Stefan Heym : Ahasver

Ahasver
Ahasver Originalausgabe: München 1981 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1992 ISBN 3-596-11206-0, 244 Seiten btb, München 2005 ISBN 978-3-442-73357-6, 263 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am sechsten Schöpfungstag werden Ahasver und Luzifer von Gott verstoßen. Weil Ahasver Jesus auf dem Weg nach Golgatha die erbetene Rast verwehrt, verdammt dieser ihn dazu, auf ihn zu warten. In mehreren Epochen lehnt Ahasver sich gegen die bestehenden Ordnungen auf und spielt dabei mit Luzifer zusammen, bis er 1980 durch Jesus erlöst wird. Aus Zorn über die misslungene Schöpfung erhebt Jesus sich mit Ahasver gegen seinen Vater ...
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Kritik

In 19 Kapiteln, die nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Ballade mit einer Kurzzusammenfassung beginnen, entwickelt Stefan Heym seine intelligente und satirische Geschichte: "Ahasver".
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Wir stürzen.
Durch die Endlosigkeit des oberen Himmels, des feurigen, der aus Licht ist, aus dem gleichen Licht, von dem unsere Kleider gemacht waren, deren Glorie von uns genommen wurde, und ich sehe Luzifer in all seiner Nacktheit, und in seiner Hässlichkeit, und mich schauert.
Bereust du?, sagte er.
Nein, ich bereue nicht. (Seite 5)

So beginnt Stefan Heym seinen Roman „Ahasver“.

Luzifer und Ahasver werden am sechsten Schöpfungstag von Gott verstoßen, weil sie sich weigern, Adam zu huldigen.

Beim letzten Abendmahl versucht Ahasver, Reb Joshua (hebräische Bezeichnung für Jesus) zu überreden, etwas zu unternehmen und seinen Jünger Judas Iskariot als Verräter zu entlarven, aber der Rabbi tut nichts dergleichen. Dafür, dass auch Ahasver nichts verriet, verlangt er beim Abschied von Judas einen der dreißig Silberlinge, die dieser für den Verrat erhalten hatte.

Am nächsten Tag schleppt Reb Joshua sich mit der Dornenkrone und dem schweren Kreuz auf der Schulter durch Jerusalem. Vor Ahasvers Haus möchte er kurz rasten. Ahasver verspürt Mitleid mit dem Rabbi und und flüstert ihm zu, er habe ein Schwert in seinem Gewand versteckt. Reb Joshua lehnt es jedoch ab, gerettet zu werden; er hat beschlossen, den von seinem Vater im Himmel vorgegebenen Weg weiterzugehen.

Da ergriff mich der Zorn ob so viel Starrsinns, und ich stieß ihn von mir und rief: Pack dich, du Narr! Glaubst du, den da oben kümmert’s, wenn sie dir die Nägel treiben werden durch deine Hände und Füße und dich stückweise absterben lassen am Kreuz? Er hat doch die Menschen gemacht, wie sie sind, und da willst du sie wandeln durch deinen armseligen Tod?
Und ich sehe noch, als wär’s heute, das Gesicht des Rabbi, wie es fahl wird unter den Blutstropfen und höre ihn sagen: Der Menschensohn geht, wie geschrieben steht nach dem Wort des Propheten, du aber wirst bleiben und meiner harren, bis ich wiederkehre. (Seite 96)

Bei einer späteren Begegnung fragt Ahasver Gott:

Was ist wirklich, die GOttähnlichkeit des Menschen oder die Menschenähnlichkeit GOttes? […]
Und GOtt sprach: Ich habe dich geschaffen am zweiten Tag, und nicht aus Staub wie den Menschen, sondern aus Feuer und dem Hauch des Unendlichen. Das aber gibt dir noch lange nicht das Recht zu deiner jüdischen Frechheit.
Ich aber sagte: Man wird doch noch fragen dürfen, HErr. Du hast mich verstoßen am sechsten Tag um die dritte Stunde und hast mich verdammt, die Tiefen zu durchwandern bis zum Jüngsten Tag, und dann kam Dein Sohn auf dem Weg nach Golgatha und verdammte mich desgleichen. War einmal denn nicht genug? (Seite 100f)

Ein Zeitsprung von eineinhalb Jahrtausenden: Paulus von Eitzen stattet im Auftrag seines Vaters Reinhard von Eitzen, einem Tuchhändler aus Hamburg, seiner Tante in Augsburg einen Besuch ab und reist dann weiter nach Wittenberg, um dort an der theologischen Fakultät zu studieren. Als er im Gasthof „Zum Schwan“ in Leipzig übernachtet, lernt er einen seltsamen Fremden kennen, der sich ihm bei der Weiterreise anschließt. Von Eitzen gibt keine Ruhe, bis sein Reisegefährte sich vorstellt: Hans Leuchtentrager. Er sei der Sohn des Augenarztes Balthasar Leuchtentrager aus Kitzingen am Main und dessen Ehefrau Anna Maria, behauptet er. Weil sein Vater aufrührerische Reden gehalten und mit dem aus der Gruft geholten Schädel der Heiligen Hadelogis gekegelt hatte, ließ Markgraf Casimir ihm und sechzig anderen Unruhestiftern die Augen ausstechen. An den Verletzungen starb Balthasar Leuchtentrager noch vor der Geburt seines Sohnes. Seine schwangere Frau zog nach Wittenberg und starb gleich nach der Niederkunft. Ihr Sohn wurde dort von dem Wundarzt Anton Fries und dessen Frau Elsbeth aufgezogen. Von klein auf hinkt Hans Leuchtentrager, und er hat einen Buckel.

Von Eitzen erhält von seinem neuen Freund ein Zimmer in dessen Haus und studiert bei Philipp Melanchthon sowie anderen Lutheranern. Obwohl er in Hamburg mit Barbara Steder, der Tochter eines Schiffsmaklers, so gut wie verlobt ist, begehrt er Magriet, die Magd seines Gastgebers.

[…] Hausmagd Margriet, die ihm das Frühstück bringt und die Hemden auswäscht und das Bett räuchert, wenn der Läuse und Wanzen darin zu viele werden. Danach hat er wohl Ruhe vor dem Ungeziefer, nicht aber von seinen Gedanken, die früh und spät um die Schultern und Brüste und Schenkel und um den Hintern der Margriet kreisen. (Seite 29)

Eines Tages nimmt Leuchtentrager ihn mit zu einem Essen bei Philipp Melanchthron, an dem auch Martin Luther mit seiner Frau Katharina, Lukas Cranach und andere Persönlichkeiten teilnehmen. Luther hetzt im Verlauf des Abends gegen die Juden:

„Ich will euch meinen treuen Rat geben: erstlich, dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke und ihnen nehme ihre Betbüchlein und Talmudisten und ihren Rabbinen verbiete zu lehren, und zum anderen, dass man den jungen starken Jüden in die Hand gebe Flegel, Axt und Spaten und sie arbeiten lasse im Schweiß ihrer Nasen; wollen sie’s aber nicht tun, so soll man sie austreiben mitsamt ihrem ewigen Jüden, haben sich alle versündigt an unserm Herrn Christus und sind so verdammt wie jener Ahasver.“ (Seite 35)

Als Leuchtentrager und von Eitzen nach Hause kommen, ertappen sie Margriet dabei, wie sie lachend auf dem Schoß eines Juden sitzt, der ihre nackten Brüste „betascht und befondelt“. Achab nennt sich der Jude. Am nächsten Morgen sind er und Margriet fort.

Einige Zeit später erfährt von Eitzen, dass sein Vater im Sterben liegt. Um so rasch wie möglich nach Hamburg reisen zu können, möchte er sich trotz seiner Prüfungsangst vorzeitig examinieren lassen. Leuchtentrager beruhigt ihn:

„[…] frisch drauflos geschwatzt, die ganze Theologie ist doch nur ein Wortgeklaub und irgendein Spruch passt immer.“ (Seite 52)

Wie von Leuchtentrager vorhergesagt, wird von Eitzen über die Engel befragt. Ohne dass er selbst viel darüber wüsste, sprudelt er Antworten, die ihm von irgendwo zufliegen und verblüfft die Anwesenden mit außergewöhnlichen Kenntnissen. Mit dem Magister-Titel und einem Empfehlungsschreiben Martin Luthers an den Hauptpastor Aepinus zu St. Petri in Hamburg verlässt er Wittenberg. Leuchtentrager behauptet, ebenfalls in Hamburg zu tun zu haben und begleitet ihn.

In Helmstedt beobachten sie eine Frau, die in türkischer Kleidung vor einer Kirche auf einem hölzernen Podest steht und zur Menge spricht: Sie gibt sich als Helena, die Lieblingstochter des Fürsten von Trabzon, aus und behauptet, ihre Eltern verlassen und auf den Luxus verzichtet zu haben, weil ihr in der Nacht vor ihrem achtzehnten Geburtstag der ewige Jude Ahasver erschienen sei. Dem folge sie seither und helfe ihm, die Leiden Jesu Christi zu bezeugen. In diesem Augenblick tritt ein Jude im Kaftan neben sie. Von Eitzen glaubt, die beiden zu kennen: Es sind die Magd Margriet und ihr jüdischer Liebhaber! Er schreit, es handele sich um Betrüger, die den Zuhörern nur das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Damit löst er einen Tumult aus, aber der Jude spricht zum Publikum:

„’s ist schon einmal einer verleugnet worden von einem, der’s hätt besser wissen müssen. Ich aber sage euch, so wahr ich der ewige Jude bin, Ahasver geheißen, und von dem Rabbi verflucht, weil ich ihn von meiner Tür gewiesen, da er bei mir ausruhen wollte unter der Last seines Kreuzes, so wahr wird der goldene Hahn dort oben auf dem Turm dreimal krähen, bevor der Blitz Gottes herabfährt.“ (Seite 93)

Und tatsächlich ist das Krähen des Wetterhahns zu hören. Da packt Leuchtentrager seinen Freund am Handgelenk und zerrt ihn fort, damit er nicht von der aufgebrachten Menge erschlagen wird.

Nach seiner Ankunft in Hamburg tritt Paul von Eitzen ans Sterbebett seines Vaters, der sich vor dem Tod fürchtet.

„Angst“, sagt er, „ich habe Angst vor dem Nichts. Früher, bei den Papisten, da herrschte gute kaufmännische Ordnung, so viele silberne Pfennige Hamburgsch für so viele Jahr Ablass vom Fegefeuer und anderen Plagen, und war verbrieft vom Heiligen Vater selber. Aber jetzt, nachdem dein Herr Doktor Luther dagegen gewettert? Wer ist jetzt, der mir’s geben kann mit Brief und Siegel, dass es weitergeht nach dem Tode, oder aber am Tag der Auferstehung, da die mürben Knochen sich wieder zusammenfügen und das verrottete Fleisch sich beseelen und die toten Augen sich auftun sollen, den Glanz und die große Pracht zu sehen? Wer garantiert’s, und welcher Jüd leiht mir auch nur einen Groschen darauf?“ (Seite 102)

Um seinen Vater zu beruhigen, erzählt Paul von Eitzen, er habe Ahasver getroffen, den ewigen Juden, der bezeugen könne, dass Jesus Christus den Opfertod erlitten habe. Reinhard von Eitzen will Ahasver unbedingt sprechen. Sein Sohn soll ihn herbeischaffen. Das bringt den frischgebackenen protestantischen Geistlichen gehörig in Verlegenheit, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, der inzwischen von Hauptpastor Aepinus die Sterbesakramente bekommt. Bevor Aepinus damit fertig ist, kommt Paul von Eitzen mit dem Juden. Sowohl seine Mutter Anna als auch seine Geschwister Dietrich, Martha und Magdalena sind entsetzt über den Frevel, und der Pastor rauft sich die Haare, kann es nicht fassen, dass so jemand an der theologischen Fakultät in Wittenberg zum Magister gemacht wurde. Ahasver kümmert sich nicht um die Aufregung und versucht, den Sterbenden zu trösten.

Soll von Eitzen die ebenso dürre wie prüde Barbara Steder heiraten? Die Mitgift könnte er gut gebrauchen, weil ihm der Hauptpastor wegen des Vorfalls mit dem Juden noch immer keine Pfründe anvertraut hat, aber er muss immer wieder an Margriet denken. Leuchtentrager, der merkt, was mit seinem Freund los ist, sorgt dafür, dass die Verlobten zusammen mit ihm von Ahasver eingeladen werden. Ahasver und Margriet sind fein herausgeputzt; sie nennen sich jetzt Sir Ahasver und Lady Margaret. Während von Eitzen neben Lady Margaret platziert wird, sitzt Leuchtentrager neben Barbara, und das gibt diesem die Möglichkeit, die junge Frau so zu betören, dass sie im Anschluss an eine Art Vermählungszeremonie mit gespreizten Beinen ihren Gatten erwartet. Während die Ehe vollzogen wird, glaubt Paul von Eitzen, es mit Margriet zu treiben, und Barbara scheint ihn mit seinem Freund zu verwechseln. – Am anderen Morgen erwacht das Paar in der schäbigsten Herberge vor der Stadt, ohne zu wissen, wie es dort hinkam.

Bösartige Gerüchte über angebliche Ausschweifungen in einer verrufenen Herberge und die Abneigung des Hauptpastors bringen Paul von Eitzen dazu, mit seiner inzwischen auch offiziell angetrauten Frau nach Rostock zu ziehen, aber es gelingt ihm auch dort nicht, eine angemessene Stelle zu bekommen, und sie kehren nach Hamburg zurück, wo Barbara bald darauf eine Tochter zur Welt bringt, die den Namen Margarethe erhält und von ihrer Mutter über alles geliebt wird, obwohl sie „ein Puckelchen und ein Hinkefüßchen“ hat.

Barbara von Eitzen ahnt nicht, welches Schicksal Margarethe bevorsteht. Sie wird den herzoglichen Amtsschreiber Wolfgang Kalund heiraten, mit ihm zusammen ihren Schwiegersohn Claus Esmarch, den Bürgermeister von Apenrade, ermorden und deshalb 1610 hingerichtet werden.

Paul von Eitzen schlägt sich als Hilfsprediger am Dom durch, bis Superintendent Aepinus stirbt und er – nachdem ihm die theologische Fakultät der Universität Wittenberg den dafür erforderlichen Doktorhut verliehen hat – die Nachfolge antritt.

Einige Zeit später lädt Herzog Adolf ihn auf sein Schloss Gottorp ein. Dort trifft Paul von Eitzen seinen Freund Leuchtentrager wieder, der es hier inzwischen zum Geheimen Herzoglichen Rat gebracht hat. Der Herzog ernennt seinen Besucher auf der Stelle zum Superintendenten und beauftragt ihn, in Schleswig das Reich Gottes zu errichten. Während der Audienz kann Paul von Eitzen den Blick nicht von einer der Gespielinnen des Herzogs lösen: Gräfin Ehrentreu erinnert ihn an Margriet. Am nächsten Tag, als das herzogliche Heer in den Krieg zieht, taucht prompt auch Ahasver auf, diesmal als Fähnrich, und die Gräfin Ehrentreu bzw. Margriet sitzt auf dem Marketenderwagen. Ungeachtet seiner Stellung rennt Paul von Eitzen dem Wagen hinterher und fleht Margriet an, bei ihm zu bleiben, aber sie verlacht ihn:

„Ich kenn den Kerl nicht, aber ihr hört ja, was er von mir will. ’s ist wahrhaftig eine schlimme Zeit, wenn sogar die Herren Pfarrer am helllichten Tag schon geil sind wie die Ziegenböck und sich auf die unschuldigen Weiber stürzen.“ (Seite 176)

Einige Jahre vergehen. Von Eitzen schreitet gegen Ketzer ein. Unmittelbar vor einem Urteilsspruch tritt Ahasver in Gestalt eines niederländischen Ketzerpredigers ein, an seiner Seite eine verschleierte Frau, in der von Eitzen Margriet erkennt. Als der Superintendent die Büttel des Herzogs auffordert, das Paar zu ergreifen, zieht Ahasver seinen Degen und es kommt zum Kampf. Plötzlich wirft Margriet sich zwischen ihren bereits mehrfach verwundeten Begleiter und einen zustechenden Büttel, der sie tödlich trifft. Da verwandelt sie sich in einen Strohbund wie ihn die Bauern als Vogelscheuche aufstellen. Ahasver wird abgeführt.

Herzog Adolf von Gottorp verurteilt Ahasver zum achtmaligen Spießrutenlauf. Paul von Eitzen denkt, dass es sich nun erweisen wird, ob der Jude nicht doch bloß ein Aufschneider ist. Zwei Reihen von je hundert Soldaten bilden eine Gasse. Hinter je zwei Männern steht ein Korporal, der aufpasst, dass sie mit den ausgeteilten Ruten auch kräftig zuschlagen. Bereits beim ersten Mal wird Ahasvers Rücken von den zweihundert Hieben zerfetzt; bald werden die Knochen zu sehen sein. Nach dem zweiten Durchlauf geht er vor dem Superintendenten in die Knie und bittet um eine Verschnaufpause, aber von Eitzen verweigert ihm jede Gnade und erinnert ihn daran, dass er Jesus Christus verjagte. Bevor Ahasver zum dritten Mal durch das Spalier getrieben wird, verflucht er den unbarmherzigen Geistlichen:

„Verflucht seid Ihr, Paulus von Eitzen, und der Teufel wird Euch holen, so sicher, wie Ihr mich hier vor Euch seht, und ich werde dabei sein, wenn er kommt, Euch mitzunehmen.“ (Seite 207)

Beim achten Spießrutenlauf bricht Ahasver tot zusammen.

Jahre danach erhält von Eitzen Besuch: Leuchtentrager erinnert ihn daran, was mit Ashaver geschah, und der Superintendent meint noch einmal, wenn es sich tatsächlich um den ewigen Juden gehandelt hätte, wäre er jetzt nicht tot. Da bringt seine Tochter ein drittes Weinglas für einen soeben eingetroffenen weiteren Gast herein: Ahasver! Hans Leuchtentrager beruhigt Paul von Eitzen:

„Ängstige dich nicht, Paul, was kommt, kommt, und du bist nicht der Erste, und wirst auch nicht der Letzte sein, den der Teufel holt.“ (Seite 235)

Endlich begreift von Eitzen, dass Leuchtentrager niemand anderes als Luzifer ist. Als Margarethe wieder ins Zimmer kommt, findet sie ihren Vater tot vor. Die Besucher sind weg. Ahasver und Luzifer waren mit von Eitzens Seele durch den Kamin hinausgefahren.

Unter dem Datum vom 19. Dezember 1979 schreibt Jochanaan Leuchtentrager von der Hebrew University in Jerusalem einen Brief an Prof. Dr. Dr. h. c. Siegfried Beifuß, den Leiter des Instituts für wissenschaftlichen Atheismus der DDR in Berlin. Darin bezieht er sich auf dessen Buch „Die bekanntesten judaeo-christlichen Mythen im Lichte naturwissenschaftler und historischer Erkenntnisse“, besonders auf das Kapitel „Über den Ewigen (oder Wandernden) Juden“, und teilt mit, er könne den real existierenden Ahasver bezeugen, der in der Via Dolorosa ein Schuhgeschäft betreibe. Beifuß kennt Leuchtentragers Veröffentlichung „Ahasver, Dichtung und Wahrheit“ in den Hebrew Historical Studies, aber in seinem Antwortschreiben bezweifelt er, dass es sich bei dem Inhaber des Schuhladens um ein zweitausend Jahre altes Individuum handelt, denn sonst hätten sich längst die sensationslüsternen westlichen Medien auf ihn gestürzt. Leuchtentrager schickt seinem Kollegen drei Fotos von Ahasver und teilt ihm das Ergebnis einer eigens von ihm initiierten gerichtsmedizinischen Untersuchung mit: Der Schuhverkäufer hat die Konstitution eines Mannes von etwa vierzig Jahren, aber in seinem Blut stießen Prof. Chaskel Meyerowicz und Dr. Chaim Bimsstein auf Spuren radioaktiver Stoffe mit einer Halbwertszeit von mindestens zweitausend Jahren. Am 14. Februar 1980 schreibt Beifuß zurück:

Prinzipiell möchte ich Ihnen versichern, dass wir in der DDR überhaupt nicht an Wunder glauben, ebensowenig wie an Geister, Gespenster, Engel oder Teufel. (Seite 48)

Die Fotos bewiesen gar nichts, meint Beifuß, und die zweitausend Jahre alten Partikel könnten über die Nahrungsaufnahme und den Magen-Darm-Trakt in das Blut dieses Mannes geraten sein.

Schließlich unterrichtet Beifuß seinen israelischen Briefpartner davon, dass Dr. phil. Wilhelm Jaksch – ein Mitglied seines Kollektivs – in einer Ausgabe der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte aus dem Jahr 1951 auf einen Aufsatz mit dem Titel „War der Ewige Jude in Hamburg?“ gestoßen sei. Der Autor, ein gewisser Paul Johansen, bezieht sich auf ein 1602 bei Rhode in Danzig gedrucktes Volksbüchlein, demzufolge ein Paul von Eitzen die Anwesenheit des ewigen Juden im Winter 1547 in Hamburg bezeugt hatte. Leuchtentrager antwortet, er habe Ahasver darauf angesprochen, und der könne sich gut an von Eitzen erinnern. Der protestantische Geistliche sei kein angenehmer Mensch gewesen, sondern beschränkt, von sich selbst eingenommen, ehrgeizig und intrigant.

Der Briefwechsel zwischen Berlin und Jerusalem geht weiter. Schließlich drückt Leuchtentrager seine Sorge darüber aus, dass Beifuß sich offenbar auf das Phänomen Ahasver fixiere.

Am 10. September 1980 schreibt Leuchtentrager aufgeregt, Ahasver habe Reb Joshua wiedergesehen. Der Rabbi habe sich blutüberströmt und in einem zerfetzten Gewand durch die Via Dolorosa geschleppt und Ahasver darum gebeten, im Schatten seines Hauses rasten zu dürfen. Dieser habe ihn jedoch diesmal hereingebeten und ihn in den schattigen Patio geführt. Das angebotene Glas Wein habe Reb Joshua ebenso abgelehnt wie die Coca Cola, aber einen Schluck Wasser dankend angenommen und seine Wunden säubern lassen. Ahasver weiß nicht, wer Reb Joshua so zugerichtet hatte: die israelische Militärpolizei, arabische Terroristen oder irgendwelche Strolche. Aufgrund des Wiedersehens mit dem Rabbi rechnet Ahasver nun mit seiner Erlösung, also mit seinem Tod. Vorher möchte er noch mit Leuchtentrager zusammen Beifuß in Berlin besuchen.

Am Silvestermorgen erfährt Wilhelm Jaksch zu seiner Überraschung, dass Beifuß die beiden Herren aus Jerusalem erwartet und allein mit ihnen sprechen will. Am Abend kommen Ahasver und Leuchtentrager zu der Silvesterparty von Siegfried Beifuß, dessen Ehefrau Gudrun, ihren beiden Kindern und den Mitgliedern des wissenschaftlichen Kollektivs, aber der Hausherr zieht sich auch hier mit seinen israelischen Gästen ins Arbeitszimmer zurück. Beim Anstoßen um Mitternacht vermisst Gudrun Beifuß ihren Mann. Er ist ebenso wie die beiden Besucher verschwunden. In der Außenwand klafft ein Loch, dessen Ränder verkohlt sind, als hätten sie unter starker Hitzeeinwirkung gestanden.

Die Ermittlungen der Behörden ergeben, dass keiner der beiden Israelis an einem Grenzübergang der DDR registriert wurde. Aber in der Neujahrsnacht sahen zwei Wachposten, wie drei Gestalten in geringer Höhe über die Staatsgrenze in den Westen flogen. Zwei der Männer zogen einen feurigen Schweif nach sich, und den dritten Mann, der offenbar nicht selbst fliegen konnte, hielten sie zwischen sich.

Ahasver und Luzifer schweben im Nichts.

GOtt ist Veränderung, sage ich. Als Er die Welt schuf, aus dem Nichts heraus, veränderte Er das Nichts.
Das war eine Laune, sagt er [Luzifer], ein Zufall, der einmal kommt und dann nicht wieder. Denn siehe, da GOtt Seine Schöpfung betrachtete am siebenten Tag, ließ Er auf der Stelle verlautbaren, wie herrlich gut Er sie fände in der real vorhandenen Form, und dass die Welt auf alle Zeiten zu bleiben habe, wie Er sie geschaffen, mit Oben und mit Unten, mit Erzengeln und Engeln, Cheruben und Seraphen und Heeren der Geister, sämtlich eingeteilt nach Rang und Ordnung, und der Mensch die Krönung des Ganzen. GOtt ist wie alle, die einmal etwas veränderten; sogleich bangen sie um ihr Werk und die eigene Stellung, und aus den lautesten Revolutionären werden die strengsten Ordnungshüter. Nein, Bruder Ahasver, GOtt ist das Bestehende, GOtt ist das Gesetz. (Seite 135)

Als Ahasver sich an Jesus Christus wendet, hält dieser ihn zunächst für Luzifer. Aber der ewige Jude gibt sich zu erkennen und fragt ihn, ob die Menschheit seinen Opfertod wert gewesen sei, und der Erlöser gibt zu, dass es die Sünde nach wie vor gibt.

Rabbi, sagte ich, die Unvollkommenheit der Menschen ist die Ausrede einer jeden Revolution, die ihr Ziel nicht erreicht hat […] Sie gieren nach Reichtümern und ihres Nachbarn Weib, huren und saufen und verkaufen ihre Kinder, spritzen sich Gift in die Adern und verlästern, was edel ist im Menschen. Und ist ein jeder von ihnen des anderen Feind, belauschen sich und verraten einander, sperren einander in Lager, wo sie in Massen verhungern, oder in Kammern, wo sie ersticken, schlagen und quälen einander zu Tode, und an jedem Ort verkünden die Herrschenden, dies alles geschehe im Namen der Liebe und zum Wohle der Völker. Sie vergeuden und vernichten die Schätze der Erde, verwandeln fruchtbares Land in Wüste und Wasser in stinkende Jauche, und die vielen müssen sich plagen für die wenigen und sterben dahin vor ihrer Zeit. Kein Schwert, entgegen dem Wort des Propheten, wurde je umgeschmiedet zur Pflugschar, kein Spieß zur Sichel geformt; vielmehr nehmen sie die geheimen Kräfte im All und machen daraus himmelhohe Pilze aus Flamme und Rauch, in denen alles Lebendige zu Asche wird und zu einem Schatten an der Wand. (Seite 161f)

Vierzig Tage und Nächte lang suchen Reb Joshua und Ahasver vergeblich nach GOtt, dann stoßen sie auf einen Greis, der mit einem Stab Zeichen in den Sand malt und sich auf ihre Frage hin zu erkennen gibt.

Siehst du nicht, dass ich das siebenfach versiegelte Buch des Lebens schreibe, mein Sohn?
Aber du schreibst es in den Sand, sagte der Rabbi, und ein Wind wird kommen und alles verwehen.
Genau das, erwiderte der Alte, ist das Geheimnis des Buches. (Seite 219)

Reb Joshua wirft seinem Vater vor, eine unvollkommene Welt erschaffen zu haben.

Ein stinkender Sumpf, in dem alles, was lebt, nur danach trachtet, einander zu fressen, sagte der Rabbi, ein Reich des Grauens, in dem alle Ordnung nur dazu dient, zu zerstören. (Seite 219)

Nach ihrer Begegnung mit GOtt gelangen Reb Josua und Ahasver nach Armageddon (Harmagedon), den Ort der endzeitlichen Schlacht. Der Antichrist tritt auf, die Sterne fallen vom Himmel und reißen Abgründe auf, aus denen giftiger Rauch hervorquillt. Die Toten erheben sich. Der Rabbi stürmt weiter, und als GOtt sich ihm in den Weg stellt, will er ihn wie eine lästige Fliege wegscheuchen, aber dieser gebietet ihm Einhalt:

Du vergisst, mein Sohn, dass dein Bild auch mein Bild ist, da du von mir nicht zu trennen bist, so wenig wie irgendeiner. (Seite 243)

Als Reb Joshua sein Schwert zieht, schwillt GOtt gewaltig an, und alle erstarren.

Wir stürzen.
Durch die Endlosigkeit des Abgrunds, der Raum ist und Zeit zugleich und in dem es kein Unten gibt und kein Oben, kein Rechts und kein Links, nur die Ströme der Teilchen, die noch nicht geschieden sind in Licht und in Dunkel, ein ewiges Dämmern. Und ich sehe den Rabbi und seine Hand mit dem Wundmal, die sich ausstreckt nach mir, und mein Herz neigt sich ihm zu.
Bereust du?, sagt er.
Nein, ich bereue nicht. (Seite 240)

Ahasver und der Rabbi vereinen sich liebevoll im Sturz, und weil der Rabbi mit GOtt eins ist, wird auch der ewige Jude eins mit GOtt, „ein Wesen, ein großer Gedanke, ein Traum“ (Seite 244).

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Bei Ahasver handelt es sich um eine aramäische Verballhornung des persischen Namens Artaxerxes, und das bedeutet „der von Gott Erhöhte“ oder „von Gott Geliebte“, also Gottlieb. Im Alten Testament wurde mit Ahasver denn auch der Perserkönig Xerxes gemeint. Im Hebräischen bedeutet Ahasver Fürst. Einer Legende zufolge wurde ein Jude namens Ahasver von Jesus Christus verflucht, weil er dem Dornengekrönten, der sein Kreuz nach Golgatha schleppte, eine kurze Rast im Schatten seines Hauses verweigert hatte: Er muss auf ewige Zeiten ruhelos umherwandern. Damit wurde Ahasver zum Sinnbild des jüdischen Volkes. In einer anderen Sage war Ahasver zunächst ein Türhüter des römischen Statthalters Pontius Pilatus mit dem Namen Cartaphilus, der Jesus mit einem Stoß zur Eile antrieb und deshalb verdammt wurde. Später bekehrte er sich zum Christentum. In seinem Roman „Ahasver“ erwähnt Stefan Heym eine 1602 veröffentlichte Schrift mit dem Titel „Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus“. Darin heißt es, Paul von Eitzen, Bischof von Schleswig, sei 1542 in Hamburg einem barfüßigen Juden im Büßergewand begegnet, der behauptete, Ahasver(us) zu sein.

Stefan Heym sieht in seinem Protagonisten vor allem einen „Mann der Unordnung und des Umsturzes, der Ungeduld und Unruhe, eine Symbolfigur der Anarchie also“ (Seite 210).

In neunundzwanzig Kapiteln, von denen jedes nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Ballade mit einer Kurzzusammenfassung beginnt („Erstes Kapitel. In welchem berichtet wird, wie Gott zur Freude der Engel den Menschen erschuf […]“), entwickelt Stefan Heym seine intelligente und satirische Geschichte. Dabei hält er sich keineswegs an die Chronologie, sondern wechselt ständig zwischen den verschiedenen Zeitebenen – Erschaffung der Welt, die letzten beiden Tage im Leben Jesu Christi, Reformationszeitalter, 1979/80, Weltuntergang – und passt auch jeweils die Sprache an.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Stefan Heym

Stefan Heym (Kurzbiografie)

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Das Buch "Der schwedische Reiter" von Leo Perutz kann man als historischen Roman oder Abenteuerroman lesen, vielleicht auch als Liebesroman oder Kunstmärchen. Es ist eine recht spannende und unterhaltsame Lektüre.
Der schwedische Reiter