Uwe Johnson : Mutmaßungen über Jakob

Mutmaßungen über Jakob
Mutmaßungen über Jakob Manuskript: Februar - Dezember 1958 Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1959 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 18, München 2004 Faksimile der Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN 978-3-518-42090-4
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am 8. November 1956 – unmittelbar nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch sowjetische Panzer und der Landung britischer und französischer Fallschirmjäger am Suezkanal – gerät ein erfahrener Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn beim Überschreiten der Gleise unter einen Zug und stirbt. Freunde und Bekannte mutmaßen, ob es sich um einen Mord, Suizid oder Unfall handelte.
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Kritik

Da es in "Mutmaßungen über Jakob" keinen allwissenden Erzähler gibt, kann der Leser sich nur aus bruchstückhaften Informationen – Dialogen, inneren Monologen und Berichten – ein Bild über das Geschehen machen. Der karge, spröde und wenig anschauliche Roman stellt hohe Anforderungen an den Leser.
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Jakob Abs wurde 1928 in Pommern geboren und kam mit seiner hageren, verbitterten Mutter Gertrud auf der Flucht vor der Roten Armee nach Jerichow in Mecklenburg. Sie leben im Haus des inzwischen nur noch gelegentlich berufstätigen Kunsttischlers Heinrich Cresspahl, der in diesem Jahr – 1956 – seinen achtundsechzigsten Geburtstag feiert. Den Witwer, dessen Frau Lisbeth 1938 starb, muss man sich als einen kräftigen Mann mit langsamen, schweren Bewegungen vorstellen. Gesine, seine einzige Tochter, studierte Anglistik in Leipzig, verließ nach den Ereignissen vom 17. Juni 1953 im Alter von zwanzig Jahren die DDR, besuchte die Dolmetscherschule in Frankfurt am Main und arbeitet seit Anfang des Jahres bei einer NATO-Dienststelle in Düsseldorf als Dolmetscherin.

Während Gesine noch die Oberschule in Jerichow besuchte, begann ihr Freund Jakob, als Rangierer auf dem Bahnhof von Jerichow zu arbeiten. Inzwischen hat es der fleißige und loyale, ruhige und kollegiale Reichsbahnbeamte in einer Metropole an der Elbe zum Inspektor gebracht.

Im Spätherbst 1956 nimmt der SSD-Hauptmann Rohlfs Kontakt mit Jakob auf, um mit dessen Hilfe Gesine als Spionin anwerben zu können. „Was für ein ernsthafter Mensch“, denkt er über Jakob (Seite 50).

Einen Tag nachdem Rohlfs mit Jakobs Mutter „über den Sozialismus und über die Kriegslust der abendländischen Kapitalisten“ (Seite 19) gesprochen hat, wird Cresspahl dabei beobachtet, wie er zwei große Koffer zum Bahnhof trägt. Die Leute nehmen an, er folge seiner Tochter in den Westen. Mittags steigt dann auch Jakobs Mutter in einen Zug, der in die Bezirkshauptstadt fährt. Einige Stunden später kehrt nicht – wie erwartet – Frau Abs zurück, sondern Heinrich Cresspahl, und zwar ohne die Koffer. Er hat der Neunundfünfzigjährigen geholfen, sich nach Westdeutschland abzusetzen. Jakob, der in der Elbemetropole ein möbliertes Zimmer bewohnt, erhält von Cresspahl ein Telegramm: „Deine Mutter ist zum Westen“ (Seite 71).

Aufgrund der „Republikflucht“ seiner Mutter wird Jakob von der Staatssicherheit überwacht; man kontrolliert seine Post, hört sein Telefon ab und observiert ihn. Jakob trifft sich in Jerichow nicht nur mit Heinrich Cresspahl, sondern auch mit dem aus Berlin angereisten Universitätsassistenten Dr. Jonas Blach, einem sechsundzwanzigjährigen Philologen, der dem DDR-Regime kritisch gegenübersteht und – wie Jakob – in Gesine verliebt ist.

Am übernächsten Tag kehrt Jakob in die Metropole an der Elbe zurück. Dort besucht ihn Gesine Cresspahl am 23. Oktober. Abends hören sie die ersten Nachrichten über einen Aufstand in Budapest. Als sie einen Zug nach Jerichow nehmen, folgt Rohlfs ihnen im Auto. Cresspahl stellt seiner Tochter den SSD-Offizier schließlich als Freund Jakobs vor.

„Ihr Herr Vater meint den Staat“, sagte Herr Rohlfs. „Wir waren ausgegangen von der natürlichen Notwendigkeit des menschlichen Zusammenlebens. Ich hatte behauptet dass der Fortschritt eines Gemeinwesens abzulesen ist an dem vernünftigen und gerechten Ausgleich der Einzelinteressen, der Befriedigung der Egoismen. Dass einer den anderen zufrieden am Leben hält: nannte Ihr Herr Vater das. In der Folge muss die Lebensfristung zwangsläufig angenehmer werden durch ständige Verbesserung und Erweiterung der gesellschaftlichen Produktion. Die Grundvoraussetzung für solche Vernunft“: sagte Herr Rohlfs.
ist die Beseitigung des Kapitalismus, die Errichtung einer proletarischen Staatsmacht, der Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft. Dass einer den anderen zufrieden am Leben hält. Sie hob ihr Gesicht auf und wandte ihr Kinn schräg, ihr Blick ging auf Jakob zu und glitt am Fenster ab. (Seite 217f; kein Druckfehler: Uwe Johnson schreibt so!)

Rohlfs, der sich nicht wie ein „Hundefänger“ (Seite 291) verhalten und Gesine nicht zwingen, sondern zur freiwilligen Mitarbeit überreden möchte – Aktion „Taube auf dem Dach“ (Seite 296) –, lässt sogar zu, dass sie am Tag nach dem Gespräch wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehrt, verabredet sich allerdings mit ihr in Berlin.

Zur gleichen Zeit veranlasst er, dass Dr. Jonas Blach, von dem er weiß, dass er ein kritisches Manuskript verfasst hat, seine Stelle an der Humboldt-Universität verliert. Der Philologe kommt daraufhin bei Freunden aus seiner Studienzeit unter.

Während Jakob Dienst als Dispatcher hat, wartet ein mit Jeeps, Panzern und leichten Kanonen beladener Güterzug im Bahnhof. Die Soldaten sind längst von den Waggons heruntergesprungen, stehen in kleinen Gruppen zusammen und rauchen. Jakob muss sich entscheiden, ob er die Militärtransporte nach Budapest bevorzugt abfertigt und dadurch gravierende Verspätungen im normalen Reiseverkehr hervorruft, oder ob er lieber die Sonderzüge länger warten lässt. Der bis zur Begegnung mit Rohlfs unpolitische Eisenbahner weiß ohnehin nicht mehr, was er von der sozialistischen Utopie einerseits und der Überwachung der Bürger im real existierenden Sozialismus andererseits halten soll.

Rohlfs wird gemeldet, dass Jakob verschwunden ist. Zuletzt habe man ihn noch in seiner Eisenbahner-Uniform gesehen, heißt es. Tatsächlich besucht Jakob seine frühere Geliebte Gesine. Am 4. November 1956 hören sie in den Nachrichten, dass sowjetische Panzer den ungarischen Aufstand inzwischen niederschlugen. Tags darauf landen siebentausend britische und französische Fallschirmjäger am Suezkanal – ungeachtet einer UN-Resolution, mit der die Einstellung der durch den Angriff israelischer Truppen am 30. Oktober auf ägyptische Stellungen ausgelösten Kampfhandlungen gefordert wurde. Obwohl Jakob Gesine liebt, kehrt er nach einer Woche freiwillig in die DDR zurück.

Beim Überqueren der Gleise auf dem Rangiergelände von Jerichow, über dem am 8. November dichter Frühnebel wabert, gerät Jakob unter eine Lokomotive. Er stirbt während der Notoperation.

Eine Schuldfrage kann kaum erhoben werden, da der Verunglückte das Gelände aus jahrelanger Erfahrung kannte und für beide Fahrten die Strecken freigegeben waren. Ein Beobachten der Strecke war schlecht möglich wegen des dichten Nebels, der ja fast undurchdringlich ist in dieser Jahreszeit. (Seite 300)

Handelte es sich um einen Mordanschlag des Staatssicherheitsdienstes, hat Jakob sich das Leben genommen oder im Nebel die Orientierung verloren? Darüber gibt es nur Mutmaßungen.

Jonas Blach ruft Gesine an, um sie über Jakobs Tod zu benachrichtigen und wird dann von Rohlfs festgenommen und im Auto abtransportiert.

„Sie sind sind kein guter Verlierer“ sagte Jonas gegen den Rücken von Herrn Rohlfs. Der wandte sich nicht um. Er schwieg auch, als der Assistent den Gefangenen barsch aufforderte er solle den Mund halten. Aber er dachte in seinem Herzen dass es nicht die Wahrheit sei. Dass er mit Jakob darüber sich hätte verständigen können. Wortlos, in einem kurzen unauffälligen Schweigen und Blickwechseln. Dass Jakob gerechter gewesen wäre. (Seite 308)

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Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen. (Seite 7)

Mit diesem Satz beginnt der Roman „Mutmaßungen über Jakob“ von Uwe Johnson. Mehrere nicht immer identifizierbare Figuren reden über Jakob und erinnern sich an ihn, ohne mehr als „Mutmaßungen“ äußern zu können. Einen allwissenden Erzähler gibt es nicht. Der Leser ist darauf angewiesen, sich aus bruchstückhaften Informationen – Dialogen, inneren Monologen und Berichten – ein Bild über den Protagonisten Jakob Abs und das Geschehen zu machen. Das wird nicht nur durch den fortwährenden Wechsel der Perspektiven erschwert, sondern auch dadurch, dass Uwe Johnson den Leser zu Beginn eines Absatzes meistens nicht nur rätseln lässt, wer da zu Wort kommt, sondern auch, worum es geht. Da heißt es beispielsweise unvermittelt: „Und das Bild hing schon in Gesines Zimmer quer über die Wand, als Jakob ankam.“ (Seite 290) Erst in der 17. und 24. Zeile des Absatzes erfahren wir, dass es sich bei dem Bild um ein großformatiges Foto von Rohlfs und Jakob Abs handelt. Syntax und Zeichensetzung entsprechen nicht immer der Duden-Grammatik (Beispiel). Cresspahls Äußerungen sind im Dialekt wiedergegeben und daher auch nicht leicht zu verstehen.

„Wou du di Wöte ssu sätzn vemachs un isses mie wüklich eine s-til-le Ffreude dassu sou allens von einiger Äheplichkeit in dein vollgeläntn Kopf bewechs […]“ (Seite 211)

Der karge, spröde und wenig anschauliche Roman „Mutmaßungen über Jakob“ erschließt sich dem Leser nur mühsam.

Die Figur Dr. Jonas Blach weist Parallelitäten mit Wolfgang Harich (1923 – 1995) auf, der 1956 – in dem Jahr, in dem der Roman spielt – in Ostberlin als Philosophie-Dozent an der Humboldt-Universität und Lektor des Aufbau-Verlags arbeitete. Wegen der angeblichen Bildung einer staatsfeindlichen Gruppe wurde der Gelehrte, der für eine schrittweise Zusammenführung der beiden deutschen Staaten eintrat („Konvergenztheorie“), am 29. November 1956 verhaftet und einige Monate später zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis 1964 blieb er in Bautzen eingesperrt. 1979 setzte er sich in die Bundesrepublik ab, kehrte jedoch zwei Jahre später aus Enttäuschung über den „Konsumismus“ im Westen in die DDR zurück.

Gesine Cresspahl wurde Anfang der Siebzigerjahre zur Hauptfigur von Uwe Johnsons Tetralogie „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ (1970, 1971, 1973, 1983).

Das Idiom der Eisenbahner war Uwe Johnson geläufig, weil seine Mutter bei der Reichsbahn beschäftigt war und er häufig in Güstrow in der Kantine der Bahn aß. Von Februar bis Dezember 1958 schrieb er an dem Roman, den er ursprünglich unter dem Titel „Guten Tag, Jakob“ und dem Pseudonym „Joachim Catt“ veröffentlichen wollte. Nachdem es ihm nicht gelungen war, das Manuskript in der DDR drucken zu lassen, schickte er es dem Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Siegfried Unseld soll die noch ungeöffnete Post am 31. März 1959 im Sterbezimmer von Peter Suhrkamp entdeckt und mitgenommen haben. Bei der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1959 galt „Mutmaßungen über Jakob“ neben den Romanen „Billard um halbzehn“ von Heinrich Böll und „Die Blechtrommel“ von Günter Grass als eine der bedeutendsten Neuerscheinungen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag
Die Seitenangaben beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe
in der edition suhrkamp, Frankfurt/M 1992 (308 Seiten).

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