Traudl Junge : Bis zur letzten Stunde

Bis zur letzten Stunde
Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben Mitwirkung: Melissa Müller Claassen Verlag 2002
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Traudl Junge war von Ende 1942 bis zum Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 im Bunker unter der Reichskanzlei in Berlin eine seiner Privatsekretärinnen. Ihre Erinnerungen an diese Zeit brachte sie 1947 zu Papier und veröffentlichte sie kurz vor ihrem Tod am 11. Februar 2002.
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Kritik

Wir erfahren, wie banal und unspektakulär das Alltagsleben im Zentrum der Macht verlief, einer Macht wohlgemerkt, die Tod, Leid und Zerstörung verursachte. Es war wie im Auge des Sturms, wo man von den Verwüstungen ringsherum kaum etwas mitbekommt.
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Traudl Humps wurde am 16. März 1920 als Tochter eines Braumeisters in München geboren. Im Alter von 22 Jahren wollte sie unbedingt in die Reichshauptstadt Berlin. Obwohl im Frühjahr 1942 der Arbeitsplatz nicht mehr nach Gutdünken gewechselt werden durfte, gelang es ihr, als Bürokraft in der „Adjutantur des Führers“ angestellt zu werden.

Nachdem eine der drei Sekretärinnen Hitlers heiraten und ihre Stelle aufgeben wollte, suchte der „Führer“ im November 1942 Ersatz. (Gerda Daranowski heiratete am 2. Febrar 1943 den Luftwaffenmajor Eckhard Christian.) Eine Auswahl von zehn Damen der „Adjutantur des Führers“ wurde mit einem Kurierzug in das „Führerhauptquartier“ bei Rastenburg in Ostpreußen geschickt. Hitlers Wahl fiel auf Traudl Humps. Ihr bot er am 30. Januar 1943 die freie Stelle neben Johanna Wolf und Christa Schroeder an.

Am 14. Juli 1943 heiratete Traudl Humps den SS-Offizier Hans Hermann Junge (1914 – 1944). Der ließ sich bald danach von Hitlers Ordonnanz zur Waffen-SS versetzen und fiel am 13. August 1944 in der Normandie.

Auch als am 20. Juli 1944 in der „Wolfsschanze“ Stauffenbergs Bombe explodierte, war Traudl Junge in der Nähe und sah Hitler unmittelbar danach [Stauffenberg-Attentat].

Die Neugierde trieb uns in den Führerbunker. Beinahe hätte ich gelacht, als ich Hitler sah. Er stand in dem kleinen Vorraum, umgeben von einigen seiner Adjutanten und Diener. Sein Haar war nie besonders gut frisiert gewesen, aber jetzt sah er aus wie ein Igel, so standen ihm die Haare zu Berge. Die schwarze Hose hing in schmalen Streifen vom Gürtel, fast wie ein Baströckchen. Die rechte Hand hatte er zwischen die Knöpfe seines Uniformrockes geschoben, der Arm war geprellt.

Nach dem Krieg schrieb Traudl Junge:

Das Attentat vom 20. Juli war das größte Unglück, das Deutschland und Europa treffen konnte. Nicht, weil es verübt worden war, sondern weil es missglückte. Alle unglückseligen Zufälle, die den Erfolg des Attentates verhinderten, buchte Hitler als persönlichen Erfolg. Seine Zuversicht, seine Siegesgewissheit und seine Sicherheit, aber auch sein Machtbewusstsein und Größenwahn überschritten nun erst recht alle Grenzen der Vernunft. … jetzt fand er sich und seine Idee, seine Macht und seine Taten vom Schicksal bestätigt.

Am 20. April 1945, Hitlers 56. Geburtstag, der im „Führerbunker“ unter der Neuen Reichskanzlei in Berlin gefeiert wurde, merkte Traudl Junge, dass ihr Chef nicht mehr an den Sieg glaubte. Zwei Tage später befahl er seinen Sekretärinnen, sich aus Berlin ausfliegen zu lassen: „Es ist alles verloren, hoffnungslos verloren.“ Traudl Junge gehorchte ihm allerdings ebenso wenig wie ihre Kollegin Gerda Christian, die inzwischen in Hitlers Dienste zurückgekehrt war: Sie blieben im „Führerbunker“. Auf ihren Wunsch hin gab ihnen Hitler Zyankali-Ampullen: „Es tut mir sehr Leid, dass ich Ihnen zum Abschied kein schöneres Geschenk machen kann.“

Am 28. April sagte Eva Braun geheimnisvoll zu Traudl Junge und Gerda Christian: „Ich wette, heute Abend werdet ihr noch weinen.“ Die beiden Damen vermuten zunächst, Hitlers Geliebte spiele auf den bevorstehenden Selbstmord an. Tatsächlich aber ging es um die Eheschließung von Adolf und Eva Hitler. Unmittelbar vor der Zeremonie nachts im Bunker diktierte der „Führer“ Traudl Junge sein politisches und sein persönliches Testament.

Adolf Hitler und seine Ehefrau Eva nahmen sich am 30. April 1945 das Leben. In der Nacht vom 1./2. Mai versuchten die meisten der etwa 200 Menschen, die noch im „Führerbunker“ ausgeharrt hatten, einen Ausbruch. Auch Traudl Junge gehörte zu einem der Trupps, die durch U-Bahn-Schächte flohen und sich in Kellern vor den russischen Soldaten versteckten. Unterwegs verlor sie den Kontakt zu den anderen, lief allein weiter, schloss sich anderen Flüchtlingen an und versuchte vergeblich, über die Elbe zu kommen. Nach vier Wochen und einem 300 km langen Marsch gelangte sie wieder nach Berlin. Dort wurde sie am 9. Juni von den sowjetischen Besatzungsbehörden festgenommen. Im April 1946 schlug sie sich zum Ammersee durch, wo ihre Familie wohnte. Einige Wochen lang hielten die Amerikaner sie fest. 1947 wurde sie „entnazifiziert“.

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Das Wichtigste an dem Buch „Bis zur letzten Stunde“ ist natürlich das erstmals veröffentlichte und nahezu unverändert gedruckte Manuskript, das Traudl Junge 1947 über ihre Erlebnisse als Sekretärin des „Führers“ verfasst hatte: „Meine Zeit bei Adolf Hitler“. Über ihren Lebensweg davor und danach informiert uns die Journalistin Melissa Müller, die viele Gespräche mit Traudl Junge geführt hat.

In ihrem Vorwort betont Traudl Junge, sie wolle sich weder selbst anklagen noch rechtfertigen, sondern „verstehen helfen“. Das Buch steht unter dem Motto: „Wir können unsere Biografie nicht im Nachhinein korrigieren, sondern müssen mit ihr leben. Aber uns selbst können wir korrigieren.“ (Reiner Kunze) Im Nachhinein versucht Traudl Junge zu begreifen, warum sie sich 1942 bis 1945 so und nicht anders verhalten hat.

„Heute weiß sie,“ schreibt Melissa Müller, „dass sie sich von ihm [Hitler] blenden ließ — nicht von seinen ideologischen und politischen Absichten, denn die interessierten sie nie sonderlich, sondern von Hitler als Mensch.“

Offenbar war es nicht die Absicht der Autorinnen, sich in diesem Buch kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen oder die Geschichte des NS-Regimes darzustellen. Um Fakten über das „Dritte Reich“ zu erfahren, liest man besser andere Werke, denn Traudl Junges Erinnerungen enthalten viele (verzeihliche) Irrtümer, und einige davon werden auch in den Fußnoten nicht korrigiert. Lesenswert sind ihre Aufzeichnungen aus dem Jahr 1947, weil sie zeigen, wie banal und unspektakulär das Alltagsleben im Zentrum der Macht verlief, einer Macht wohlgemerkt, die Tod, Leid und Zerstörung verursachte. Es ist kaum zu glauben, wie bieder die Gespräche waren, die Hitler mit seinen Tischdamen im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“, im Berghof, in der Neuen Reichskanzlei und im „Führerbunker“ führte. Noch im Herbst 1944 ließ er beispielsweise Gerdy Troost mit ihrem Schäferhund Harras von München nach Rastenburg fliegen und ins „Führerhauptquartier“ bringen, weil er seine Hündin Blondi decken lassen wollte. Die ersten Versuche schlugen fehl, aber im März und April 1945 spielten die Goebbels-Kinder im „Führerbunker“ mit den Welpen. (Am 1. Mai wurden sie von ihrer Mutter Magda Goebbels getötet, kurz bevor diese und ihr Mann sich ebenfalls umbrachten.) Vielleicht war es so, wie Traudl Junge schreibt: Den Menschen im Auge des Sturms fehlte es an nichts, da gab es Zigaretten, gutes Essen und Champagner, und wer von ihnen nicht an den Lagebesprechungen teilnahm, kriegte weniger von den Gräueln mit als etwa die Bewohner einer deutschen Großstadt. Später wunderte sich Traudl Junge, …

… wie hermetisch abgeschlossen wir in Hitlers Ideensphären lebten. Ich hatte früher immer geglaubt, hier im Brennpunkt des Geschehens, wo alle Fäden zusammenliefen, könnte man den besten Überblick, den weitesten Gesichtskreis haben. Aber wir standen hinter den Kulissen und wussten doch nicht, was auf der Bühne gespielt wurde. Der Regisseur allein kannte das Stück, jeder aber lernte nur seine eigene Rolle und keiner wusste genau, was der andere spielte.

„Im toten Winkel“, der Titel des 2001 von André Heller und Othmar Schmiderer gedrehten Films über Traudl Junges Erinnerungen, trifft das weit besser als der wenig originelle Buchtitel.

Auch als Hitlers Diätköchin Helene Marie („Marlene“) von Exner am 8. Mai 1944 entlassen wurde, weil ihre Großmutter (ein Findelkind) möglicherweise jüdische Vorfahren hatte, kümmerte sich Traudl Junge zwar um das persönliche Schicksal ihrer Freundin, aber sie nahm die Erfahrung nicht als Anlass, über Hitlers Politik nachzudenken.

Hitler strahlte eine Kraft aus, der sich weder die Männer noch die Frauen ganz entziehen konnten. Als Mensch bescheiden und liebenswürdig, als Führer größenwahnsinnig und hart, lebte er seiner „Mission“, von der er manchmal behauptete, sie erlege ihm unendliche Opfer auf.

Nur einmal wurde sie in ihrer Wertschätzung Hitlers verunsichert. Es war, als sie ihn fragte, warum er zwar mehrere Ehen gestiftet aber nicht selbst geheiratet habe, und er antwortete:

Ich wäre kein guter Familienvater, und ich halte es für verantwortungslos, eine Familie zu gründen, wenn ich mich meiner Frau nicht in genügendem Maße widmen kann. Außerdem möchte ich keine eigenen Kinder. Ich finde, die Nachkommen von Genies haben es meist sehr schwer in der Welt. Man erwartet von ihnen das gleiche Format wie das des berühmten Vorfahren und verzeiht ihnen den Durchschnitt nicht. Außerdem werden es meistens Kretins.

Der unverkennbare Größenwahn irritierte Traudl Junge dann doch etwas. Aber erst nach Hitlers Selbstmord hinterfragte sie

das Bild eines menschlichen, verständnisvollen, unantastbaren Führers, der sich zwar selbst für ein Genie hielt, aber auch von seiner ganzen Umgebung für ein solches gehalten wurde und lange Zeit seine Erfolge dafür sprechen lassen konnte. Und gerade die Kenntnis dieser seiner gefühlvollen, harmlosen, privaten Seite und seine persönlichen Erlebnisse machte es so schwer, den bösen Geist zu erkennen, der dem Genie innewohnte.

Traudl Junge starb am 11. Februar 2002, kurz nach Erscheinen des Buches „Bis zur letzten Stunde“ und wenige Stunden nach der Uraufführung des Films „Im toten Winkel“.

Auf der Grundlage des Buches „Bis zur letzten Stunde“ und einer „historischen Skizze“ von Joachim Fest schrieb Bernd Eichinger das Drehbuch für einen Kinofilm über die letzten zwölf Tage im „Führerbunker“. In dem Film „Der Untergang“ wird Traudl Junge von Alexandra Maria Lara dargestellt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Traudl Junge und Melissa Müller

André Heller und Othmar Schmiderer: Im toten Winkel. Hitlers Sekretärin
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