Leonie Swann : Mord in Sunset Hall

Mord in Sunset Hall
Mord in Sunset Hall Originalausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München 2020 ISBN 978-3-442-31556-7, 448 Seiten ISBN 978-3-641-25290-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die frühere Kommissarin Agnes Sharp hat in ihrem Elternhaus "Sunset Hall" eine Senioren-WG gegründet. Als in ihrem Umfeld kurz nacheinander die Leichen von vier Frauen gefunden werden, befürchten die Alten einen Anschlag auf ihre Gemeinschaft und nehmen sich vor, die Mordserie aufzuklären ...
mehr erfahren

Kritik

Leonie Swann geht es in der skurrilen Krimikomödie "Mord in Sunset Hall" nicht um Action und nervenzerfetzende Spannung, sondern um ein gemütliches Lesevergnügen (Cosy Crime). Mit Witz und Humor, Komik und Einfallsreichtum entwickelt sie die amüsante Geschichte.
mehr erfahren

Mord in Sunset Hall

In ihrem Berufsleben war Agnes Sharp bei der Mordkommission einer englischen Stadt. Inzwischen ist sie 78 oder 87 Jahre alt, so genau weiß sie das nicht und will es auch gar nicht wissen. Als sie vor ein paar Jahren mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag, freundete sie sich mit ihrer Mitpatientin Lillith Wright an. Die zog dann von ihrer nervigen Tochter Pippa zu Agnes in das große Landhaus in der Nähe des Dorfes Ducks End, in dem die neue Freundin aufgewachsen war. Schon im Krankenhaus beschlossen die beiden, in Agnes‘ Elternhaus eine Senioren-WG einzurichten und das Anwesen in Sunset Hall umzubenennen.

Dieser Gemeinschaft gehören jetzt außer Agnes drei weitere Frauen und zwei Männer an: Edwina mit ihrer Schildkröte Hettie, Charlie mit ihrem Wolfshund Brexit, die blinde Bernadette, der auf einen Rollstuhl angewiesene Winston und ein weiterer Mann, den alle nur den Marschall nennen. Lillith liegt tot im Holzschuppen.

Jemand hat ihr mit einem sauberen Kopfschuss das Leben genommen. Die WG überlegt noch, ob die Polizei gerufen werden soll. Zuerst suchen die Senioren nach der Tatwaffe, einer dem Marschall gehörenden Armeepistole aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Greis kann sich nicht mehr daran erinnern, wo er sie gelassen hat.

„Und was das Problem im Schuppen betrifft …“
„Sie ist kein Problem!“, unterbrach Bernadette. „Sie ist Lillith!“
„Nicht mehr“, sagte Agnes sanft. „Genau das ist das Problem.“

Zweiter Mordfall

Die alten Leute suchen noch nach der Pistole, als zwei Polizisten klingeln. Sergeant Tom Wink und die Inspektorin Locke fragen, ob man in Sunset Hall etwas Verdächtiges gehört oder gesehen habe. Im Nachbarhaus sei Mildred Puck ermordet worden.

Mildred war seit einem Schlaganfall vor einiger Zeit gelähmt und ein Pflegefall. Als Kinder waren Agnes und die eineiigen Zwillinge Mildred und Isobel Puck eng befreundet. Ein Autounfall der Eltern hatte Mildred und Isobel zu Waisen gemacht. Ihr reicher, allein in dem riesigen Haus hier wohnender Onkel Norman nahm sie auf. Als er später vergiftet wurde, verdächtigten alle die Zwillinge, aber die Polizei konnte ihnen nichts nachweisen, und der Mordfall blieb unaufgeklärt. Allerdings wandten sich alle, auch Agnes, von den Zwillingen ab.

Die Senioren-WG nutzt die Gelegenheit und täuscht vor, im Holzschuppen gerade erst eine weitere Tote entdeckt zu haben. Ein zweites Opfer desselben Verbrechers? Die Polizei findet prompt heraus, dass Lillith Wright und Mildred Puck mit derselben Waffe erschossen wurden.

Agnes wollte die Polizei zwar an einen Doppelmord glauben lassen, aber dass es nur eine einzige Tatwaffe gibt, verwirrt die Seniorin, denn sie weiß, wer Lillith tötete und kann sich nicht vorstellen, dass der gutmütige Marschall auch Mildred erschoss.

Alle WG-Angehörigen haben in einem schwarzen Buch eingetragen, unter welchen Umständen sie nicht mehr weiterleben wollen. Als Lillith ihre hoffnungslose Diagnose bekam, wurde ausgelost, wer sie töten sollte. Es war der Marschall. Lillith starb auf eigenen Wunsch, aber niemand in der WG hätte einen Grund gehabt, die gelähmte Nachbarin zu ermorden.

Dritter Mordfall

Nach ein paar Tagen liegt die vermisste Armeepistole plötzlich auf einem Tisch in Sunset Hall. Weil alle WG-Angehörigen gemeinsam im Garten arbeiteten, muss jemand anderes die Waffe unbemerkt ins Haus gebracht haben.

Und es fehlen drei Patronen, obwohl Lillith und Mildred mit jeweils einem Schuss getötet wurden. Agnes wunderte sich bei einem kürzlichen Besuch im Gemeindezentrum von Ducks End über die Abwesenheit von Olive Spurman, einer Dorfbewohnerin Mitte 60. Wurde sie mit dem dritten Schuss ermordet?

Agnes überredet einen jungen Elektriker namens Sparrow, der den Treppenlift in Sunset Hall reparierte und kurz darauf von den Senioren bei einem Einbruch ertappt wurde, in Olive Spurmans Reihenhaus nachzusehen. Wie vermutet, stößt er dort auf eine Leiche. Jemand hat der Frau mitten ins Gesicht geschossen.

Agnes ruft beim Dorfpfarrer an, gibt sich mit verstellter Stimme als „Mary“ aus und sorgt unter einem Vorwand dafür, dass der Geistliche nach Olive schaut, also die Leiche findet.

Lindenhof

Um Olives Nachbarin Theresa Taylor zu befragen, ruft Agnes dort an, erfährt jedoch von Theresas Schwiegertochter, dass die Gesuchte seit ein paar Tagen im Pflegeheim „Lindenhof“ lebt.

Agnes schmuggelt sich in das streng bewachte Pflegeheim ein und dringt zu Theresa ins Zimmer vor. Theresa weiß noch gar nicht, dass ihre Nachbarin tot ist. Jemand habe sie im Garten von hinten niedergeschlagen, sagt sie, und dann sei sie in den Lindenhof gebracht worden. Daraufhin vermutet Agnes, dass Theresa den Weg des Mörders oder der Mörderin kreuzte und als mögliche Zeugin ausgeschaltet wurde.

Mit knapper Not entkommt Agnes, die vom Pflegepersonal für Frau Scott gehalten und von der echten Heimbewohnerin dieses Namens gewürgt wurde, aus dem Lindenhof.

Hackauflauf

Agnes hatte ebenfalls eine Zwillingsschwester. Sie erinnert sich, wie sie mit Alice in der Krone eines Apfelbaums saß und die Schwester dazu brachte, auf den verhassten Lehrer Titus Coldwell einen Vorschlaghammer fallen zu lassen. Der Mordfall blieb unaufgeklärt.

Später trennten sich die Wege der Zwillinge. Kann es sein, dass Alice zurückgekommen ist und sich für mangelnde Zuwendung an Agnes rächen will, indem sie dafür sorgt, dass die Schwester zu lebenslanger Haft verurteilt wird? Beim kürzlichen Besuch im Gemeindezentrum fiel Agnes eine Küchenhilfe namens Rosie auf, die eine dunkle Brille und eine rote Perücke trug. Das könnte die verkleidete Alice gewesen sein!

Nach der Rückkehr aus dem Lindenhof liegt Agnes erschöpft in ihrem Zimmer. Nathan, der kleine Enkel des Marschalls, den seine Mutter Sabrina für ein paar Wochen nach Sunset Hall gebracht hat, weil sie sich gerade scheiden lässt, überrascht Agnes mit einem Tablett und einem Teller, auf dem eine appetitliche Portion Hackauflauf dampft. Als Agnes hört, dass der Hackauflauf von einer Besucherin mit roten Haaren stammt, schleudert sie den Teller zu Boden und versucht so schnell wie möglich, zu den anderen nach unten zu kommen, wo sie den Hackauflauf vom Tisch wischt und ihrer vermeintlichen Zwillingsschwester die Perücke vom Kopf reißt.

Aber es handelt sich nicht um Alice. Die Frau heißt wirklich Rosie. Die Perücke trägt sie wegen einer Chemotherapie. Bernadette hatte sie eingeladen, und sie brachte Hackauflauf für alle mit.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Nachdem Nathan verschwunden ist, fahren alle bis auf Agnes und Edwina zur Polizei, um ihn vermisst zu melden.

Ein Sterbefoto von Alice erinnert Agnes daran, dass ihre Zwillingsschwester im Alter von vier Jahren starb. Die mit ihr aufwachsende sehr viel mutigere Schwester gab es nur in Agnes‘ Fantasie.

Plötzlich begreift sie die Zusammenhänge. Sie geht zum Nachbarhaus und stößt dort auf eine der Zwillingsschwestern Puck. Es ist Mildred, die sich seit der Ermordung ihrer Schwester als Isobel ausgibt. Die Mörderin nimmt die frühere Freundin mit ins Haus und gesteht, dass sie sich unbemerkt von ihrem Schlaganfall erholt, aber weiter die Gelähmte gespielt habe und nur heimlich aufgestanden sei.

Als sie den Schuss in Sunset Hall hörte und sah, wie der Marschall die Pistole fallen ließ, hob sie die Waffe auf und nahm sie an sich. Sie begriff sofort, dass es sich um eine Tötung auf Verlangen handelte und war tief beeindruckt von der Gemeinschaft in Sunset Hall. In ihrer Aufgewühltheit dachte sie nicht mehr daran, Isobel weiter die Lähmung vorzuspielen. Als sie jedoch das entsetzte Gesicht der Schwester sah, drückte sie ab.

Olive musste sterben, weil sie Mildred gehend gesehen und zu erpressen versucht hatte. Theresa hätte Mildred nach Olives Ermordung beinahe erwischt, aber die Verbrecherin schlug sie nieder und ließ sie auf ihre Kosten in den Lindenhof bringen. Bei einem Besuch dort wollte sie der möglichen Zeugin nur drohen, aber dann nutzte sie die Gelegenheit und erwürgte Theresa.

Agnes ist bald zu verwirrt, um den Ausführungen weiter folgen zu können. Als Mildred merkt, dass Agnes nicht mehr zuhört, wirft sie den Tisch um und stürzt sich mit einem Scherben der Teekanne auf sie. Agnes rammt ihr eine Gabel in den Körper, und es gelingt ihr, sich in der Garderobe einzuschließen. Als sie nach einiger Zeit Rauch riecht, wagt sie sich wieder hinaus. Mildred hat die Bibliothek in Brand gesetzt und ist weg. Zum Glück erinnert sich Agnes an die Räumlichkeiten, in denen sie als Kind mit den Puck-Zwillingen gespielt hatte und kann Nathan deshalb aus einem fensterlosen Zimmer befreien.

Charlie, Bernadette, Winston und der Marschall kommen mit einem Taxi zurück und sehen das brennende Haus gegenüber Sunset Hall. Sie sind frustriert, weil die Polizei nach der kurzen Zeit noch keine Vermisstenanzeige aufnehmen wollte. Eine von Brexit gejagte Frau läuft vors Auto. Schwer verletzt wird sie ins Krankenhaus gebracht. Ob Mildred überlebt, bleibt offen.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Bei „Mord in Sunset Hall“ handelt es sich um eine skurrile Krimikomödie des Genres Cosy Crime. Leonie Swann geht es nicht um Action und nervenzerfetzende Spannung, sondern um ein gemütliches Lesevergnügen. Statt auf Thrill und Suspense setzt sie auf Humor, Witz und Komik. Mit großem Einfallsreichtum entwickelt sie eine amüsante Geschichte, in der nicht die gewohnten Kommissarinnen und Kommissare eine Mordserie aufklären, sondern die Mitglieder einer Senioren-WG, also Greisinnen und Greise, denen niemand so viel Energie zutrauen würde. Die Romanfiguren weisen zwar körperliche Gebrechen und geistige Beeinträchtigungen auf, aber Leonie Swann macht sie nicht lächerlich, sondern schildert die Schwächen gut beobachtet und einfühlsam.

Der Marschall suchte. Er hatte vergessen, was es war, das er suchte, aber das hielt ihn nicht davon ab, systematisch Bücher aus dem Regal zu ziehen, zu öffnen, wieder zu schließen. Suchte er ein Wort? Ein Bild? Etwas, das aus einem Buch herausfallen würde, oder etwas, das sich hinter einem Buch versteckte? Er wusste es nicht, aber er wusste, dass es wichtig war. Von entscheidender Bedeutung.

In „Mord in Sunset Hall“ zeigt Leonie Swann auch Vorzüge einer solidarischen Senioren-WG gegenüber einem geschäftsmäßig geführten Alten- bzw. Pflegeheim auf.

Einiges in „Mord in Sunset Hall“ mag nicht ganz nachvollziehbar sein, aber das ist unwichtig, weil das Ganze ohnehin nicht ernst gemeint ist.

In ihrem erfolgreichen Debütroman „Glennkill“ (2005) und der Fortsetzung „Garou“ (2010) personifizierte Leonie Swann Schafe, und in „Gray“ (2017) beteiligt sich ein Graupapagei an der Aufklärung eines Mordfalls. In „Mord in Sunset Hall“ gibt es zwar noch eine Schildkröte mit Namen Hettie und einen Brexit gerufenen Wolfshund, aber die beiden Tiere spielen nur eine untergeordnete Rolle. Allenfalls die eine oder andere Textpassage erinnert noch an die Tierkrimis:

Draußen zog der Herbst ein wie ein stürmischer und nicht besonders höflicher Gast. Blätter verabschiedeten sich von ihren Bäumen und wurden von Brexit in wilder Jagd durch den Garten gehetzt. Vögel plusterten das Gefieder, Eichhörnchen planten Verstecke, fette Hummeln ernteten in ihren kleinen Pelzmänteln den letzten Nektar des vergehenden Sommers. Jeden Tag sammelte sich ein raschelndes, knisterndes Grab bunter Blätter vor der Haustür und wollte weggefegt werden.

Für die Kapitelüberschriften hat Leonie Swann übrigens Bezeichnungen von Essbarem gewählt, von „Edwinas Kekse“ bis „Gemüse“.

Den Kriminalroman „Mord in Sunset Hall“ von Leonie Swann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Anna Thalbach.

Leonie Swann wurde 1975 in Dachau geboren. Bei ihrem Autorennamen handelt es sich um ein Pseudonym. Nach dem Studium der Philosophie, Psychologie und englischen Literaturwissenschaft in München und Berlin verbrachte Leonie Swann einige Zeit in Paris. 2005 debütierte sie als Schriftstellerin und erzielte auf Anhieb einen enormen Erfolg. Beide „Schafsromane“ – „Glennkill“ und „Garou“ – standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in 25 Sprachen übersetzt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Leonie Swann / Wilhelm Goldmann Verlag

Javier Marías - Die sterblich Verliebten
Javier Marías lässt die Ich-Erzählerin María Dolz in seinem elegant komponierten Roman "Die sterblich Verliebten" seitenlang über "was wäre, wenn" nachdenken und auch ihren Liebhaber Javier Díaz-Varela ausufernde Monologe halten.
Die sterblich Verliebten