Erik Fosnes Hansen : Das Löwenmädchen

Das Löwenmädchen
Originalausgabe: Løvekvinnen, 2006 Das Löwenmädchen Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 ISBN: 978-3-462-03973-3, 396 Seiten Fischer-Taschenbuch, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-596-18089-9, 396 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In einer norwegischen Kleinstadt wird 1912 ein am ganzen Körper behaartes Mädchen geboren. Die Mutter stirbt dabei, und der Vater schämt sich wegen des Kindes. Obwohl er das von einer Amme betreute Kind versteckt, spricht es sich herum, dass Eva ein Fell hat, und er kann nicht verhindern, dass Zeitungen darüber schreiben. In der Schule wird Eva ausgegrenzt und angefeindet. Schließlich präsentiert man sie als interessanten "Fall" auf einem Ärztekongress, und ein Kuriositätenkabinett bemüht sich um sie ...
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Kritik

Erik Fosnes Hansen erzählt in seinem Roman "Das Löwenmädchen" leichthin und ohne ambitionierte Stilexperimente, dafür farbig und lebendig, sprachlich elegant und mit großer poetischer Gestaltungskraft.
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Am 13. Dezember 1912 rutscht die siebenundzwanzigjährige hochschwangere Klavierlehrerin Ruth Arctander in einer norwegischen Kleinstadt bei Fredheim auf dem Glatteis aus und bleibt benommen liegen. Elsa, die Frau des Apothekers Knut Birgerson, hilft ihr auf, bringt sie nach Hause und ruft den Arzt Abraham Levin. Der kann jedoch nicht verhindern, dass Ruth Arctander bei der vorzeitigen Geburt ihrer Tochter stirbt.

Auch Dr. Levin staunt über das Neugeborene, das am ganzen Körper mit Ausnahme der Handflächen und Fußsohlen wie ein Löwenbaby behaart ist. Weil der Vater, der Stationsmeister Gustav Arctander, sich nicht weiter um seine Tochter kümmert, sei es aus Trauer um seine verstorbene Frau oder aus Entsetzen über die ungewöhnliche Behaarung des Säuglings, nehmen Elsa und Knut Birgerson das Kind fürs Erste bei sich auf.

Stationsmeister Arctander war ein Freund von Präzision und Verlässlichkeit und bestand darauf, dass seine Telegrafisten jeden einzelnen Tag um Schlag zwölf Uhr die korrekte Eisenbahnzeit aus der Hauptstadt anforderten – die Reichszeit, wie sie hieß –, obgleich die Vorschriften dies nur einmal wöchentlich verlangten. (Seite 85)

Unmittelbar vor dem pompösen Begräbnis Ruth Arctanders findet im kleinsten Kreis die Taufe ihrer Tochter statt. Als der Pfarrer nach dem Namen fragt, weiß Gustav Arctander keine Antwort: Darüber hat er noch gar nicht nachgedacht. Abraham Levin schlägt spontan vor, das Kind auf den Namen Eva zu taufen, und so geschieht es.

Nach einigen Wochen zeigt Gustav Arctander noch immer kein Interesse an seiner Tochter. Elsa Birgerson meint, er könne Eva nicht wie einen Kuckuck bei ihr und ihrem Mann deponieren, sondern müsse eine Amme für sie einstellen. Abraham Levin findet schließlich eine Siebzehnjährige, deren unehelich gezeugtes Kind drei Tage nach der Geburt starb. Hanna Olsen, eines von sieben Kindern des Tagelöhners Johan Olsen und seiner Frau Marie, erschaudert, als sie das behaarte Kind zum ersten Mal an die Brust legt, aber sie gewöhnt sich daran und bezieht eine Dachkammer im Haus des Stationsvorstehers.

Obwohl Hanna das Haus nicht mit Eva verlassen darf und Arctander alles tut, um die Abnormität seiner Tochter geheimzuhalten, spricht es sich bald herum, dass Eva Arctander wie ein Tier behaart ist. In der Lokalzeitung erscheint ein Artikel darüber. Der ruft im April 1913 den Journalisten Hansen aus der norwegischen Hauptstadt Kristiana (Oslo) auf den Plan. Weil Arctander sich weigert, ihm das Kind zu zeigen und mit ihm darüber zu sprechen, befragt Hansen eine Woche lang die Bewohner der Kleinstadt und schreibt dann seinen Artikel, den er mit eigenen Zeichnungen illustriert.

Hanna schlägt dem Stationsmeister schließlich vor, die Gesundbeterin Mutter Berg zu rufen. Es könne ja nicht schaden, meint sie, und Arctander pflichtet ihr bei. Die Frau macht ihren Hokospokus mit dem Kind, aber an Evas Behaarung ändert sich nichts.

Hanna bleibt als Kindermädchen und Haushälterin bei Arctander. Sie pflegt den Pelz des Mädchens – was sehr viel Zeit in Anspruch nimmt –, kocht, putzt, wäscht und bügelt. Weil Hanna darauf drängt, dass Eva an die frische Luft kommt, kauft Arctander einen Kinderwagen. Hanna darf Eva damit spazierenfahren, allerdings nur auf dem für die Öffentlichkeit gesperrten Bahngelände.

Aufgrund eines medizinischen Berichts von Dr. Levin über Eva Arctander reist am 12. Juni 1913 der Dermatologe Professor Dr. Johan Q. Strøm an und begutachtet das außergewöhnliche Kind. Er diagnostiziert eine Hypertrenosis lanuginosa congenita und erklärt seinem Kollegen, es handele sich um einen extrem seltenen Fall, bei dem die zwischen der 29. und 32. Schwangerschaftswoche normale Lanugo-Behaarung nicht wieder verschwindet.

Eva wird fortan zweimal im Jahr von Abraham Levin untersucht und vermessen. Alle zwei Jahre kommt Johan Q. Strøm persönlich. Ungeduldig wartet er darauf, „den Fall“ auf einem Kongress vorstellen zu können.

Als Eva sieben Jahre alt ist, besuchen der Vater, das Arzt- und das Apotheker-Ehepaar mit ihr eine Weihnachtsbaumfeier in Fredheim. Elsa Birgerson ermutigt sie, mit den anderen Kindern zu spielen, aber das Mädchen, das Eva anspricht, erschrickt bei ihrem Anblick. Sie wird von allen gemieden und ausgegrenzt. Ein Magier mit dem Namen El Smeraldo tritt auf. Zu seinem Programm gehört es, dass er den Kindern einen leeren Sack zeigt und sie dann hineingreifen und ein Ei herausholen lässt. Als er zu Eva kommt, zuckt er zusammen und starrt sie an.

„Na, du hast aber wirklich mal eine hübsche Julbockmaske, kleine Freundin.“ (Seite 151)

Im Publikum ruft jemand: „Braves Hündchen!“ Eva fasst in den Sack, spürt einen eiförmigen Gegenstand, der allerdings viel schwerer als ein Hühnerei ist und wirft ihn dem Magier an den Kopf. El Smeraldo geht zu Boden. Glücklicherweise stellt Dr. Levin fest, dass er sich nur eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen hat. Obwohl Gustav Arctander sonst sehr streng ist und Eva auch mit einem Riemen schlägt, wenn sie ihm nicht gehorcht, bestraft er sie für den Angriff gegen den Zauberer nicht, denn dieser hatte die Situation selbst herbeigeführt.

Bald darauf fliegt ein Funke gegen den rechten Arm der Siebenjährigen, und das Fell beginnt an der Stelle zu glimmen. Beherzt schlägt Melvig, ein Telegrafist ihres Vater, mit seiner Uniformjacke auf die Stelle und löscht den Schwelbrand. Eva nennt ihn deshalb Funken. Eigentlich darf sie die Dienstbereiche auf dem Bahnhof nicht betreten, aber heimlich schleicht Eva sich immer wieder zu Funken und lässt sich von ihm das Morsen zeigen. Nachdem er ihr das Morsealphabet aufgeschrieben hat, lernt sie rasch damit umzugehen und versteht zu seinem Erstaunen allein durch Hören einlaufende Meldungen. Der Vater, der davon nichts wissen darf, ertappt sie, wie sie gedankenverloren mit einem Finger „Vater ist ein Elefant“ auf ein Häkeldeckchen morst. Daraufhin verbietet er ihr ausdrücklich, Funken am Arbeitsplatz zu besuchen. Kurze Zeit später erlaubt er allerdings, dass Funken in ihrem Zimmer einen Unterrichtstelegrafen aufstellt und anschließt. Damit kann sie mit Funken kommunizieren.

Funken findet, dass Eva sehr gut zeichnen und malen kann. Deshalb freut Eva sich in der Schule auf den Zeichenunterricht.

So funktioniert Unterricht. Unterricht funktioniert zum Beispiel so, dass man in der zweiten Stunde Zeichnen bei Fräulein Hadeland hat. Man holt seine Buntstifte heraus und freut sich ein klein wenig darauf, etwas zu tun, was man gut kann. Man könnte ja zum Beispiel Fräulein Hadeland zeichnen, oder etwas anderes Typisches im Klassenzimmer, den Globus vielleicht. Doch nein. Fräulein Hadeland will, dass man eine Katze zeichnet, obwohl hier keine Katzen sind (klar lachen die anderen ein bisschen), schon gar keine Katze, die sich auf dem Stationsgelände räkelt oder auf dem Gartenzaun liegt, einen weichen, geschmeidigen, welligen Strich von Tier, der ganz rasch, von einer Sekunde zur anderen, zu einem Ball werden kann oder zu einem gestreckten fliegenden Blitz aus Pelz und Krallen und Zähnen, nein, Fräulein Hadeland hat ein Rezept, wie man Katzen zu zeichnen hat, eine vorschriftsmäßige Katze sozusagen, also korrigiert sie freundlich, aber bestimmt die langen, luftigen Striche, zu denen man ansetzt, um sich daran zu erinnern, wie eine Katze aussieht, und zeigt einem stattdessen die Vorschriftskatze. (Seite 203)

Zweimal in der Woche nimmt Eva beim Kantor Ludwig Swammerdamm Musikunterricht. Sie liest viel, und Abraham Levin bringt ihr immer wieder neue Bücher vorbei.

Schließlich entdeckt Eva die Wonnen der Masturbation.

Nach ihrer Menarche reist Eva mit ihrem Vater nach Kopenhagen. Professor Dr. Johan Q. Strøm will die Dreizehnjährige auf dem XVI. Internationalen Weltkongress der Dermatologischen Wissenschaften vorstellen. Im Speisewagen glotzen der Kellner und andere Gäste sie an. Ihr Vater schämt sich, aber Eva meint ruhig: „Lass sie nur.“ Nach der Ankunft in Kopenhagen besucht Arctander mit ihr einen Zoo. Der Anblick des behaarten Mädchens reißt ein dösendes Schimpansen-Paar aus der Lethargie. Das Männchen fletscht die Zähne. Durch das aufgeregte Schreien und Hüpfen der Tiere wird ein kleiner Junge auf Eva aufmerksam, und er zeigt seinem Vater den „Affen in Frauenkleidern“. Am Abend führt Arctander seine Tochter in ein teures Restaurant aus.

Es war ein äußerst feines und kostspieliges Restaurant. So fein, dass eine Dame, als sie Eva bei deren Hereinkommen erblickte, fast ihn Ohnmacht gefallen wäre. (Seite 256)

Man weist ihnen den Katzentisch neben dem Durchgang zur Toilette zu. Aus Trotz bestellt Arctander eine teure Flasche Wein. Weil er das Hauptgericht zurückgehen lässt und lange auf Ersatz warten muss, bestellt er noch zwei Gläser Wein, nachdem er die Flasche ausgetrunken hat. Am Ende beschwert er sich lautstark über die Qualität des Essens, und es kommt zum Eklat.

Am nächsten Morgen wird Eva abgeholt und für zwei Nächte in ein Krankenhaus neben dem Kongressgebäude gebracht, während ihr Vater im Hotel bleibt. Strøm präsentiert Eva nackt auf dem grell erleuchteten Podium des Auditoriums. Einhundertzwölf Augenpaare glotzen sie aus dem Dunkeln an. Nach dem Vortrag des Professors wird sie in einen kleineren Hörsaal gebracht, wo die in drei Gruppen aufgeteilten Herren das seltsame Mädchen einzeln oder paarweise ansehen und betasten. Professor Dr. Lerchenfeld, der Oberarzt der Dermatologie im Krankenhaus, führt anschließend noch eine „gynäkologische Privatuntersuchung“ durch.

Als Eva nachts eine Toilette sucht, trifft sie auf dem Korridor auf einen schlaksigen Mann, dessen Körper wie der einer Echse mit Schuppen bedeckt ist.

Er hatte fast keine Haare auf dem Kopf, abgesehen von ein paar spärlichen Büscheln an Ohren und Schläfen. Kleine blaue, erschrocken blinzelnde Augen. Aber er hatte keine Haut. Statt Haut hatte er Schuppen, Schuppen wie eine Echse oder ein noch nie gesehenes Seetier, steife, harte, blanke Schuppen übers ganze Gesicht und überall sonst, soweit ich sehen konnte, Schuppen von einer gelbgrünen, kränklichen, widerwärtigen Farbe, und zwischen den Schuppen waren irgendwie Schründe, in denen Feuchtigkeit schimmerte, Blut oder Eiter. Seine Lippen waren ganz menschlich, doch fast lila, die Wimpern sehr lang, wie bei einem Mädchen. Doch es saß Schorf auf ihnen und auch auf den Lidern, das sah ich, wenn er zwinkerte. (Seite 271)

Er stammt aus dem böhmischen Dorf Dolni Vranov, heißt Andrej Bòr – oder auf deutsch Andreas Bauer – und ist sechsundzwanzig Jahre alt. Wie Eva wird er auf dem Kongress vorgeführt. Andreas ist Teil eines Kuriositätenkabinetts, mit dem der Besitzer Johannes Joachim von Jahrmarkt zu Jahrmarkt reist.

Als Arctander und seine Tochter wieder zu Hause sind, bekommt Eva von ihrem Vater ein Fahrrad geschenkt. Damit fährt sie gern zu einem flachen Felsen an einem abgelegenen Teich, wo sie sich vor den Mitschülern versteckt, die sie ständig hänseln und bedrohen. Um ihnen zu entkommen, schwänzt sie häufig die Schule. Arvid, der sich früher auch über sie lustig machte, beschützt sie inzwischen vor den anderen und sagt ihr, er finde sie hübsch. Nachdem er sie auf dem Felsen gefunden hat, zieht er sich aus und schwimmt. Begeistert ruft er aus dem Teich, bis Eva auch ihre Kleidung ablegt und ins Wasser springt. Aber sie kann nicht schwimmen und geht sofort unter. Arvid taucht sie herauf und zieht sie ans Ufer. Von da an treffen sie sich häufiger in ihrem Versteck, und Arvid bringt Eva das Schwimmen bei. Sie küssen sich, er ejakuliert in ihre Hand, und schließlich bringt sie ihn dazu, in sie einzudringen.

Gustav Arctander befolgt Dr. Levins Rat und fährt zur Kur. Eva nimmt er mit. An einem abgelegenen Strand, an dem sie nackt badet, begegnet Eva der fünfundfünfzigjährigen Malerin Eva Grjothornet, die ihr erzählt, dass sie zahlreiche Männer hatte, von denen sie sich Schönheitskuren bezahlen ließ, beispielsweise ein Feigenblattschneckenbad. Zur Zeit ist Ole Grjothornet an der Reihe, und er wird nicht der letzte sein.

„Schneckenbad?“
„Bäh, ja, es klingt nicht gerade verlockend, was? Aber ich kann dir versichern, es ist durchaus nicht unangenehm.“
„Und wie geht das? So ein Schneckenbad?“
„Ganz einfach. Dr. Lebedew-Kumatsch hat festgestellt, dass das Sekret der anatolischen Feigenblattschnecke äußerst vitalisierend auf Haut und Unterhaut wirkt […] Zur Anwendung wird die Patientin entkleidet und mit einer gleichmäßigen, dünnen Schicht aus gemahlenen Feigenblättern und Feigenrinde bestrichen. Dann legt sie sich in eine Badewanne voller anatolischer Feigenblattschnecken, die ihr Lieblingsfutter seit geraumer Zeit nicht mehr bekommen haben. Sie sind ungefähr zwei Zoll lang und ganz weiß. Dann liegt man da ein paar Stunden und lässt die Schnecken fressen. (Seite 315f)

Der Katechet, der die Konfirmanden unterrichtet, plant eine Aufführung für deren Eltern und Geschwister in Fredheim, die er „Programm“ nennt, weil ihm der Begriff Kabarett zu anstößig klingt. Dass die von allen umschwärmte langbeinige Konfirmandin Inger dabei mitmacht, steht von vornherein fest. Als der Katechet nach weiteren Freiwilligen fragt, meldet sich Arvid zu Evas Verwunderung. Arvid und Inger sollen ein verheiratetes Paar spielen, und bei den Proben sieht Eva, wie sich die beiden küssen. Ihre Eifersucht schlägt in Rachedurst um. Als die Konfirmanden ein Lied anstimmen, übertönt sie Inger und macht so den Katecheten auf ihre kräftige Stimme aufmerksam. Er ist begeistert und schlägt ihr vor, bei der Aufführung ein Solo zu singen. Eva bittet ihn, sie am Klavier zu begleiten und übt mit ihm zusammen. Damit verschafft sie sich die Möglichkeit, ihn zu verführen. Als Arvid sie – wie erhofft – in flagranti ertappt, beendet Eva ihre Teilnahme an den Vorbereitungen für das „Programm“. Aufgrund des Getuschels wird der Katechet im Jahr darauf nicht mehr für den Konfirmanden-Unterricht eingeteilt.

Johannes Joachim lädt zu einer „Vorstellung der menschlichen Vielfalt“ in Fredheim ein. Gustav Arctander besucht mit Eva die Veranstaltung. Sie sehen siamesische Zwillinge, einen Siebenundzwanzigjährigen mit zusätzlichen Kinderarmen und –beinen, die Liliputanerin Nicoline Federle und den Riesen Samson Grimson sowie „das menschliche Tier“ Arbora, eine angeblich aus dem Dschungel von Borneo (in Wirklichkeit aus Portugal) stammende Frau, die am ganzen Körper behaart ist. „So eine ham wer hier auch selber!“, ruft jemand aus dem Publikum. Da nimmt Arctander seine Tochter bei der Hand und verlässt mit ihr die Show.

Am nächsten Morgen belauscht Eva ihren Vater und einen Besucher: Johannes Joachim erklärt Arctander, er habe die Vorstellung in Fredheim nur angesetzt, um mit ihm über Eva zu reden. Sie würde in seiner Truppe reich werden, behauptet er, käme viel herum und wäre nicht länger einsam. Gustav Arctander lässt sich jedoch nicht überzeugen, Johannes Joachim seine Tochter anzuvertrauen.

Kurz darauf wird Eva im Dunkeln von vier Männern überfallen, die ihr gewaltsam mit einer Schere das Haar abschneiden und nicht aufhören, bevor sie ganz nackt ist.

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In seinem Roman „Das Löwenmädchen“ zeigt der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen (* 1965), wie eine Außenseiterin immer wieder ausgegrenzt und angefeindet wird. Ärzte präsentieren Eva nackt im Auditorium und geilen sich an ihrem Anblick auf, ohne sie als gedemütigtes Individuum wahrzunehmen. Für sie ist Eva nur ein interessanter „Fall“. Das ist ebenso würdelos wie die Show eines Kuriositätenkabinetts oder die Ausstellung von Tieren im Zoo. Erik Fosnes Hansen beschäftigt sich damit, wie das Löwenmädchen von anderen wahrgenommen wird und schildert einfühlsam, was Eva aus ihrer Perspektive erlebt. Sehr überzeugend stellt er auch ihren überforderten Vater dar. Der Roman „Das Löwenmädchen“ ist ein eindrucksvolles Plädoyer für Toleranz.

Der Prolog besteht aus einer collageartigen Szene in einem Kuriositätenkabinett auf einem Jahrmarkt. Die chronologisch erzählte Haupthandlung von „Das Löwenmädchen“ gliedert sich in drei Teile, in denen Eva als Säugling, dann als siebenjährige Schülerin und schließlich als Dreizehnjährige auftritt. Mehrmals, mitunter innerhalb einer Szene, wechselt Erik Fosnes Hansen zwischen der dritten und der ersten Person Singular. Auf diese Weise lässt er im Prolog eine betroffene Person und im Hauptteil die Protagonistin zu Wort kommen. Das macht er so geschickt, dass es nicht aufgesetzt wirkt. Erik Fosnes Hansen erzählt leichthin und ohne ambitionierte Stilexperimente, dafür farbig und lebendig, sprachlich elegant und mit großer poetischer Gestaltungskraft.

Die kluge Sprachvirtuosität von Fosnes Hansen teilt das Buch auch in erste und dritte Person. Als Eva im Wortsinne ihr Geschlecht entdeckt, dankt der bis dahin allwissende Erzähler ab und das erzählende Ich der jungen Frau übernimmt die Erzählung […]
Das Befremdliche, das Abnorme und beider Verhältnis zur Norm sind Grundlagen für zweierlei: für Trauer und für Gewalt. Die Geschichte vom Löwenmädchen (die auf norwegisch Löwenfrau heißt und man weiß nicht, was der bessere Titel ist) ist eine kluge, sprachlich brillante, traurige Parabel darüber. (Stephen Opitz, Süddeutsche Zeitung, 30. Mai 2008)

Menschen, die am ganzen Körper wie Tiere behaart waren – sogenannte „Haarmenschen“ oder „Affenmenschen“ – wurden früher als Kuriositäten an Fürstenhöfen gezeigt. Der Spanier Petrus Gonsalvus und seine um 1580 in Frankreich geborene Tochter Tognina Gonsalvus lebten zum Beispiel einige Zeit am Hof des französischen Königs Heinrich II. in Fontainebleau. Der italienische Arzt Ulisse Aldrovandi (1522 – 1605) beschrieb sie 1642 in seiner „Monstrorum Historia“. Nach ihnen heißt das Phänomen Gonsalvus Syndrom. Berühmt sind auch Julia Pastrana (1834 – 1860) und Lionel der Löwenmensch (1890 – 1932), die in Kuriositätenkabinetten auf Jahrmärkten herumgezeigt wurden.

Den Roman „Das Löwenmädchen“ von Erik Fosnes Hansen gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Anna Thalbach (Regie: Rudolf Würth, Freiburg i. B. 2008, 8 CDs, ISBN: 978-3-89964-278-0).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch

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