Irmgard Keun : Das kunstseidene Mädchen

Das kunstseidene Mädchen
Originalausgabe: Das kunstseidene Mädchen, 1932 Claassen Verlag, Düsseldorf 1979 ISBN: 3-546-45379-4, 219 Seiten Taschenbuch: dtv, München 1989 ISBN: 3-423-11033-3, 140 Seiten Neuausgabe mit Beiträgen von Annette Keck und Anna Barbara Hagin Ullstein Taschenbuch, Berlin 2017 ISBN 978-3-548-28876-5, 255 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 18-jährige Doris – die Tochter einer Garderobiere und eines Arbeitslosen – zieht im Herbst 1931 nach Berlin und erzählt bis Anfang 1932 in einer Art Tagebuch über ihre Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen. Weil sie etwas werden möchte, aber nichts gelernt hat, führt ihr Weg durch die Betten von Männern. Der Traum vom mondänen Leben weicht zwar bald einem Existenzkampf, aber auch als Obdachlose bleibt Doris eine selbstbewusste Frau ...
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Kritik

"Das kunstseidene Mädchen" ist ein durch pointierten Sprachwitz funkelnder tragikomischer Roman von Irmgard Keun über ein ungebildetes Mädchen mit erstaunlicher Menschenkenntnis.
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Köln 1931. Die achtzehnjährige Doris arbeitet als Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei. Sie wohnt bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater.

Meine Mutter […] wollte mich erst nicht und hat geklagt wegen Alimente, was alle in Frage kommenden Väter mir persönlich übelnahmen. Und Prozess glatt verloren. Dabei muss es doch einer gewesen sein. (Seite 59)

Weil der Verdienst ihrer Mutter als Garderobenfrau im Schauspielhaus nicht für den Lebensunterhalt reichen würde und ihr Stiefvater arbeitslos ist, muss Doris mehr als die Hälfte ihres bescheidenen Gehalts abgeben.

[…] ich kenne meinen Vater als ausgesprochen unangenehmen Menschen ohne Humor, wenn er zu Hause ist. Man kennt das – dass Männer, die am Stammtisch und in der Wirtschaft italienische Sonne markieren und immer die Schnauze vorneweg und alles unterhalten – dass sie zu Haus in der Familie so sauer sind, dass man sie am Morgen nach einer versoffenen Nacht nur ansehn braucht und spart einen Rollmops. (Seite 15)

Mit sechzehn fing Doris ein Verhältnis mit dem schüchternen Doktoranden Hubert an. Weil sie noch unberührt war, sträubte er sich zunächst dagegen, sie zu deflorieren.

Und erst wollte er nicht, aber nicht aus Edelmut und so, sondern einfach aus Feigheit, weil er dachte, das gibt Verpflichtungen, so ein ganz und gar unschuldiges Mädchen. Und das war ich. Aber natürlich glaubte er nicht, dass er einfach ein feiges Schwein war, sondern hielt sich für enorm edel und hätte alles Mögliche getan außer dem einen. Ich fand nur, ein Mädchen verrückt machen ist dasselbe, wie was andres tun, und dann dachte ich, einmal muss es ja doch sein, und legte doch großen Wert auf richtige Erfahrung und war auch verliebt in ihn so mit Kopf und Mund und weiter abwärts. Und hab ihn dann richtig rumgekriegt. Aber er dachte, er hätte mich verführt, und riskierte riesiges Gerede von Gewissensbissen, aber im Grunde wollte er die haben und kam sich als kolossaler Kerl vor – und bei dem Glauben lässt man ja dann auch einen Mann. (Seite 12f)

Ein Jahr lang waren sie ein Paar. Nach der Promotion zog Hubert nach München, wo seine Eltern wohnten und er eine Professorentochter heiraten wollte.

Weil Doris nichts gelernt hat, richten sich ihre Hoffnungen auf Männerbekanntschaften. Aber es soll ihr nicht so gehen wie ihrer zwanzig Jahre älteren Kollegin und Freundin Therese, die einen verheirateten Mann liebt, der sich nicht scheiden lassen wollte und nach Goslar zog. – Doris kennt ihre Wirkung auf Männer und profitiert davon:

[…] und ich hatte mir bereits einen dunkelgrünen Mantel machen lassen – streng auf Taille und mit Fuchsbesatz – ein Geschenk von Käsemann, der mich durchaus beinahe heiraten wollte. Aber ich nicht. Weil ich doch auf die Dauer zu schade bin für kleine Dicke, die noch dazu Käsemann heißen. Und nach dem Fuchs hab ich Schluss gemacht. Aber ich bin jetzt komplett in Garderobe – eine große Hauptsache für ein Mädchen, das weiter will und Ehrgeiz hat. (Seite 7)

Von Arthur Grönland, einem anderen Verehrer, lässt sie sich eine Armbanduhr schenken:

Er war bildschön und hatte Kommant. Aber ich sagte mir: Doris, sei stark – gerade so einem mit Kommant imponiert letzten Endes was Solides, und ich brauchte eine Armbanduhr, und besser ist, es wenigstens drei Abende zu nichts kommen zu lassen. (Seite 8)

Als er ihr vor der Haustüre die Hand küsst, klagt sie, dass sie nicht wisse, wie spät es ist. Am nächsten Abend schenkt er ihr eine Uhr.

Doris ist zwar freizügig und nutzt die Schwächen der Männer zu ihrem Vorteil, aber sie erklärt ihrer Freundin Therese:

Etwas Liebe muss dabei sein, wo blieben sonst die Ideale? (Seite 7)

Mit einem Fremden schlafen, der einen nichts angeht, ganz umsonst, macht eine Frau schlecht. Man muss wissen wofür. Um Geld oder aus Liebe. (Seite 41)

Durch den Umgang mit Männern erwirbt sie Menschenkenntnis. Sie durchschaut die Eitelkeit der Männer und fällt auch nicht darauf herein, als einer – Conrad Veidt – vorgibt, etwas Besseres zu sein.

Und adlig wär er! Na, so dumm bin ich nun nicht – zu glauben, dass es lebendig herumlaufende Adlige gibt. Aber ich dachte: mach ihm die Freude und sagte, ich hätt ihm das doch gleich angesehn. (Seite 10)

Wenn man Glück bei Männern haben will, muss man sich für dumm halten lassen. (Seite 46)

In einem Café beobachtet sie am Nebentisch ein Paar. Die Frau hat einen „Busen wie ein Schwimmgürtel“, und der Mann „ist was Feineres – aber nicht sehr“.

[…] er bestellt Zigaretten zu acht, wo er sonst bestimmt nur zu vier raucht. Das Schwein. Wenn einer welche zu acht bestellt, weiß man ja Bescheid, was für Absichten er hat. Und wenn einer wirklich solide ist, raucht er zu sechs mit einer Dame, denn das ist anständig und nicht übertrieben, und der Umschwung später ist nicht so krass. Mir hat ein Alter mal welche zu zehn bestellt – was soll ich sagen, der war Sadist […] (Seite 8)

Ihr Leben „rast wie ein Sechstagerennen“ (Seite 36), und sie kauft sich ein dickes schwarzes Heft, um ihre Erlebnisse aufzuschreiben.

Ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. (Seite 6)

Ihren Vorsatz, es trotz ihres Überdrusses noch weitere vier Wochen in der Kanzlei auszuhalten, kann sie nicht verwirklichen: Als der Rechtsanwalt wieder einmal in einem ihrer Briefe Kommafehler anstreicht, schaut sie ihm über die Schulter, drückt ihre Brust ein wenig an ihn und zittert mit den Nasenflügeln „wie ein belgisches Riesenkaninchen beim Kohlfressen“ (Seite 16).

[…] und merke zu spät, dass ich mit meinen Nasenflügeln zu weit gegangen bin. Springt doch der Kerl auf und umklammert mich und atmet wie eine Lokomotive kurz vor der Abfahrt. (Seite 16)

Der Anwalt will mit ihr zu den kalten Ledersesseln, aber sie weist ihn erschrocken zurück – und er wirft sie hinaus.

Ihre Mutter verschafft ihr daraufhin über eine Beziehungskette (Garderobenfrau Buschmann – alternde Schauspielerin Baumann – Regisseur Klinkfeld – Inspizient Bloch) einen Job als Statistin im Schauspielhaus. Weil Doris in der Hackordnung nicht ganz unten bleiben möchte, deutet sie gegenüber Schauspielschülerinnen ein Verhältnis mit dem Theaterdirektor Leo Olmütz an und verschafft sich auf diese Weise Respekt.

Und die Mädchen hassten mich alle und waren darum voll Ehrfurcht. (Seite 27)

Als das historische Drama „Wallenstein“ von Friedrich Schiller einstudiert wird, darf die hochnäsige Schauspielschülerin Mila von Trapper den Satz „Base, sie wollen fort“ sprechen; Doris geht dagegen leer aus. Dass Mila von Trapper sich verächtlich über sie äußert, zahlt Doris ihr heim. Der Schauspielschülerin wird dabei zum Verhängnis, dass sie nicht – wie alle anderen – die Toilette neben der Bühne benutzt, sondern eine im Obergeschoss. Dort sperrt Doris sie ein. Weil nur selten jemand hinkommt, wird Mila von Trapper erst am nächsten Morgen befreit. Inzwischen hat Doris sich den Satz „Base, sie wollen fort“ gesichert, und weil der Regisseur ihre Begabung erkannte, kriegt sie nun kostenlos Schauspielunterricht. – Die Premiere von „Wallenstein“ ist für Doris ein großes Erlebnis.

[…] und außer Hubert waren alle Männer im Theater, mit denen mich einmal Beziehungen verbanden. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele sind. (Seite 34)

Ein Großindustrieller wird ihr neuer Liebhaber. Sie begegneten sich, als er im Schauspielhaus Freikarten abholte.

[…] denn wer Geld hat, hat Beziehungen und braucht nicht zu zahlen. Man kann furchtbar billig leben, wenn man reich ist. (Seite 29)

Eines Abends fragt er sie, ob sie Jüdin sei. Doris lügt:

„Natürlich – erst vorige Woche hat sich mein Vater in der Synagoge den Fuß verstaucht.“ (Seite 30)

Sie ahnt nicht, dass der Großindustrielle zu den Sympathisanten der Nationalsozialisten gehört und man jetzt arisch sein muss.

Ich hatte es genau gerade falsch gemacht. Aber es war mir zu dumm, nu wieder alles zurückzunehmen, und ein Mann muss doch vorher wissen, ob ihm eine Frau gefällt oder nicht. So was Idiotisches. Machen sie erst vollfette Komplimente und reißen sich Arme und Beine und was weiß ich noch alles aus – sagt man auf einmal: ich bin eine Kastanie! – sperren sie das Maul auf: ach, du bist eine Kastanie – pfui, das wusste ich nicht. Dabei ist man doch dasselbe wie vorher, aber durch ein Wort soll man verändert sein. (Seite 30)

Unerwartet erkundigt Hubert sich bei Therese nach Doris und will sich mit ihr in Küppers Café treffen.

Und ausgerechnet, was einmal passiert im Jahr, hatte ich meinen alten Regenmantel an – weniger wegen Regen, als weil ich Ausschlafen nötig hatte, darum gleich nach Hause wollte und meine Schwäche kenne für abendliche Versuchungen und darum meinen widerlichen Mantel anzog, in dem ich für kein Geld wo hingehe. (Seite 38)

Als sie an diesem Tag nach der Probe zum Direktor gerufen wird, ahnt sie, dass er sie wegen des Gerüchts über sein angebliches Verhältnis mit ihr zur Rede stellen will. Statt zu ihm zu gehen, verlässt sie das Theater. Da fällt ihr in der Garderobe ein wunderschöner Pelzmantel auf – „es war echt Feh“ (Seite 40) –, und weil die Garderobenfrau Ellmann eingenickt ist, gelingt es ihr, ihn unbemerkt gegen ihren Regenmantel zu vertauschen.

Wegen des teuren Pelzmantels nimmt Hubert an, ihre Gage erlaube es ihr, ihm Geld zu leihen. Doris findet es widerlich, dass er sie anschnorrt.

Weil sie befürchtet, dass die Polizei wegen des Diebstahls nach ihr fahndet, flieht sie nach Berlin.

Therese gab ihr die Adresse einer nach Berlin-Friedenau gezogen Freundin mit. Margretchen Weißbach, so heißt sie, bekommt gerade ihr erstes Kind, kann sich aber keine Hebamme leisten, denn ihr Mann ist arbeitslos. Ohne zu zögern, gibt Doris ihr letztes Geld für eine Geburtshelferin aus. Margretchen Weißbach schickt sie zu einer Bekannten namens Tilli Scherer, einer Filmschauspielerin, die vergeblich auf Rollenangebote wartet. Solange deren Ehemann in Essen arbeitet, kann Doris bei ihr wohnen.

Es ist allerdings nicht die feinste Gegend. Der Nachbar Rannowsky ist Zuhälter und wird eines Tages festgenommen, weil er Hulla, eine der vier für ihn arbeitenden Prostituierten, totschlug.

Im Haus wohnt auch Herr Brenner, ein vierzig Jahre alter Elsässer, der im Krieg für Deutschland gekämpft hatte und durch eine Verwundung erblindete. Wenn seine böse Frau fort ist, setzt Doris sich vor dem Blinden auf den Tisch, damit er ihre Waden anfassen kann und erzählt ihm, was es in Berlin zu sehen gibt.

Aus Angst vor der Polizei wagt Doris es nicht, sich anzumelden oder sich um eine Stelle zu bewerben. Sie ist also wieder auf Geschenke von Männern angewiesen, und der feine Pelzmantel hilft ihr dabei, die geeigneten Kontakte zu knüpfen.

Es geht etwas vorwärts. Ich habe fünf Hemden Bembergseide mit Handhohlsaum, eine Handtasche aus Rindleder mit etwas Krokodil dran, einen kleinen grauen Filzhut und ein Paar Schuhe mit Eidechsenkappen. Dafür fängt mein rotes Kleid, das ich von morgens bis abends trage, unter den Armen zu schleißen an. Aber ich habe in einer Bar Verbindungen zu einem Textilunternehmen angesponnen, das allerdings leider etwas daniederliegt. (Seite 50)

Es ist gut, dass ich unglücklich bin, denn wenn man glücklich ist, kommt man nicht weiter. Das habe ich gesehen an Lorchen Grünlich, die heiratete den Buchhalter von Gebrüder Grobwind und ist glücklich mit ihm und schäbigem Pfeffer- und Salzmantel und Zweizimmerwohnung und Blumentöpfen mit Ablegern und Sonntags Napfkuchen und gestempelten Papier, das ihr der Buchhaltrige gestattet, um nachts mit ihm zu schlafen, und einen Ring. (Seite 52)

Einmal wird sie von einem einfachen Mann – Garagenfranz – in das Nachtlokal „Resi“ ausgeführt. Sooft er zur Toilette geht, klingelt ihr Tischtelefon, und es gibt im „Resi“ auch Rohrpost. Das gefällt Doris, aber im Lauf des Abends erfährt sie, dass Franz von seinem kargen Lohn auch seine Mutter und drei jüngere Brüder ernähren muss.

Er geht sehr selten mal aus, und wenn er es tut, muss er trinken, weil er sonst nicht den Mut hat, richtig froh zu sein, und um zu vergessen, dass er Geld ausgibt für sich. Denn er hängt an seiner Familie. Und das merkte ich nach und nach, mir schmeckte der Wein nicht. Ich hätte sein mögen mit einem, der nachts Geld ausgeben kann, das ihm morgens nicht fehlt.
[…] Nachher bin ich mit Franz, weil ich nicht wollte, dass er so viel umsonst ausgeben hat. Erst hat er gedrängt, und nachher war er enttäuscht, weil er ein Mädel wollte, das sich nicht so schnell herbeilässt. Ich hatte es ja nur gut gemeint. (Seite 58f)

Als „Tilli ihr Albert“ aus Essen zurückkommt, nimmt Doris sich ein möbliertes Zimmer bei Frau Briekow, aber ihr Geld reicht nur für ein paar Tage. Da ruft sie einen Bekannten an, Lippi Wiesel, und der nimmt sie auf. Am Heiligen Abend wartet sie jedoch vergeblich auf ihn, denn er verbringt ihn mit seinesgleichen. Und er hat auch kein Geschenk für sie. Enttäuscht packt Doris daraufhin wieder ihren Koffer.

Um sich aufzuwärmen, plaudert die Obdachlose mit einer Toilettenfrau, die eine Heizsonne aufgestellt hat. Im Wartesaal des Bahnhofs Zoo, wo sie sich herumtreibt, lernt sie den gebürtigen Berliner Karl kennen. Der war früher in einer Maschinenschlosserei beschäftigt. Jetzt läuft er mit einem Bauchladen herum. Er fordert sie auf, zu ihm in seine Laube zu ziehen.

„Meine Laube hat zwee kleene Zimmer“, sagt er, „und ’ne Ziege gibt’s, die kannste melken, unser Bett kannste machen, Fenster kannste putzen, bunten kleenen Puppen die Augen einnähn – komm, Kleene, du bist so niedlich im Gesichte und auch sonst – willste eene vom Strich werden?“ (Seite 95)

Doris schlägt das Angebot aus.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

An Silvester wird sie von Ernst angesprochen, einem Mann, der von seiner zehn Jahre jüngeren Frau verlassen wurde und deshalb ebenso einsam ist wie sie. Doris lässt sich von ihm nur mit in die Wohnung nehmen, weil sie erwartet, dass er etwas von ihr möchte und sie dafür mit 10 Mark rechnet. Doch der siebenunddreißigjährige Reklame-Zeichner richtet ihr ein Nachtlager auf der Couch her und fasst sie nicht an. Am nächsten Morgen kocht er Kaffee, und bevor er zur Arbeit geht, lädt er sie ein, bei ihm zu bleiben.

Nach einer Weile gewöhnt Doris sich an Ernst, und weil er nicht versucht, sich ihr zu nähern, beginnt sie sich nützlich zu machen: Sie kocht, putzt, wäscht und flickt für ihn.

„Ihre Frau kommt wieder“, sag ich – „bei dem Pech, was ich hab.“ (Seite 98)

Während er Baudelaire liest und Schubert-Lieder hört, gefällt Doris der Schlager „Das ist die Liebe der Matrosen“. Obwohl Ernst nicht einmal versucht, sie zu küssen, ist Doris ihm treu, weist alle Avancen zurück und fühlt sich wie ein Taxi mit heruntergeklapptem Schildchen. Weil er sie offenbar für ein unschuldiges, von zu Hause fortgelaufenes Mädchen hält, gibt Doris ihm ihr schwarzes Heft zu lesen. Nachdem Ernst auf diese Weise erfahren hat, dass sie in Köln einen Pelzmantel gestohlen hat, meint er, den müsse sie zurückgeben. Anders werde sie keine Papiere und keine Arbeitsstelle bekommen. Doris bezweifelt, dass dies der richtige Weg für sie wäre.

Kommt denn unsereins durch Arbeit weiter, wo ich keine Bildung habe und keine fremden Sprachen außer olala und keine höhere Schule und nichts. Und kein Verstehen um ausländische Gelder und Wissen von Opern und alles, was dazugehört. Und Examens auch nicht. (Seite 116)

Trotzdem setzt sie einen Brief an die ihr unbekannte Besitzerin des Pelzmantels auf. Bevor sie ihn ihrer Mutter schickt, von der sie annimmt, dass sie den Namen der Bestohlenen kennt, weil der Vorfall damals im Schauspielhaus bestimmt für großen Wirbel sorgte, fällt ihr ein an Ernst gerichteter Brief auf. Sie öffnet ihn. Er stammt von seiner Ehefrau. Hanne hat sich besonnen und würde gern zu ihm zurückkommen. Erschrocken versteckt Doris den Brief und das Kuvert unter dem Korkteppich.

Ich liebe ihn jetzt so, dass es mir egal ist, ob er das mühsame Stopfen seiner Hemden bemerkt. (Seite 131)

Eines Tages küsst Ernst sie auf den Hals, doch als er sie versehentlich mit „Hanne“ anspricht, begreift sie, dass sie nie den Platz seiner Frau einnehmen wird. Da stiehlt sie sich davon und sucht Hanne unter der angegebenen Adresse auf:

„Ihr Mann schickt mich. Sie sollen wieder zu ihm kommen – gehen Sie gleich, gleich.“ (Seite 136)

Am Bahnhof Friedrichstraße kommt sie mit einem Jungen ins Gespräch, der keine Arbeit hat und deshalb über Köln nach Ohligs fahren will, wo ein Onkel Schmied ist. Vielleicht kann er dort mithelfen. Nachdem ihm Doris ihre Geschichte erzählt hat, meint er:

[…] wie könnense denn da mit ’nem Feinen und denn mit Jefühl? So was jeht einfach nich jut.“ (Seite 137)

Er rät ihr, den Pelzmantel zu verkaufen und gibt ihr eine Adresse, wo man ihr vielleicht zu Papieren verhelfen kann. Bevor der Junge zum Bahnsteig geht, überlässt er Doris zwei der vier Schinkenbrote, die ihm seine Mutter mitgab. Obwohl Doris nur noch 30 Pfennige hat, kauft sie ihm zum Abschied für 10 Pfennige gebrannte Mandeln. Und als er fort ist, merkt sie, dass er ihr eine Mark dagelassen hat.

Doris überlegt, ob sie Karl suchen soll.

Ich werde mich ja nie mehr gewöhnen an einen ohne Bildung, zu dem ich eigentlich doch gehöre – und einer mit Bildung wird sich an mich nicht gewöhnen. (Seite 139)

Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an. (Seite 140)

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Eine Handlung gibt es in dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ nur rudimentär. Irmgard Keun lässt nach einer kurzen Einführung die Protagonistin in einer Art Tagebuch über ihre Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen vom Sommer 1931 bis Anfang 1932 erzählen. „Ende des Sommers und die mittlere Stadt“, „Später Herbst – und die große Stadt“, „Sehr viel Winter und ein Wartesaal“ lauten die Überschriften der drei Teile des Buches.

Vor allem durch die Sprache ist es Irmgard Keun gelungen, das kunstseidene Mädchen zu charakterisieren und ungemein lebendig und authentisch wirken zu lassen. Doris redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist – und in dieser von Grammatikfehlern wimmelnden schnoddrigen Sprache schreibt sie auch. Das ungebildete Mädchen ahnt nicht, dass diese Ausdrucksweise expressionistisch ist. Heute könnte man auch sagen, die Darstellung wirkt wie mit einer wackligen Handkamera gefilmt.

Ebenso faszinierend wie die ungewohnte Sprache ist die Figur. Das kunstseidene Mädchen ist naiv und gewitzt zugleich, auf seinen Vorteil bedacht, aber auch bereit, anderen Menschen selbstlos zu helfen. Als Schreibkraft in Köln hält es die ehrgeizige Achtzehnjährige nicht lange aus; sie will in der glamourösen Metropole Berlin ihren Weg machen, und weil sie nichts gelernt hat, führt er durch die Betten von Männern. Auch wenn sie sich hin und wieder dumm stellt, um die Eitelkeit von Verehrern auszunutzen, besteht sie darauf, geachtet zu werden. Der Traum vom mondänen Leben weicht zwar bald einem Existenzkampf, aber auch als Obdachlose bleibt Doris eine selbstbewusste Frau. Die Doppelmoral der Spießbürger ist ihr zuwider. Ungeachtet einiger Pauschalurteile verfügt das kunstseidene Mädchen über eine erstaunliche Menschenkenntnis. Wie treffsicher die Protagonistin psychologische Vorgänge beschreibt, trägt maßgeblich zum Lesevergnügen bei.

Obwohl der Roman 1931/32 spielt und über siebzig Jahre alt ist, wirkt er überhaupt nicht altmodisch. Man kann „Das kunstseidene Mädchen“ der Neuen Sachlichkeit zuordnen. Es geht um das kontrastreiche Leben in einer Großstadt, zum Beispiel einen antisemitischen Großindustriellen, der seine Gattin betrügt und seine Geliebte verwöhnt, aber auch um Arbeitslosigkeit, Not und Prostitution. „Das kunstseidene Mädchen“ ist nicht düster, sondern ein durch pointierten Sprachwitz funkelnder tragikomischer Roman. Kurt Tucholsky schrieb in der „Weltbühne“ über Irmgard Keun: „Sie hat Humor wie ein dicker Mann, Grazie wie eine Frau, Herz, Verstand und Gefühl. Sie ist etwas, was es noch niemals gegeben hat, eine deutsche Humoristin.“

Die Nationalsozialisten verstanden allerdings keinen Spaß: Sie verboten den Roman „Das kunstseidene Mädchen“, weil die Protagonistin ihrem Frauenbild nicht entsprach.

Von dem in den Dreißigerjahren erhobenen Vorwurf, „Das kunstseidene Mädchen“ sei ein Plagiat des Romans „Karriere“ (1931) von Robert Neumann (1897 – 1975), distanzierte sich der Autor 1966 im Nachwort einer Neuauflage: „Ich hatte nie dergleichen behauptet, ich behaupte es heute nicht – ich hoffe, Frau Keun liest diese Versicherung, die ja bloß mit ein paar Jahrzehnten Verspätung kommt.“

Julien Duvivier verfilmte den Roman „Das kunstseidene Mädchen“ mit Julietta Massina in der Hauptrolle.

Originaltitel: Das kunstseidene Mädchen / La grande vie – Regie: Julien Duvivier – Drehbuch: René Barjavel, Julien Duvivier und Robert A. Stemmle, nach dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun – Kamera: Göran Strindberg – Schnitt: Klaus Eckstein – Musik: Heino Gaze – Darsteller: Giulietta Masina, Gustav Knuth, Gert Fröbe, Agnes Fink, Alfred Balthoff, Axel Monjé, Ralf Wolter, Harry Meyen, Christiane König, Robert Dietl, Christiane Maybach, Friedrich Schoenfelder, Ingrid van Bergen, Wolfgang Borchert, Hilde Volk, Albert Bessler, Inge Egger, Ernst Schröder, Edelweiß Malchin, Ernst Kaleya, Ethel Massary-Moldenhauer, Mimi Bohse, Carola von Kayser, Helmut Ahner, Jan Hendriks, Rudolf Platte, Hannes Messemer, Heinz Lausch u.a. – 1960; 100 Minuten

Gottfried Greiffenhagen (* 1965) schrieb eine Bühnenfassung des Romans „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Claassen Verlag

Irmgard Keun (Kurzbiografie)

Joseph Roth - Hiob
Mit einfachen Worten und ohne Larmoyanz erzählt Joseph Roth die Leidensgeschichte eines schlichten Mannes, mit der Bibelgestalt Hiob als Vorlage, im Stil einer Legende.
Hiob