Daniel Jonah Goldhagen : Hitlers willige Vollstrecker

Hitlers willige Vollstrecker
Originalausgabe: Hitler's Willing Executioners Alfred A. Knopf, New York 1996 Hitlers willige Vollstrecker Übersetzung: Klaus Kochmann Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 1996 Siedler Taschenbücher, 1998
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Die Schlussfolgerung dieses Buches lautet, dass der Antisemitismus viele Tausende 'gewöhnlicher' Deutscher veranlasste, Juden grausam zu ermorden, und dass auch Millionen anderer Deutscher nicht anders gehandelt hätten, wären sie in die entsprechenden Positionen gelangt." – Daniel Jonah Goldhagen unterstellt den Deutschen im "Dritten Reich" einen "eliminatorischen Antisemitismus", der sie zu "Hitlers willigen Vollstreckern" machte.
mehr erfahren

Kritik

Auch wenn man Goldhagens radikaler Argumentation in "Hitlers willige Vollstrecker" nicht hundertprozentig folgt, sind die zahlreichen Selbstzeugnisse und anderen Dokumenten, mit denen er seine Thesen zu untermauern versucht, erschreckend.
mehr erfahren

Die Hypothese, von der ich bei Beginn der empirischen Forschungen annahm, dass sie sich am ehesten bestätigen ließe, lautete: Es waren die Vorstellungen und Bilder von den Juden, die die Täter zu ihren Taten, zur Mitwirkung an der mörderischen Verfolgung der Juden motiviert haben; weil es diese Bilder und Vorstellungen gab, mussten die verschiedenen deutschen Institutionen sich den bereits vorhandenen Antisemitismus nur nutzbar machen, sobald Hitler den Befehl zur Vernichtung erteilte. (Seite 541)

Daniel Jonah Goldhagen geht davon aus, dass die nationalsozialistische Führung die Vernichtung der Juden nur durchführen konnte, weil in der deutschen Bevölkerung ein negatives Klischee über „den Juden“ ebenso weit verbreitet war wie die Überzeugung, man müsse sich der Juden erwehren. – Diese Hypothese versucht Goldhagen exemplarisch durch Dokumente über die deutschen Polizeibataillone in Osteuropa, die Vernichtungslager und die Todesmärsche nach deren Auflösung zu belegen.

Die Deutschen betrachteten die Juden als Inbegriff der Verbindung von höchster Intelligenz und Gerissenheit gepaart mit abgrundtiefer Niedertracht. (Seite 482)

Im Grunde – behauptet Goldhagen – hätten die meisten Deutschen die Eliminierung der Juden aus Deutschland für gerechtfertigt gehalten. Einen „eliminatorischen Rassenantisemitismus“ (Seite 166) unterstellt er ihnen.

Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Ansicht, die Juden seien eine Gefahr für Deutschland und ihre Bösartigkeit liege in ihrer Rasse begründet, ebenso weit verbreitet wie die daraus folgende Überzeugung, dass die Juden ausgeschaltet werden müßten. (Seite 97)

Hitler übersprang den moralischen Abgrund, den die gewöhnlichen Deutschen aus eigener Kraft nicht überwinden konnten, und schuf die Bedingungen, unter denen aus den eliminatorischen Maßnahmen, aus der Ausgrenzung und Ausschaltung, schließlich Ausrottung werden konnte […] Nach den Jahren des Aufruhrs, der Unordnung und der Entbehrungen, an denen angeblich die Juden schuld sein sollten, bot Hitler den Deutschen nun eine wirkliche „Endlösung“ an. Sie ließen sich von ihm mitreißen, arbeiteten gemeinsam daran, seine Vision und sein Versprechen zu realisieren, das mit ihrer Weltsicht, mit ihren tiefsten Grundsätzen vereinbar war. (Seite 522f)

Die häufig vorgebrachte Behauptung, man habe nichts von den Gräueln geahnt, lässt Goldhagen nicht gelten.

Die ersten Schritte des antijüdischen Programms, der systematische Ausschluß der Juden vom deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsleben, wurden in aller Öffentlichkeit, mit Zustimmung und Mitwirkung buchstäblich aller Schichten der deutschen Gesellschaft unternommen […] Hunderttausende von Deutschen trugen zum Genozid und dem weit umfassenderen System der Unterwerfung, dem riesigen Lagersystem, bei. Trotz der allerdings nicht sehr konsequenten Bemühungen des Regimes, den Völkermord geheim zu halten, wussten Millionen Deutsche von der Massenvernichtung. Hitler verkündete mehrmals mit aller Leidenschaft, dass der Krieg mit der Auslöschung der Juden enden würde, und die Tötungen trafen auf allgemeines Verständnis, wenn nicht gar Zustimmung […] (Seite 21)

Folgende Voraussetzungen für den Holocaust glaubt Goldhagen zu erkennen: (1) Die nationalsozialistische Führung beschloss und organisierte die Judenvernichtung. (2) Im Krieg bekam die deutsche Führung osteuropäische Juden unter ihre Kontrolle. (3) Eine große Zahl von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ beteiligte sich aktiv und freiwillig an der Judenvernichtung. – Auch in anderen europäischen Ländern sei der Antisemitismus verbreitet gewesen, gibt Goldhagen zu, aber es sei nur im Machtbereich des Deutschen Reichs zu einem Genozid gekommen, weil hier die einzige Regierung amtierte, die den Massenmord duchführte. In seinem Buch mit dem provozierenden Titel: „Hitlers willige Vollstrecker“ beschäftigt Daniel Jonah Goldhagen sich jedoch nicht weiter damit, sondern fast ausschließlich mit der dritten Voraussetzung.

Woher rührte denn die allgegenwärtige, schier unglaubliche Reibungslosigkeit, mit der ein Programm durchgesetzt wurde, das von der Mitwirkung so vieler Menschen abhängig war? (Seite 451)

Zuerst listet Goldhagen herkömmliche psychologische Erklärungen auf: Die Täter handelten unter vermeintlichem oder tatsächlich vorhandenem äußeren Druck (Befehlsnotstand) oder sie neigten dazu, Autoritäten und ihren Befehlen blind zu gehorchen. Die Täter fühlten sich durch ihre Kameraden unter Druck gesetzt (peer pressure). Sie handelten aus Eigeninteresse, beispielsweise um Karriere zu machen, oder sie durchschauten die Zusammenhänge nicht, weil die Aufgaben fragmentiert waren. Durch die zitierten Dokumente glaubt Goldhagen nachgewiesen zu haben, dass diese Deutungsmuster für die Erklärung des Holocaust irrelevant sind. Beispielsweise hätte niemand ernste Konsequenzen befürchten müssen, wenn er nicht an Massenerschießungen teilgenommen hätte. (Diese Auffassung vertritt auch Christopher R. Browning in seinem Buch „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“.)

Es ist also eindeutig bewiesen, dass kein Deutscher jemals wegen seiner Weigerung, einen Juden umzubringen, getötet oder inhaftiert wurde. (Seite 446)

Die Täter – so Goldhagen – machten freiwillig mit.

Dass die Täter den Massenmord billigten und bereitwillig daran teilnahmen, steht fest. Dass ihre Zustimmung im Wesentlichen von dem Bild bestimmt war, das sie von den Juden hatten, kann man ebenfalls mit Gewissheit sagen […] (Seite 487)

Rekrutierten die Täter sich aus einer Minderheit besonders sadistisch veranlagter Psychopathen? Nein, meint Goldhagen. Die Polizeibataillone, die in Osteuropa die Massenerschießungen durchführten, waren auch keine Eliteeinheiten, keine besonders geschulten Nationalsozialisten, sondern Durchschnittsdeutsche.

Beschäftigt man sich mit den Polizeibataillonen, werden zwei grundlegende Tatsachen deutlich: Erstens waren es ganz gewöhnliche Deutsche, die zu Vollstreckern des Völkermords wurden. Zweitens töteten sie, obwohl sie es nicht mussten. (Seite 328)

Mit Dutzenden von Beispielen zeigt Goldhagen, dass die Täter nicht nur Befehle ausführten, sondern selbst die Initiative ergriffen. Deutsche Soldaten erniedrigten ihre Opfer, ließen sich dabei knipsen und schickten die Erinnerungsfotos ihren Angehörigen in der Heimat. Sie handelten auch nicht gleichgültig und gefühlskalt, sondern hasserfüllt:

Die Tötung von Juden […] war ein hasserfüllter, rabiater Vorgang, der von Grausamkeit, Erniedrigung, Hohn und Spott vorbereitet und begleitet wurde. Warum konnten diese Henker des jüdischen Volks nicht wie normale Scharfrichter handeln? Wie kam es, dass die ganz gewöhnlichen Deutschen, die zu Vollstreckern wurden, von heute auf morgen eine so mutwillige, spontane und unverlangte Grausamkeit an den Tag legten? Die Antwort führt wiederum zu den Bildern und Vorstellungen, die die Deutschen sich von den Juden gemacht hatten. In ihren Augen war der Jude nicht nur ein abscheulicher Schwerverbrecher. Er war die Verkörperung des Teufels, er war, wie Richard Wagner es angsteinflößend und bedrohlich formuliert hatte, „der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit“. (Seite 466)

Daniel Jonah Goldhagens fasst zusammen:

Die Schlussfolgerung dieses Buches lautet, dass der Antisemitismus viele Tausende „gewöhnlicher“ Deutscher veranlasste, Juden grausam zu ermorden, und dass auch Millionen anderer Deutscher nicht anders gehandelt hätten, wären sie in die entsprechenden Positionen gelangt. Nicht wirtschaftliche Not, nicht die Zwangsmittel eines totalitären Staates, nicht sozialpsychologisch wirksamer Druck, nicht unveränderliche psychische Neigungen, sondern die Vorstellungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten über Juden vorherrschten, brachten ganz normale Deutsche dazu, unbewaffnete, hilflose jüdische Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden systematisch und ohne Erbarmen zu töten. (Seite 22)

Die deutsche Politik und Kultur hatte sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem die meisten Deutschen hätten werden können, was eine ungeheure Zahl ganz gewöhnlicher Deutscher tatsächlich wurde: Hitlers willige Vollstrecker. (Seite 531)

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Daniel Jonah Goldhagen behauptet, dass „ganz gewöhnliche Deutsche“ einen „eliminatorischen Antisemitismus“ vertraten und deshalb „Hitlers willige Vollstrecker“ wurden. Ist das nur eine werbewirksame These? Auch wenn man Goldhagens radikaler Argumentation nicht hundertprozentig folgt, sind die zahlreichen Selbstzeugnisse und anderen Dokumenten, mit denen er seine Thesen zu untermauern versucht, erschreckend.

Ich befürchte allerdings, dass Goldhagen die beschriebenen psychologischen Phänomene zu Unrecht auf den Holocaust einengt und auf einen „eliminatorischen Antisemitismus“ zurückführt. Experimente wie sie zum Beispiel von Stanley Milgram (Milgram-Experiment) und Philip G. Zimbardo (Stanford Prison Experiment) durchgeführt wurden – aber auch Beobachtungen in Kriegen und anderen Ausnahmesituationen – lassen vermuten, dass Menschen überall und zu allen Zeiten dazu verführt werden können, zu foltern und zu töten, wenn man ihnen ein entsprechendes Feindbild einimpft und eine Autorität sie glauben macht, das sei moralisch in Ordnung.

Daniel Jonah Goldhagen war zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung Associate Professor of Government and Social Studies in Harvard und Associate am Minda de Gunzburg Center for European Studies.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Wolf Jobst Siedler Verlag

Holocaust

Richard Breitman: Heinrich Himmler. Der Architekt der „Endlösung“

Juli Zeh - Schilf
"Schilf" ist ein intellektueller Roman mit Karikatur-Figuren, die von Juli Zeh wie Marionetten bewegt werden. Lesenswert ist "Schilf" wegen origineller Ideen, ironischer Untertöne und einer glänzenden Sprache.
Schilf