Lena Gorelik : Wer wir sind

Wer wir sind
Wer wir sind Originalausgabe Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021 ISBN 978-3-7371-0107-3, 317 Seiten ISBN 978-3-644-00878-6 (eBook) Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2022 ISBN 978-3-499-00528-2 Schulausgabe Ernst Klett Sprachen GmbH, Suttgart 2022 ISBN 978-3-12-666713-5, 320 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Vom 11. Lebensjahr an wächst Lena Gorelik in einem ihr (zunächst) fremden Land auf, während die Eltern, deren russische Ingenieur-Diplome in Deutschland nicht anerkannt werden, einen beruflichen Absturz hinnehmen müssen. Lena schämt sich für die Eltern, denen es im Vergleich zu ihr schwer fällt, die deutsche Sprache zu erlernen und sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Lena selbst wird in der Schule nicht nur als Migrantin, sondern vor allem auch als "Streberin" ausgegrenzt.
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Kritik

Lena Gorelik wechselt in ihrem feinfühligen autobiografischen Roman "Wer wir sind" zwischen Gegenwart und Vergangenheit elegant hin und her: zwischen der 39-jährigen Schriftstellerin, die über ihre Erfahrungen nachdenkt und den Erlebnissen des Kindes bzw. der Jugendlichen Lena. Erst als Erwachsene ist sie in der Lage, sich vorzustellen, wie ihre Eltern die Auswanderung von Russland nach Deutschland erlebten.
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Entwurzelung

Lena Gorelik ist elf Jahre alt, als die Eltern am 2. Mai 1992 mit ihr, ihrem neun Jahre älteren Bruder und ihrer Großmutter als jüdische Kontingentflüchtlinge Sankt Petersburg verlassen. Die Entscheidung traf der Vater, als er einige Monate zuvor als „Drecksjude“ beschimpft worden war. Die Goreliks fahren mit dem Zug nach Berlin und weiter über Stuttgart nach Ludwigsburg, wo sie in in einer von mehreren Holzbaracken mit einer einzigen Dusche für 60 Personen untergebracht werden.

Den Westen hat Lena sich bunt vorgestellt. Sie nimmt zum ersten Mal den Geruch von Laugengebäck wahr, staunt über einzeln verpackte Käsescheiben, lernt, dass auf einem Flohmarkt keine Flöhe angeboten werden und Vokale anders als im Russischen mal kurz, mal lang gesprochen werden, zum Beispiel im Wort Ofenkartoffel, und sie wundert sich darüber, dass sie als Mädchen sächlich geworden ist.

Die Schuldirektorin hat für Lena eine Klasse mit Migrantenkindern vorgesehen, aber Frau Gorelik setzt ihr entschlossen zu, bis Lena probeweise in eine „normale“ Klasse darf, obwohl sie noch kein Deutsch kann. Die Elfjährige, die im Alter von drei Jahren Schachspielen und ein Jahr später Lesen lernte, eignet sich die Sprache jedoch rasch an – und wundert sich über die Moderatorinnen und Moderatoren der Tagesschau, die so ganz anders sprechen, bis sie den Unterschied zwischen Schwäbisch und Hochdeutsch begreift.

Die deutsche Sprache habe ich mit den Ohren aufgesaugt, ein Wort nach dem anderen, auf der Zunge gekostet, geschmeckt, gefaltet, abgelegt, zum sorgfältig ausgesuchten Zeitpunkt hervorgeholt wie ein schönes Kleidungsstück zu Feiertagen.

Als Lena zur Klassenbesten avanciert und später eine Klasse überspringt, wird sie von den Mitschülerinnen und -schülern als „Streberin“ gemobbt.

Anita, eine unverheiratete 33-Jährige, die mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und dessen Familie einen Bauernhof betreibt und nebenher Taxi fährt, nimmt ein paar Kinder aus der Flüchtlingsunterkunft eine Woche lang auf. Dort erlebt Lena zum ersten Mal, was Badeschaum ist. Auch einige Wochenenden verbringt sie auf der „Farm“, wie sie es nennt. Als die Eltern merken, dass Anita Lena fürs Christentum gewinnen möchte, fahren sie mit ihr nach Stuttgart und sorgen dafür, dass sie pro Woche einmal Unterricht in der Synagoge erhält. Ein Jahr später feiert Lena ihre Bat Mizwa.

Nach eineinhalb Jahren können die Goreliks von der Baracke in eine eigene Wohnung umziehen.

Mein Haus fällt. Das graue, langgezogene Haus, in dem ich aufgewachsen bin. In meiner Heimat waren graue Hochhäuser Geborgenheit, Gemeinschaft und Gefühl, und da, wo ich jetzt zu Hause bin, werden ihnen sozialer Abstieg, Kriminalität und Trostlosigkeit angedichtet, sie sind ein Symbolbild der inhumanen Städteplanung im Osten. Das eine fühlte ich, das andere weiß ich und bin mir nicht sicher, ob es ein Auf- und oder ein Abstieg ist, vom Fühlen zum Wissen. Mein Haus jedenfalls fällt auf mich zu, fällt, kommt niemals an. Wenn ich in den Himmel schaue, über das Hochhaus hinweg, dem ich erst in Deutschland das Hoch anhänge, weil für mich alle Häuser so aussehen: quaderförmige Blöcke, die in den Himmel wachsen und fallen können. Grau sind sie oder gelb, blassgrün gestrichen und verblichen, sechs, neun, zwölf, sechzehn Stockwerke hoch, Eingang eins, Eingang fünf, Eingang neun, Spielplätze zwischen ihnen, die alle gleich aussehen, wie die Häuser, wie die Leben der Menschen darin. Wenn ich hoch in den Himmel sehe, über den Wolken ziehen, als hätten sie pünktlich irgendwo zu sein, beginnt das Haus zu fallen, fällt auf mich zu. Schwindel im Kopf, ich blicke auf meine Füße, rote Schuhe, aber vielleicht malen wir uns die Vergangenheit nur gerne in Farben aus, weil wir diese Vorstellung haben, dass Kindheit bunt sein muss, farbenfroh. Vielleicht hatte ich ja blaue oder schwarze Schuhe. Ich blicke wieder nach oben, kann nicht aufhören, dem Haus beim Fallen zuzusehen, obwohl mir schwindelig ist. Im kleinen Fenster zwischen dem sechsten und siebten Stock wird später der Kopf meiner Mutter zu sehen sein. „Lena!“, wird sie schreien, damit ich sie im Hof, auf dem Spielplatz höre, „иди домой! Ужин!“

Dass die Großmutter in Sankt Petersburg eine Textilfabrik leitete, zählt in Deutschland ebenso wenig wie die Ingenieurdiplome der Eltern. Der Vater wird von einer Zeitarbeitsfirma unter Vertrag genommen und muss sich auf ständig wechselnde Einsatzorte einstellen. Die Mutter schult zur Buchhalterin um, findet mit Ende 40 aber zunächst nichts anderes als eine Putzstelle und kann erst nach Monaten bei der Sparkasse als Buchhalterin anfangen.

Wer wir sind

Lena Gorelik erreicht beim Abitur einen Notendurchschnitt von 1,1. Sie absolviert eine Ausbildung zur Journalistin in München, studiert dann an der Ludwig-Maximilians-Universität und wird Schriftstellerin.

Die Tochter, ohne richtige Arbeit […]. Das ist vermutlich, was mein Vater denkt. Also ja, sie schreibt Bücher, aber was ist denn mit richtiger Arbeit, und was ist denn mit den Notwendigkeiten des Lebens, dem Geld. Sie hat noch nichts über die Pflichten im Leben verstanden und dass das Leben kein Spaß ist, diese Tochter, die im schlimmsten Fall sogar Bücher schreibt, in denen sie vorkommen, die Eltern. Sie hat immer noch nicht gelernt, im richtigen Moment zu schweigen.[…]
„Willst du nicht mal einen schwedischen Krimi schreiben, die verkaufen sich so gut“, fragte einmal mein Vater.

Im Alter von 39 Jahren schreibt Lena Gorelik ihren autobiografischen Roman „Wer wir sind“.

Das ist meine Geschichte.
Ich schreibe sie auf, in der Sprache, die mir am besten gehorcht. Ich schreibe Worte auf, verletze Menschen, weiß Liebe, spüre Respekt, streiche weg, gehe zurück, bleibe stehen. Murmle Entschuldigung, zwischen die Zeilen hinein. Tippe Buchstaben, sortiere Worte, habe Angst vor Fragen, vor denen, die ich liebe, vor dem, was ich schreiben könnte, ordne Worte an. Die Worte beugen sich ächzend. Das ist meine Geschichte, tippe ich, Buchstabe für Buchstabe, trotzig.

Ich schreibe meine Geschichte auf, Buchstaben, Worte, Sätze, in der Übersetzung geht mir die Hälfte verloren, vor allem die Hälfte Gefühl. Lasse alles weg, was ich nicht ertrage, staune über die Mengen. Schütze mich selbst und werfe anderen vor, dass ich sie zu schützen versuche. Frage nicht mehr, wem die Geschichte gehört. Wir haben nichts mitgebracht, was wir gebrauchen können, im guten, alten Sinne des Wortes, ein paar Bilder, ein paar Bücher, diese Geschichten. Die schleppen wir jetzt, oder wir werden von ihnen getragen.

Unsere Erinnerungen legen wir uns zurecht in erzählbare Geschichten.

Я heißt: ich. Ausgesprochen: ja.
Ich heißt auf Russisch Я, ein Buchstabe nur. Der letzte im Alphabet. So wurden wir auch groß und erzogen:
„Я – последняя буква в алфавите.“
„Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet.“
Das hat dann jedes
ich will
ich mag
ich muss
ichichich
mit einer Faust erschlagen. Die Ordnung der Buchstaben, die uns Kindern den Egoismus austrieb, in aller Seelenruhe.
Ich erinnere mich, meistens leise.
„Ich will aber …“
„Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet.“
Ich will aber: diese Geschichte erzählen. Ich wünsche, dass diese Geschichte mir gehört.
[…] Jetzt versuche ich, es den Kindern weiterzugeben. […] Auf Deutsch bringe ich ihnen bei, die Stimme auch für sich selbst zu erheben.
Я heißt: ich.
Wie die Erinnerung manchmal das Jetzt übertönt. Wie sie sich über alles legt, wie ein Dickicht aus Verletzungen, Mustern und Fragen. Wie ich nicht mehr weiß, wer ich wurde und wann. Und ich dennoch beginne zu erzählen. Und mich erinnere, an diesen Satz,
„Я ist der letzte Buchstabe im Alphabet“,
wie ich mich erinnere, leise, an alles.

Auf einer Lesereise verabredet sich Lena Gorelik mit ihren Eltern für ein kurzes Wiedersehen am Bahnhof. Als sie ihre Eltern nach längerer Zeit mit einem Besuch überrascht, eilen die beiden aus der Mietwohnung herunter, um die Tochter und die beiden Enkel zu begrüßen. Umarmen dürfen sie sich allerdings wegen der Corona-Pandemie nicht.

Die Geschichte meines Bruders, der mit neun noch seine Kuscheltiere brauchte, in einem Land, in dem Jungen zu Männern werden müssen, in dem „Du wirst doch nicht weinen, du bist doch kein Mädchen“ einer der wichtigsten Sätze der Erziehung von Jungen ist. Jetzt sehen meine Eltern ihre Enkelsöhne, beide mit langen Haaren, einen davon im Kleid. Sehen sie an, es dauert, dann sagt irgendwann mal mein Vater: „Sieht schon gut aus, diese langen Haare, das steht ihm.“ – „Nur sehen kann er nichts mit den langen Haaren“, fügt meine Mutter hinzu. Ich frage nicht mehr, warum sich niemand beschwert, dass Mädchen mit langen Haaren nichts sehen können.

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In ihrem autobiografischen Roman „Wer wir sind“ veranschaulicht Lena Gorelik, was es bedeutet, vom elften Lebensjahr an in einem (zunächst) fremden Land aufzuwachsen, während die Eltern, deren russische Ingenieur-Diplome in Deutschland nicht anerkannt werden, einen beruflichen Absturz hinnehmen müssen. Lena schämt sich für die Eltern, denen es im Vergleich zu ihr schwerfällt, die deutsche Sprache zu erlernen und sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Lena selbst wird in der Schule nicht nur als Migrantin, sondern vor allem auch als „Streberin“ ausgegrenzt. Aber sie erkämpft sich Respekt und setzt sich mit ihrer Entwurzelung und Mehrfach-Identität auseinander.

Nach dem Abitur, der Journalistenschule und dem Studium arbeitet Lena Gorelik erfolgreich als Journalistin, Autorin und Schriftstellerin – alles in deutscher Sprache.

Ein zentrales, mehrfach aufgegriffenes Thema ihres feinfühligen Romans „Wer wir sind“ ist die Auswahl von Erinnerungsstücken und Habseligkeiten, das Sammeln und Aufbewahren. Das bezieht sich auch auf die Kollektion von Gedanken und Miniaturen in diesem Buch.

Lena Gorelik wechselt in „Wer wir sind“ zwischen der 39-jährigen Mutter von zwei Söhnen, die über ihre Erfahrungen nachdenkt und den Erlebnissen des Kindes bzw. der Jugendlichen Lena elegant hin und her. Erst als Erwachsene ist sie in der Lage, sich vorzustellen, wie ihre Eltern die Auswanderung erlebten.

Ein Großteil des Romans steht im Präsens, und Lena Gorelik hat den deutschen Text mit russischen Wörtern und Sätzen gespickt.

Den Roman „Wer wir sind“ von Lena Gorelik gibt es auch in einer Schulausgabe. Und Claudia Schulte hat dazu ein Lehrerhandbuch verfasst (ISBN 978-3-12-666716-6).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Rowohlt Berlin Verlag

Lena Gorelik (kurze Biografie)

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