J. C. Vogt : Anarchie Déco

Anarchie Déco
Anarchie Déco Originalausgabe Fischer TOR, Frankfurt/M 2021 ISBN 978-3-596-00221-4, 479 Seiten ISBN 978-3-10-491514-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Von der fünften Solvay-Konferenz 1927 in Leiden an haben Judith und Christian Vogt die Geschichte umgeschrieben, und in dieser alternativen Welt erforscht eine junge Physikerin in Berlin magische Phänomene, die durch Elektronen- und Röntgenstrahlen ausgelöst und bereits von Kriminellen für deren Zwecke benutzt werden.
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Kritik

Das unter dem Pseudonym J. C. Vogt auftretende Autorenpaar Judith und Christian Vogt bezeichnet "Anarchie Déco" als "Urban-Fantasy-Roman mit Krimielementen". Vor dem Hintergrund der Weimarer Republik geht um physikalisch erzeugte Magie, um Selbstfindung und sexuelle Identität bzw. Diversität.
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Solvay-Konferenz 1927

Nike Wehner, eine etwa 30 Jahre alte Doktorandin, erforscht an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin magische Phänomene, die durch Elektronen- und Röntgenstrahlen ausgelöst werden und verblüfft auf der fünften Solvay-Konferenz 1927 in Leiden über „Elektronen und Photonen“ die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – darunter 17 Nobelpreisträger – mit der Vorführung eines Experiments: Der Jugendstilkünstler Alfons Mucha arbeitet an der Vorzeichnung eines Mädchens, und die Physikerin erreicht mit ihren Geräten, dass sich das Bild im Dampf über einem Wassereimer wie bei einem Hologramm spiegelt. Eine Theorie zur Erklärung des Vorgangs kann Nike noch nicht anbieten, aber sie erklärt dem Publikum, dass sowohl Kunst und Wissenschaft als auch ein Mann und eine Frau beteiligt sein müssen.

„Selbst eine physikalische Theorie wird oft nach ihrer Schönheit bewertet, nach den Symmetrien, die sie ausnutzt, nach ihrer Natürlichkeit. Und die Sprache, in der diese Poesie niedergeschrieben ist, ist die Mathematik. […] Prägen die Naturgesetze nur unser Empfinden von Ästhetik, oder ist auch der umgekehrte Weg möglich: Können wir mit von uns geschaffener Schönheit – Kunst – Einfluss auf die Naturgesetze ausüben?“

Ein Toter im Betonboden

Zurück in Berlin, wird Nike mit der auf der Baustelle des geplanten Tietz-Warenhauspalastes in Reinickendorf in den festen Betonboden eingesunkenen Leiche eines Mannes konfrontiert. Ihr Doktorvater, Prof. Siegfried Pfeiffer, der an der Friedrich-Wilhelm-Universität Angewandte Physik lehrt, hat nämlich mit dem Berliner Polizeipräsidenten Karl Friedrich Zörgiebel vereinbart, dass sie als Beraterin des für magische Kriminalfälle zuständigen Kriminalobermeisters Christoph Seidel tätig ist.

Nike musterte den Menschen, der dort mit Gesicht und Bauch nach unten auf dem … nein, im Fußboden lag. Er hatte die Arme nach vorn gestreckt. Auch seine Hände waren eingesunken, wenn auch nicht so tief wie der Unterkörper. Über den Beinen hatte sich der Marmor vollends geschlossen, über den Fingern und Händen jedoch eher so, als habe die Person tief in Brotteig gegriffen.

Bei dem Toten handelt es sich um Paul Frölich, einen an der Parteihochschule der KPD tätigen Politiker, der auch als Biograf und Nachlassverwalter von Rosa Luxemburg auffiel und sich für Sozialbauprojekte in Berlin engagierte.

Die tanzende Karyatide

Aus Prag trifft der angehende Bildhauer Sandor Černý in Berlin ein und meldet sich bei Nike, denn er soll der fünf oder sechs Jahre älteren Wissenschaftlerin als Künstler bei ihren Forschungen helfen.

Zusammen wollen sie sich eine Vorführung im Keller der Gaststätte „Cerises et Framboises“ ansehen. Die als Hilfswissenschaftlerin an Nikes Projekten beteiligte Physik-Studentin Erika Nußbaum erklärt dem Publikum:

„Magie, Physik, Kunst … das ist alles ein und dasselbe.“

Dann beginnt die Show. Während Erikas Partner Emil Bleier eine weibliche Karyatide aus hellem Sandstein mit dem Meißel bearbeitet, regelt die Physikerin die unerlaubt aus der Universität geholten Geräte, bis sich die Statue aufrichtet, das Kleid abstreift und tanzt. Die Zuschauer drängen sich, um sie zu berühren. Dabei verliert sie das Gleichgewicht und stürzt in die elektrischen Apparaturen.

Trotz des Tumults entdecken Nike und Sandor noch eine bereitgestellte Skulptur, eine sitzende Frau mit den Gesichtszügen einer als vermisst gemeldeten Vermieterin vom Prenzlauer Berg. Emil sagt, er habe die Kalkstein-Figur ebenso wie die Karyatide von dem Händler Lengenschmidts Bau & Kunst gekauft. Es handelt sich zweifelsfrei um Frau Glose, aber der hinzugezogene Gerichtsmediziner Dr. Groszjansen findet auch im Inneren der Statue nichts als Stein.

Als Nike und Sandor zu Lengenschmidts Bau & Kunst fahren, begegnen sie dort einer aufgebrachten Dame Mitte 50, die den Händler bezichtigt, sie bestohlen zu haben und ihren Begleiter Anton auffordert, Lengenschmidt mit Gewalt zum Reden zu bringen. Der hat jedoch plötzlich eine Pistole in der Hand und vertreibt damit die ungebetenen Besucherinnen und Besucher.

Bei der Dame handelt es sich um die Architektin Renée Markov, die mit ihrem Ehemann, dem Bauingenieur Arthur Markov, dabei ist, einen „Singendes Haus“ genannten Metallturm in Berlin zu errichten.

Walkürenritt

Sandor fühlt sich bei der Beratertätigkeit im Polizeipräsidium, einem roten Backsteinbau am Alexanderplatz, nicht besonders wohl, denn er ist unter dem Einfluss seines Freundes Jiří in Prag Anarchist geworden und muss sich vor polizeilichen Ermittlungen in Acht nehmen.

Heimlich beteiligt er sich an einem von dem Paar Tristan und Julia („Isolde“) geleiteten Treffen einer Gruppe der Schwarzen Scharen in der Kneipe Wannsau im Wedding. Plötzlich erklingt das Orchestervorspiel zum dritten Akt der Oper „Die Walküre“ von Richard Wagner, der Walkürenritt, in ohrenbetäubend anschwellender Lautstärke, und dazu erscheint am Fenster der Schatten eines überdimensionalen Adlers. Die Scheiben zersplittern. In der Kneipe gefriert Wasser zu Eis. Sandor und Isolde rennen über die Straße und dringen in einen leerstehenden Gemischtwarenladen ein. Ein SA-Mann und eine Frau flüchten durch einen Hinterausgang und lassen elektrische Apparaturen zurück. Bis auf Sandor und Isolde sind alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Anarchisten-Versammlung in Katatonie erstarrt und müssen ins Krankenhaus gebracht werden.

Der geflüchtete SA-Mann wird als Andreas Brucker identifiziert, festgenommen, aber gleich wieder freigelassen.

Sandor sieht ihn und seine Begleiterin auf der Baustelle des Turms „Singendes Haus“ wieder, wo er mit Renée Markov verabredet ist. Augenscheinlich hat sie das Paar beim Versuch überrascht, die Statue eines riesigen Engels zu stehlen, und wird nun bedroht. Sie fordert Sandor auf, Anton aus dem Bauwagen zu holen. Der erschießt Andreas Brucker, während dessen Komplizin von dem umstürzenden Engel erschlagen wird.

Georgette

Nike und Sandor freunden sich mit einer Person an, die ein Doppelleben führt. Nachts zeigt sie sich als Bühnentänzerin Georgette, tagsüber arbeitet sie als Psychologe unter dem Namen George Kalinin in den Wittenauer Heilstätten. Georgette kam als Junge auf die Welt, will sich aber nicht auf männlich oder weiblich festlegen lassen.

„Leute wie ich sind erpressbar […]. Vor allem Menschen, die bei Tag sogenannten ehrbaren Berufen nachgehen, werden zu Tausenden erpresst.“

Im Gespräch mit ihrer neuen Freundin fragt Georgette einmal:

„Warum sind wir beide Frauen?“
Nike wurde nervös. „Ich bin es, weil ich es muss, und du, weil du es willst, Herrgott“, stieß sie schließlich hervor.
„Vielleicht muss ich es auch“, sagte Georgette.

Georgette hilft nun Nike und Sandor beim Versuch, Erklärungen für die magischen Phänomene und Kriminalfälle zu finden.

Rabea und Nike

Nachdem Nike im Reichstag über ihre Forschung gesprochen hat, dringen nachts Kommunisten in den Keller der Universität ein und zerstören Nikes Labor. Beim Versuch, Aufzeichnungen seiner Doktorandin über die Experimente zu retten, kommt Prof. Siegfried Pfeiffer ums Leben; er stirbt an einer Rauchvergiftung.

Weil Nike offensichtlich in Gefahr ist, bringt Kommissar Christoph Seidel sie und ihre Mutter Rabea Gamal im Gästezimmer seiner Privatwohnung unter.

Rabea ist Ägypterin und Muslimin. Sie hatte Karl-Heinz Wehner in ihrer Heimat kennengelernt und war ihm schwanger nach Deutschland gefolgt. Weil sie nicht mit ihm verheiratet war, konnte sie keinen Unterhalt verlangen, aber er finanzierte immerhin das Studium der Tochter, wozu Rabea als Näherin nicht in der Lage gewesen wäre.

Als sich Nike zum ersten Mal die Haare geschnitten hatte, hatte sie das noch mit neunzehn zu Hause vorm Spiegel getan. Ihre Mutter hatte Schuhe nach ihr geworfen vor Wut, aber Nike hatte studieren wollen und gesagt, niemand würde sie mit langen Haaren ernst nehmen.

In der Markov-Villa

Renée Markov lädt Sandor zu einer Abendgesellschaft in der Privatvilla des Architekten-Ehepaars ein. Dort fällt ihm eine junge Frau auf, von der es heißt, sie sei Arthur Markovs Muse Mara. Erst nach einer Weile begreift er, dass er das Gesicht auf einem Fahndungsfoto der vermissten 18-jährigen Tochter des Berliner Baulöwen Alfons Heubeck gesehen hat. Am Tag als Paul Frölichs Leiche gefunden wurde, zog der Vater die Vermisstenanzeige zurück und behauptete, seine Tochter Marion Heubeck sei wieder zu Hause. Zur gleichen Zeit verschwand die junge Frau, die Paul Frölichs Begleiterin war, als er auf der Baustelle des Tietz-Kaufhauses zu Tode kam: eine Bühnentänzerin namens Marlene. Sandor ahnt, dass es sich bei Mara, Marion und Marlene um ein und dieselbe Person handelt.

Er findet sie im von außen zugesperrten Arbeitszimmer des Gastgebers. Der Schlüssel steckt, und Sandor will die 18-Jährige befreien. Arthur und Renée Markov kommen ihm jedoch zuvor. Marion kann sich gerade noch auf dem Balkon verstecken, während Sandor behauptet, er habe das wohl irrtümlich eingesperrte Mädchen gehört, die Tür geöffnet, das Baumodell im Zimmer entdeckt und es neugierig angeschaut. Das Miniatur-Abbild des Turms „Singendes Haus“ steht hier als Teil des Modells einer geplanten Metropole, und Arthur Markov erklärt stolz, das neue Berlin werde „Germania“ heißen.

Zu spät begreift Sandor, dass Renée unter dem Tisch elektrische Geräte einschaltet und Versteinerungs-Magie wie bei Frau Glose wirken lässt. Er und Mara retten sich durch einen Sprung in den Teich unterhalb des Balkons, aber Sandors rechte Hand ist bereits versteinert. Marion Heubeck bringt ihn zu Christoph Seidels Privatwohnung.

Erika und Emil

Erika und Emil sind untergetaucht, weil die Polizei wegen der versteinerten Vermieterin Glose nach ihnen fahndet.

Nike und Sandor spüren die beiden bei dem Physikstudenten Dietmar Lenz auf. Das Paar versteckte sich in der Gartenlaube seines Elternhauses.

Emil beteuert, dass er mit Frau Gloses Ermordung nichts zu tun habe, sondern nur ahnungslos die Steinfigur gekauft habe. Und Erika berichtet, dass sie beide im Auftrag der Markovs zu einer bestimmten Zeit nachts auf der Tietz-Baustelle experimentierten. Zu spät merkten sie, dass ein Mann und eine Frau das abgesperrte Areal betraten. Während der Mann stolperte und im durch das Experiment zähflüssig gewordenen Betonboden einsank, konnte seine Begleiterin fliehen.

Begegnung mit Lise Meitner und Albert Einstein

Als Nike und Sandor im verwüsteten Labor der Doktorandin nachschauen, ob noch Geräte zu gebrauchen wären, kommen unerwartet Lise Meitner und Albert Einstein in den Keller. Die Professorin für experimentelle Kernphysik stellt dem Schöpfer der Relativitätstheorie die beiden Jüngeren vor:

„Ich sagte dir ja bereits, Fräulein Wehner und Herr Černý haben beeindruckende Ergebnisse zu vorweisen, Albert.“

Einstein hat Nikes Berichte über Magie gelesen, zeigt sich aber besorgt:

„Weil man damit schreckliche Waffen schmieden kann. Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Černý, das ist natürlich schon schlimm genug – die Umwandlung von Fleisch in Stein. Aber nehmen wir einmal an, dass Fräulein Wehner recht hat, dann haben wir es hier immer noch mit einer Energieumwandlung auf Atomkernniveau zu tun. Man stelle sich vor, man würde nicht die Protonenzahl im Kern umwandeln, sondern die Bindungsenergien des Kerns in kinetische Energie und in Wärme. Die Masse so einer Hand würde reichen, die schrecklichste Bombe zu zünden, die die Menschheit je gesehen hat. Der Planet selbst wäre in Gefahr.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Der Singende Turm

Während Georgette, Nike, Sandor, Erika und Emil auf das umzäunte Gelände der Baustelle des Turms „Singendes Haus“ vordringen, will Christoph Seidel die Wache am Eingang ablenken. Zu seiner Überraschung holt der junge Mann Kriminaloberkommissar Reinhold Fuchs, einen Kollegen Seidels in der von Kriminalpolizeirat Ernst Gennat („Buddha“) 1926 gebildeten und seither geleiteten Zentralen Mordinspektion. Und als Seidel sich nicht abwimmeln lässt, fordert Fuchs einen inzwischen ebenfalls aufgetauchten SA-Mann mit einem Handzeichen auf, Seidel zu erschießen.

Fast zur gleichen Zeit überwältigen SA-Männer die Eindringlinge. Sandor wird von einem SA-Mann im Aufzug zum Dach des Turms hinaufgebracht, wo Renée und Arthur Markov dabei sind, die von der Kuppel ausgehenden Impulse zu steuern.

Auf den Straßen versinken Passanten im flüssig werdenden Pflaster. Ein Junge erschrickt, als er versehentlich mit seinem Fußball ein Fenster trifft und die Scheibe zerbricht. Im nächsten Augenblick beobachtet er, wie sich die beiden Karyatiden von der Fassade lösen und der nicht länger von ihnen gestützte Balkon abstürzt.

Marion Heubeck überredet die Wache an einem ihrem Vater gehörenden Industriekomplex, sie und ihre Freundin Lisa aufs Dach zu lassen. Als Marion dort in die Knie geht, drückt sie Mulden in den weich gewordenen Beton, und weil die im Boden verdübelten Schrauben nicht mehr halten, gelingt es den beiden jungen Frauen, den von den Markovs angebrachten großen Spiegel umzukippen.

Daraufhin interagieren die vom „Singenden Turm“ ausgestrahlten zerstörerischen Wellen nur noch mit drei von vier Resonanzspiegeln. Einer befindet sich auf dem Dach eines Mietshauses am Prenzlauer Berg, einer auf einem Sozialbau und der dritte auf der Privatvilla das Architektenpaares Markov.

Ein SA-Mann erschießt Emil und drückt den Lauf seiner Pistole dann Georgette an den Kopf. Um sie zu retten, reißt Nike ein Stromkabel heraus und drückt sich dessen Ende an den Hals.

Die Elektrizität riss sie in die Höhe, auf die Füße, und der Arm mit der Pistole richtete sich auf sie. Aber Nike war nicht mehr da, stattdessen gab es ein Wesen aus Funken, Blitz und Feuer, das keine einzige Sekunde mehr zögerte. Mit der lichtschnellen Kraft ihrer Gedanken lenkte sie die geballte Macht der Elektronen auf die Monster um sie herum. Sie warf mit Blitzen um sich, und die Braunhemden tanzten dazu.

Nike jagte ihre Blitze in den Boden, schmolz und sprengte den Beton.

Zur gleichen Zeit packt Sandor mit seiner vorübergehend beweglichen Steinhand die Pistole des neben ihm stehenden SA-Mannes und zerquetscht sie. Mit einem Fausthieb bringt er den Stahlturm zum Einsturz.

Epilog

Die Markovs zerstörten sieben Häuser; Hunderte wurden beschädigt. Es gibt 63 Tote und noch mehr Verwundete und Vermisste. Christoph Seidel erholt sich in der Charité von der Schussverletzung und wird ein paar Monate früher als geplant pensioniert, während der 20 Jahre jüngere Kriminaloberkommissar Reinhold Fuchs die für magische Kriminalfälle zuständige Abteilung von ihm übernimmt.

Georgette verwirklicht einen Traum und wechselt zum Institut für Sexualwissenschaften ihres Idols Magnus Hirschfeld, der in seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen die vorherrschende binäre Geschlechtereinteilung verworfen hat und davon ausgeht, dass bei jedem Individuum männliche und weibliche Eigenschaften anders vermischt sind. Der Pionier der Sexualforschung setzt sich für eine Entkriminalisierung und Entpathologisierung der von überkommenden Rollenbildern abweichenden Selbstwahrnehmungen ein.

Aus der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 geht die SPD mit knapp 29,8 Prozent der Stimmen als stärkste Partei hervor. Die neue Magie-Partei erreicht aus dem Stand 10 Prozent, die NSDAP bleibt deutlich unter 5 Prozent.

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Das unter dem Pseudonym J. C. Vogt auftretende Autorenpaar Judith und Christian Vogt bezeichnet „Anarchie Déco“ als „Urban-Fantasy-Roman mit Krimielementen“.

Die Handlung spielt Ende der Zwanzigerjahre fast ausschließlich in Berlin. Von der fünften Solvay-Konferenz 1927 in Leiden an haben Judith und Christian Vogt die Geschichte umgeschrieben, und in dieser alternativen Welt erforscht eine Physikerin der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin magische Phänomene, die durch Elektronen- und Röntgenstrahlen ausgelöst und bereits von Kriminellen für deren Zwecke benutzt werden. Judith und Christian Vogt lassen zahlreiche historische Persönlichkeiten auftreten, darunter den kommunistischen Politiker Paul Frölich, der allerdings in „Anarchie Déco“ 1927 ermordet wird, in der uns geläufigen Zeitgeschichte jedoch bis 1953 lebte.

Die physikalisch erzeugte Magie, die sich Judith und Christian Vogt für ihren Roman „Anarchie Déco“ ausgedacht haben, entsteht nur im Zusammenwirken von Dichotomien: Mann und Frau, Kunst und Wissenschaft.

Und genau da setzen die Autorin und der Autor bei der sexuellen Selbstbestimmung an. Während Rabea Gamal. die aus Ägypten stammende muslimische Mutter der Protagonistin, davon ausgeht, dass es nur zwei Geschlechter gebe, beginnt ihre Tochter Nike Wehner unter dem Einfluss von Georgette bzw. George Kalinin zu ahnen, dass es mehr Varianten gibt. Begriffe wie Diversität, Queer, LGBT bzw. LSBT*Q kennt man Ende des Zwanzigerjahre noch nicht, aber weder Georgette noch Nike wollen sich von binären Rollenerwartungen einengen lassen. Und Sandor Černý meint:

„Vielleicht ist es an der Zeit, die Kernfamilie zu hinterfragen.“

„Anarchie Déco“ dreht sich also nicht nur um Magie vor dem Hintergrund der Weimarer Republik, sondern auch um Selbstfindung und sexuelle Identität.

Die Handlung spielt zwar in einer Alternativwelt, aber es verwundert dennoch, wenn Jahrzehnte vor dem Beginn der Gender-Debatte von Wählerinnenstimmen (Seite 161), Gästinnen und Gästen (Seiten 115, 365) gesprochen wird. Außerdem sagte damals niemand brandneu (Seite 134), denn diese Vokabel verdrängte erst sehr viel später unter amerikanischem Einfluss (brand new) das alte Wort nagelneu.

Der von Judith und Christian Vogt in „Anarchie Déco“ gewählte Ansatz ist originell, aber die Zusammenhänge werden nur oberflächlich verknüpft und die Darstellung sowohl der magischen Experimente als auch des „Singenden Turms“ könnte anschaulicher sein.

Auf die gelungene Cover-Gestaltung von Tom Cage und Patrizia Di Stefano sei ausdrücklich hingewiesen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Judith und Christian Vogt / © S. Fischer Verlag

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