wie eine Gruppe von jungen Männern am helllichten Tag jemanden zamhaut, weil er sie schief angeschaut hat. Wenn sie zeigen wollen, wie cool sie sind, sollen sie dort leben, wo Jérôme Boateng und Ivo aufgewachsen sind, nicht dort, wo sie jetzt leben. Dann sollen sie neben die Jérômes und Ivos ziehen, die es nicht geschafft haben […].

Antonio („Tonio“) Schachinger wurde am 29. Januar 1992 in Neu-Delhi als Sohn einer aus Lateinamerika stammenden Malerin und eines österreichischen Diplomaten geboren. Er wuchs in Wien und Nicaragua auf. Noch während des Studiums an der Universität Wien (Germanistik) und an der Universität für angewandte Kunst (Sprachkunst) in Wien schrieb er seinen 2019 im Verlag Kremayr & Scheriau veröffentlichten Debütroman „Nicht wie ihr“, mit dem er es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Kremayr & Scheriau

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