Primo Levi : Das periodische System

Das periodische System
Originalausgabe: Il sistema periodico Giulio Einaudi, Turin 1975 Das periodische System Übersetzung: Edith Plackmeyer Carl Hanser Verlag, München / Wien 1987 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 48, München 2005 ISBN 3-937793-47-X, 247 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Es ist [...] keine Autobiografie oder allenfalls insofern, als jede Schrift, ja jedes Menschenwerk teilweise und sinnbildlich Autobiografie ist: aber irgendwie Geschichte ist es doch. Es ist eine Mikrogeschichte oder sollte es zumindest sein, die Geschichte von einem Beruf und seinen Misserfolgen, seinen Siegen und seiner Not, eine Geschichte, die jeder erzählen möchte, wenn er fühlt, dass seine Laufbahn sich dem Ende zuneigt [...]"
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Kritik

Von Argon bis Kohlenstoff: In dem Buch "Das periodische System" erzählt Primo Levi in einundzwanzig mit den Namen chemischer Elemente bezeichneten Kapiteln von seinen Vorfahren sowie eigenen Erlebnissen in der Jugend, während des Zweiten Weltkriegs und in seinem Beruf als Chemiker.
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Primo Levi vergleicht seine Vorfahren, die wahrscheinlich um 1500 aus Spanien über die Provence nach Piemont eingewandert waren und dort die Seidenherstellung eingeführt hatten, mit dem chemischen Element Argon.

Die Luft, die wir atmen, enthält sogenannte träge Gase […] Tatsächlich sind sie so träge, mit ihrem Zustand so zufrieden, dass sie sich an keiner chemischen Reaktion beteiligen, sich mit keinem anderen Element verbinden, und aus diesem Grunde sind sie jahrhundertelang unbemerkt geblieben […]
Das wenige, was ich von meinen Vorfahren weiß, lässt sie diesen Gasen ähnlich erscheinen […] Träge waren sie zweifellos in ihrer Seele. Sie neigten zum zweckfreien Spekulieren, zur scharfsinnigen Rede, zu geschliffenen, spitzfindigen, fruchtlosen Debatten […] (Seite 7)

Beim Element Wasserstoff erinnert er sich, wie er als Sechzehnjähriger mit seinem Freund Enrico heimlich in das primitive Laboratorium von Enricos Bruder schlich, der damals bereits Chemie studierte. Primo Levi führte eine Elektrolyse des Wassers durch und erhielt, wie von ihm aufgrund seines Schulwissens erwartet, an der Anode Sauerstoff und an der Katode die doppelte Menge Wasserstoff. Als Enrico ihm nicht glauben wollte, hob er das über die Katode gestülpte Glas vorsichtig ab und drehte es auch nicht um. Ein brennendes, unter die Öffnung gehaltenes Streichholz ließ das Gas explodieren und das Glas zersplittern.

Zink und Eisen assoziiert Primo Levi mit seiner Studentenzeit von 1937 bis 1941 an der Universität Turin.

Meine christlichen Kommilitonen waren anständig, weder sie noch die Professoren haben sich je in Wort und Tat feindselig gegen mich verhalten, aber ich spürte, wie sie von mir abrückten, und auch ich zog mich, einer uralten Handlungsweise folgend, von ihnen zurück […] (Seite 44f)

Sein Studienfreund Sandro Delmastro, mit dem er Bergtouren unternommen hatte, wurde im April 1944 von den Faschisten festgenommen und bei einem Fluchtversuch erschossen.

Kalium und Nickel verbindet Primo Levi mit der ersten Jahreshälfte 1941. Weil kein Professor einen jüdischen Assistenten haben wollte, wurde er Mitarbeiter eines dreißigjährigen aus Griechenland stammenden antifaschistischen Assistenten des Instituts für Experimentelle Physik. Im Juli 1941 promovierte er mit „summa cum laude“.

Während sein krebskranker Vater im Sterben lag, suchte Primo Levi verzweifelt Arbeit. Schließlich erhielt er eine Aufgabe: Ein Leutnant des Königlichen Heeres, der in Turin seinen Militärdienst leistete, beauftragte ihn mit seiner Vertretung in einem wenige Fahrstunden von Turin entfernten Bergwerk. Primo Levi sollte nach einer Möglichkeit suchen, das dort in geringen Mengen vorhandene Nickel gewinnbringend abzubauen. Er machte sich ans Werk, ohne darüber nachzudenken, dass dieses Metall auch bei der Herstellung von Panzern und Geschossen verwendet wird.

Unter den Überschriften „Blei“ und „Quecksilber“ erzählt Primo Levi zwei nicht autobiografische Geschichten. (Im Buch sind sie kursiv gedruckt.) Die erste beginnt mit dem Satz:

Mein Name ist Rodmund, ich komme von weit her. (Seite 85)

Die Familie Rodmund kennt das Geheimnis der Bleigewinnung und -verarbeitung. Als der Erzähler jung war, begann er, die Welt zu durchwandern. Dabei machte er Blei zu Gold, indem er es verkaufte. Schließlich gelangte er auf die Insel Icnusa, die Insel der Metalle. Nachdem er auch dort Blei gefunden hatte, besorgte er sich Sklaven für den Abbau. Außerdem kaufte er sich eine Frau, nicht, um sich zu amüsieren, sondern um einen Erben zu zeugen, denn die Rodmunds sterben alle früh und seine Zähne wackelten auch bereits.

Korporal Daniel K. Abrahams lebte mit seiner Frau Maggie vierzehn Jahrelang allein auf einer Südseeinsel. Nur an Ostern kam der Walfänger Burton mit Nachschub und Nachrichten vorbei. Einmal brachte er zwei Holländer mit, auf die in der Heimat der Galgen wartete: Willem und Hendrik. Und kurz darauf rettete Abrahams die beiden schiffbrüchigen Italiener Gaetano und Andrea von einer benachbarten Insel.

Nach einem Erdbeben auf der Insel tropfte in einer Grotte Quecksilber von der Decke, und am Boden bildeten sich Pfützen. Für das destillierte Quecksilber schickte ihnen der Walfänger vier Frauen, von denen eine zwei Kinder mitbrachte. Während Abrahams noch überlegte, wie er sie aufteilen sollte, wählte Willem die dickliche Mulattin, Gaetano ergriff die Hand des schielenden Mädchens und Andrea entschied sich für die dreißigjährige Negerin. Hendrik und Rebecca Johnson, die Mutter der beiden Kinder, blieben übrig, aber die junge Mutter blickte nicht Hendrik, sondern den Korporal an, und Hendrik wechselte Blicke mit Maggie, die gerade aus der Baracke trat. Da nahm Abrahams Rebecca zur Frau.

Phosphor: Im Juni 1942 erhielt Primo Levi den Anruf eines Fabrikdirektors, der in der Nähe von Mailand Hormonextrakte herstellte. Levi sollte dort nach einem Mittel gegen Diabetes forschen.

Aufgrund eines Verrats wurden Primo Levi und zehn weitere italienische Partisanen am 13. Dezember 1943 auf ihrer verschneiten Berghütte über dem Aostatal von dreihundert Soldaten umstellt. Acht von ihnen konnten fliehen; Aldo, Guido und Primo Levi wurden gefangen genommen, in eine Kaserne am Rand von Aosta gebracht und dort verhört. Ein Mithäftling erzählte Primo Levi, dass er und seine Vorfahren vom Goldwaschen lebten: Sie kannten eine Biegung der Dora, an der es Gold anschwemmte, nur grammweise, aber jeden Tag aufs Neue.

Im November 1944 befand Primo Levi sich im Konzentrationslager Buna-Monowitz. Aus einer Dose stahl er etwa zwanzig kleine, harte, blassgraue Zylinder. Es handelte sich um Cereisen (Feuerstein). In nächtelanger heimlicher Arbeit zerkleinerten Primo Levi und sein Leidensgefährte Alberto die Zylinder und tauschten die Feuersteine gegen Brot ein, das sie bis zur Befreiung des Lagers am Leben halten sollte. Alberto kam allerdings kurz vorher auf einem Todesmarsch um.

Chrom: 1946 fing Primo Levi in einer Lackfarbenfabrik zu arbeiten an und lernte fast zur gleichen Zeit bei einer Bahnfahrt seine spätere Frau Lucia kennen. In „Das periodische System“ erzählt er in diesem Zusammenhang, wie er die Aufgabe erhielt, einen während des Kriegs und kurz danach hergestellten Lack, der zu unbrauchbarem Gelee geworden war, zu untersuchen. Es gelang ihm auch tatsächlich, die Ursache der Gelierung zu ermitteln: Aufgrund einer falschen Prüfmethode waren falsch dosierte Chromatpartien übersehen worden.

In das Labor, das Primo Levi mit seinem Jugendfreund Emilio betrieb, kam eines Tages ein Kunde, der eine Tüte Zucker untersucht haben wollte. Die beiden Chemiker pflegten ihre Auftraggeber nicht darüber aufzuklären, dass für chemische Analysen nicht ein Liter Wein, ein Kilogramm Teigwaren oder eben ein Kilogramm Zucker erforderlich sind, aber in diesem Fall rührte Primo Levi den Zucker erst einmal nicht an. Und das war gut so, denn er fand Arsen darin. Der Kunde freute sich seltsamerweise über das Ergebnis: Es bestätigte seinen Verdacht. Er war Schuster und hatte sich schon gedacht, dass ihm der vergiftete Zucker von einem jungen Konkurrenten zugespielt worden war. Er wollte nur Bescheid wissen und benötigte keine schriftliche Erklärung über den Laborbefund, denn er hatte nicht vor, den Täter anzuzeigen.

Dann holte ein Kosmetikfabrikant Primo Levi in seinen Betrieb und bat um eine Beratung. Die acht Arbeiterinnen trugen jeden Morgen auf die rechte Hälfte ihrer Münder den von ihnen hergestellten Lippenstift auf und zum Vergleich auf die andere Seite einen anderen. Genau acht Mal am Tag wurde jede von ihnen von dem Fabrikanten geküsst. Damit überprüfte er die Haltbarkeit der Lippenstifte.

Der Besitzer griff sich grob eines der Mädchen, legte ihr die Hand in den Nacken, schob ihren Mund vor meine Augen und hieß mich die Lippenränder genau betrachten: da, sehen Sie, einige Stunden nach dem Auftragen beginnt das Rouge, besonders wenn es warm ist, zu verschmieren, es läuft die winzigen Fältchen entlang, die auch junge Frauen um die Lippen herum haben, und so entsteht ein hässliches rotes Gespinst, das die Umrisse verwischt und die ganze Wirkung zunichte macht. (Seite 180)

Primo Levi fand die Ursache und glaubte, das Problem mit der Stickstoff-Verbindung Alloxan lösen zu können. Alloxan war jedoch nur als Laboratoriumskuriosum bekannt. Die einzige Herstellungsmethode bestand wohl in der Spaltung von Harnsäure durch Oxydation. Also fuhr Primo Levi mit seiner Frau aufs Land, um Hühnermist zu besorgen. Den verkauften die Bauern allerdings, wenn überhaupt, um teures Geld, denn sie schätzten ihn als Dünger. Unverdrossen kroch das Ehepaar durch die Hühnerställe und sammelte den Mist ein. Die Vorstellung, den Frauen einen Hühnerkot enthaltenden Lippenstift anzubieten, beschäftigte den Chemiker kaum, aber es gelang ihm nicht, Alloxan herzustellen.

Als Kundendienstvertreter geriet Primo Levi einmal an einen Abteilungsleiter namens Bonino, der eines seiner Bücher gelesen hatte und ihm deshalb breit und ausschweifend eine Geschichte aus seinem eigenen Leben erzählte, bevor er eine Bestellung aufgab. Während des Krieges waren zwei Männer mit einem „Fieseler Storch“ in Boninos Nähe gelandet und hatten ihn gefragt, in welcher Richtung die Schweiz läge. Für seine Auskunft hatten sie ihm einen Metallklumpen geschenkt und behauptet, es handele sich um Uran. Das glaubte Bonino immer noch, und als er Primo Levis Zweifel merkte, schickte er ihm ein Stückchen davon. Der Chemiker untersuchte es und stellte fest, dass es nicht Uran, sondern Kadmium war.

Unter dem Stichwort „Silber“ berichtet Primo Levi von einem Abendessen anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums des Studienabschlusses. Als er den Initiator Cerrato aufforderte, eine Geschichte für das geplante Buch beizusteuern, erzählte dieser von einem Erlebnis als Prüfer in einer Fabrik, die Röntgenplatten hergestellt hatte.

Mit „Vanadium“ ist die wohl eindrucksvollste der einundzwanzig Geschichten überschrieben: Wegen Qualitätsproblemen beschwerte Primo Levi sich 1967 als Mitarbeiter einer Lackfabrik in Turin bei dem Lieferanten des Harzes, einem Ableger der IG Farben in Deutschland. Ein Dr. L. Müller antwortete und schlug vor, Vanadiumnaphthenat zuzugeben, aber er schrieb Naptenat statt Naphthenat. Da musste Primo Levi an einen Müller in den Buna-Werken bei Auschwitz denken, der Beta-Naptylamin statt Beta-Naphthylamin geschrieben hatte. Dieser Müller war in den Buna-Werken Laborleiter gewesen und hatte sich dabei von Primo Levi und zwei anderen Häftlingen helfen lassen. Nun schickte Primo Levi eine deutsche Ausgabe seines Buches „Ist das ein Mensch?“ an die Privatadresse des Geschäftspartners und schrieb dazu, er sei einer der drei damaligen Laborgehilfen. In seiner Antwort bestätigte Müller, dass Primo Levi ihn richtig erkannt hatte und äußerte den Wunsch, sich mit ihm zu treffen. Vor einer persönlichen Begegnung schreckte Primo Levi jedoch zurück.

Ich sah mich außerstande, die Toten von Auschwitz zu vertreten, und es dünkte mir auch nicht sinnvoll, in Müller den Vertreter der Mörder zu sehen. (Seite 222)

Als Müller aus Deutschland anrief und mitteilte, er komme in sechs Wochen nach Finale Ligure, ließ Primo Levi sich überrumpeln und stimmte einem Treffen zu.

Eine Woche später erhielt er die Nachricht, dass Dr. Lothar Müller unerwartet im Alter von sechzig Jahren gestorben war.

Mit Kohlenstoff, dem Element des Lebens, beendet Primo Levi sein Buch „Das periodische System“. In diesem Kapitel erzählt er die Geschichte eines einzelnen Kohlenstoffatoms über die Jahrhunderte hinweg. Nachdem es Hunderte von Millionen Jahren in einem Kalkfelsen an drei Sauerstoffatome und ein Kalziumatom gebunden gewesen war, geriet es im 19. Jahrhundert in ein Weinblatt und so in den Organismus eines Weintrinkers, später in einen Schmetterling und schließlich in einen Holzwurm. Mit einem Glas Milch nimmt der Autor es auf, und es lagert sich in seinem Gehirn ein.

Es ist die Zelle, die in diesem Augenblick, aus einem labyrinthartigen Wirrsal von Ja und Nein heraus, bewirkt, dass meine Hand einen bestimmten Weg auf dem Papier zurücklegt, es mit diesen Kringeln versieht, die Zeichen sind; ein doppeltes Losschnellen, nach oben und nach unten, in zwei Takten, führt meine Hand, und sie drückt diesen Punkt aufs Papier: diesen. (Seite 238)

Es handelt sich um den Schlusspunkt des Buches.

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Bei dem Buch „Das periodische System“ handelt es sich weder um eine Abhandlung über Chemie, noch um eine Autobiografie im eigentlichen Sinne. Primo Levi erzählt vielmehr in einundzwanzig mit den Namen chemischer Elemente – von Argon bis Kohlenstoff – bezeichneten Kapiteln von seinen Vorfahren sowie eigenen Erlebnissen in der Jugend, während des Zweiten Weltkriegs und in seinem Beruf als Chemiker. Zwanglos eingestreut sind ein paar Geschichten anderer Menschen. Manche der Kapitel scheinen belanglos zu sein, einige sind skurril, amüsant – und wieder andere lassen den Leser ahnen, was es bedeutet, als Jude den Zweiten Weltkrieg und die Gefangenschaft in Auschwitz überlebt zu haben.

Primo Levi wurde 1919 in Turin geboren. Seine Vorfahren waren Piemonteser Juden. Nach dem Chemie-Studium (Promotion 1941), schloss er sich 1943 einer Partisanengruppe im Aostatal an. Im Dezember 1943 wurde er festgenommen und im folgenden Februar nach Auschwitz deportiert. Als das Lager Buna-Monowitz, in dem er dort lebte, im Januar 1945 wegen des sowjetischen Vormarsches evakuiert wurde, blieben 800 Kranke zurück, darunter Primo Levi. 700 von ihnen starben, bevor die Rote Armee das Lager erreichte. Primo Levi gehörte zu den Überlebenden. Im Oktober 1945 kehrte er nach Turin zurück. Im Jahr darauf begann er als Chemiker in einer Lackfabrik zu arbeiten. 1947 erschien unter dem Titel „Ist das ein Mensch?“ sein authentisches Buch über Auschwitz. 30 Jahre später zog er sich aus dem Berufsleben zurück und ließ sich als freier Schriftsteller nieder. Am 11. April 1987 stürzte Primo Levi sich im Treppenhaus zu Tode.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Primo Levi: Wann, wenn nicht jetzt?

Saskia Hennig von Lange - Hier beginnt der Wald
Mit ungewöhnlicher Nähe und Genauigkeit folgt Saskia Hennig von Lange in ihrem Roman "Hier beginnt der Wald" der Wahrnehmung des verstörten Protagonisten, seinen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Das ist große, eindrucksvolle Literatur.
Hier beginnt der Wald