Caroline Wahl : 22 Bahnen

22 Bahnen
22 Bahnen Originalausgabe DuMont Buchverlag, Köln 2023 ISBN 978-3-8321-6803-2, 208 Seiten ISBN 978-3-8321-8278-6 (eBook) Taschenbuchausgabe: DuMont Buchverlag, Köln 2024 ISBN 978-3-8321-6724-0, 208 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während Tilda ihre Masterarbeit in Mathematik schreibt, drängt ihr Professor sie, sich für eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität zu bewerben. Aber kann sie es verantworten, nach Berlin zu ziehen? Wird ihre zehnjährige Halbschwester Ida ohne sie zurechtkommen? Von den beiden Vätern ist keiner mehr da, und die Mutter ist alkoholkrank.
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Kritik

"22 Bahnen" lässt sich als Entwicklungsroman bzw. Coming-of-Age-Geschichte lesen, aber es geht vor allem um eine kaputte Familie, um Zusammenhalt, Überforderung, Verantwortung, Aufbruch, Freiheit – und eine Liebesgeschichte. Caroline Wahls schriftstellerisches Können ist erstaunlich, weil es sich bei "22 Bahnen" um ihren Debütroman handelt.
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Tilda, Ida und Andrea

Tilda Schmitt hat in einer nahen Großstadt Mathematik studiert und schreibt ihre Masterarbeit. Bis auf sie zogen alle damaligen Abiturientinnen und Abiturienten fort. Tildas Freundin Marlene verbrachte beispielsweise ein Jahr in Thailand und lebt inzwischen in Amsterdam.

Als sie noch zur Schule gingen, nahm Marlene ihre Freundin häufig mit nach Hause. Dort erlebte Tilda eine intakte Zahnarzt-Familie – bis Marlene sich von ihren Eltern abwandte und ihre eigenen Wege ging.

Bei Tilda zu Hause sieht es anders aus. Ihre Mutter Andrea brach das Literaturstudium ab, als sie schwanger geworden war und zog dann mit Tildas Vater, einem Germanistik-Doktoranden aus der Metropole in die Kleinstadt, wo die Wohnung einer Großtante zur Verfügung stand. Der Mann verließ die Familie bald, und über den Vater der jetzt zehnjährigen Ida wissen die beiden Halbschwestern nichts.

Andrea Schmitt erträgt dieses Leben nur im Alkoholrausch. Als Mutter fällt sie aus. Tilda muss sich nicht nur um sie, sondern vor allem um ihre jüngere Schwester kümmern. Zu Ida betreffenden Elternsprechtagen geht nicht Andrea, sondern Tilda. Um das Kindergeld und die Unterhaltszahlungen aufzustocken, jobbt Tilda neben dem Studium und ihrer Rolle als Ersatzmutter an der Kasse eines Supermarkts. Ida verarbeitet ihre Erfahrungen beim Malen und zeigt dabei großes Talent.

Ein Professor weist Tilda auf eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität mit Schwerpunkt Wahrscheinlichkeitstheorie hin, rät ihr, sich dafür zu bewerben und verspricht ihr ein Empfehlungsschreiben. Um die Chance wahrzunehmen, müsste Tilda in fünf Monaten nach Berlin ziehen. Kann sie das verantworten? Würde Ida ohne sie zurechtkommen?

Viktor

Nach dem Abitur, im Sommer vor fünf Jahren, verbrachten Tilda und Marlene viel Zeit mit ihrem Mitschüler Ivan Wolkow. Die russische Familie war mit dem damals fünf Jahre alten Ivan und dessen vier Jahre älterem Bruder Viktor nach Deutschland gekommen, um den Söhnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Der 21-jährige Ivan wollte eine Ausbildung als Kfz-Mechatroniker absolvieren und daran anschließend in Aachen Fahrzeugtechnik studieren. Aber dazu kam er nicht mehr.

Am 9. August vor fünf Jahren wollten Ivans Eltern mit ihm und seinen 14 bzw. neun Jahre alten Geschwistern Sasha und Nika nach Russland fahren. Sie starben alle bei einem Verkehrsunfall.

Nun, fünf Jahre später, taucht Viktor – der einzige Überlebende der Familie Wolkow – wieder in der Kleinstadt auf. Tilda kennt ihn noch vom Gymnasium. Er galt ebenso wie sie als Überflieger. Ein Jahr vor dem tödlichen Unfall hatte er der Familie ein Haus in der Kleinstadt gekauft. Das Geld hatte er als Computernerd in den USA verdient.

Tilda schaut ihm zu, wie er im Schwimmbad seine Bahnen zieht. Und weil er ebenso wie sie 22 Bahnen schwimmt, fügt sie von da an selbst noch eine hinzu.

Befreiung

Andrea Schmitt hält zwei Wochen ohne Alkohol durch, meldet sich in dieser Zeit bei der Arbeitsagentur und bewirbt sich erfolgreich als Bedienung in einem Café. Aber am 15. Tag erleidet sie einen Rückfall, und Ida versteckt sich im Wald, nachdem die Mutter sie geschlagen hat. Viktor hilft Tilda beim Suchen.

Einige Zeit später finden Tilda und Ida die Mutter zu Hause halb tot vor. Auf einen Zettel hat sie „SORRY“ gekritzelt. Offenbar hat sie Wodka getrunken und eine Überdosis Xanax-Tabletten geschluckt. Während Tilda die Mutter in eine stabile Seitenlage bringt, ruft Ida den Notarzt.

Im Krankenhaus bricht Tilda zusammen. Ida bringt ihre ältere Schwester mit dem Bus nach Hause, und als das Fieber steigt, holt sie Viktor zu Hilfe. Während Tilda fiebert und Andrea im Krankenhaus liegt, kümmern die beiden sich nicht nur um Tilda, sondern räumen auch die Wohnung auf und lüften gründlich.

Nach der Entgiftung rät die behandelnde Ärztin der Alkoholkranken dringend zu einem Entzug in einer entsprechenden Einrichtung, aber Andrea tut den Suizidversuch als Ausrutscher ab und meint, sie schaffe das allein. Ihre Töchter wissen, dass es nicht so sein wird, können sie aber nicht umstimmen.

Als Tilda an der Supermarkt-Kasse sitzt, stellt Ida ihr eine Mitschülerin vor, mit der sie sich angefreundet hat. Samara gefällt Tilda. Sie ist inzwischen überzeugt, dass Ida auch ohne sie zurechtkommen wird – und bewirbt sich für die Doktorandenstelle in Berlin.

Viktor fährt mit ihr zum „Russenturm“, einem Hochhaus am Stadtrand, in dem er mit seiner Familie jahrelang gewohnt hatte. Damals war anderen Kindern eingeschärft worden, das Areal zu meiden. Die Wolkows wohnten in der 32. Etage. Viktor hat noch einen Schlüssel für die leerstehende Wohnung. Von dort kann man durch eine Klappe aufs 100 Meter hohe Dach des Gebäudes steigen. Viktor zeigt Tilda die Aussicht. Aus dieser Höhe schaut alles anders aus.

Fünf Jahre nach dem tödlichen Unfall räumt Viktor nun das verwaiste Haus der Familie Wolkow, und Tilda hilft ihm dabei. Am Abend weint er.

Viktor lebt seit zwei Jahren in Hamburg und ist als freiberuflicher Programmierer erfolgreich. Nach der Räumung des Hauses muss er zurück. Aber es ist kein Abschied, sondern Tilda und Viktor sind bei einander angekommen.

Und jetzt bin ich selbst das Opfer einer Liebesgeschichte und spüre, wie sich meine Gedanken zunehmend um ihn drehen, obwohl ich eigentlich genug andere Probleme habe. Das sollte hier nie eine Liebesgeschichte werden. Das sollte wenn, dann Idas und meine, vor allem Idas Heldinnengeschichte werden, in der sich Ida von Mama befreit.

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„22 Bahnen“ lässt sich als Entwicklungsroman bzw. Coming-of-Age-Geschichte lesen, aber es geht vor allem um eine kaputte Familie, um Zusammenhalt, Überforderung, Verantwortung, Aufbruch und Freiheit. Zugleich entfaltet Caroline Wahl eine Liebesgeschichte. Obwohl die geschilderten Verhältnisse für die Betroffenen kaum zu ertragen sind, wirkt der Roman „22 Bahnen“ keineswegs niederschmetternd, denn es gelingt Caroline Wahl, einen Mut machenden Hoffnungsschimmer wie einen roten Faden durch ihr Buch zu führen.

Erzählt wird im Präsens und in der dritten Person Singular, konsequent aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Tilda. Dabei achtet Caroline Wahl besonders auf Dialoge, die sie wie bei einem Theaterstück wiedergibt, mit dem Namen der Sprecherin bzw. des Sprechers vorne weg. Pausen spürt man, wenn nach einer Äußerung eine weitere derselben Romanfigur folgt, erneut mit Namen und Doppelpunkt am Anfang der Zeile.

Die Geschichte entwickelt sich chronologisch innerhalb weniger Monate. Vergangene Ereignisse betreffende Andeutungen sorgen für Spannung, und Caroline Wahl hat Rückblenden geschickt eingeflochten. Darüber hinaus arbeitet sie in „22 Bahnen“ gekonnt mit Leitmotiven wie dem Schwimmen. Beim Tauchen ändert sich die Perspektive ebenso wie beim Blick vom Dach des 100 Meter hohen „Russenturms“.

Dieses schriftstellerische Können ist erstaunlich, weil es sich bei „22 Bahnen“ um den Debütroman von Caroline Wahl (*1995) handelt. Eine Fortsetzung unter dem Titel „Windstärke 17“ mit Ida als Protagonistin ist für Mai 2024 angekündigt.

Den Roman „22 Bahnen“ von Caroline Wahl gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Carolin Haupt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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