Joseph Roth : Hiob

Hiob
Hiob Erstausgabe: 1930 Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2002 ISBN 3-423-13020-2, 188 Seiten Hiob. Roman eines einfachen Mannes Hg.: Hanns Frericks Alfred-Kröner-Verlag, Stuttgart 2018 ISBN 978-3-520-86201-3, 252 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Über den gottesfürchtigen Juden Mendel Singer bricht ein Unglück nach dem anderen ein. Seine tief religiöse Denkweise lässt ihn nicht verzweifeln, und er unterwirft sich den Schicksalsschlägen fatalistisch.
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Kritik

Mit einfachen Worten und ohne Larmoyanz erzählt Joseph Roth die Leidensgeschichte eines schlichten Mannes, mit der Bibelgestalt Hiob als Vorlage, im Stil einer Legende.
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Der fromme Jude Mendel Singer ist dreißig Jahre alt und verdient in Zuchnow seinen Lebensunterhalt als einfacher Lehrer. Meist zwölf Schüler, denen er Kenntnisse der Bibel (sic) vermittelt, kommen zum Unterricht zu ihm ins Haus. Das besteht eigentlich nur aus einer geräumigen Küche. Mit seinem kargen Einkommen hat er drei Kinder und seine Frau, die gerade wieder schwanger ist, zu versorgen.

Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. (Seite 7)

Deborah ist eine reinliche Frau und wirtschaftet den ärmlichen Verhältnissen entsprechend so gut sie kann. Sie ist manchmal aufbrausend und neidet den Wohlhabenderen schon mal deren Besitz.

Jonas, der älteste Sohn, ist der körperlich stärkere der beiden Brüder. Von Schemarjah sagt man, er sei schlau wie ein Fuchs und Mirjam, die jüngste, wird „kokett und gedankenlos wie ein Gazelle“ beschrieben.

Deborah kommt mit dem vierten Kind nieder. Sie nennen den Knaben Menuchim (das heißt „der Tröster“); über ein Jahr wird er gestillt.

Im dreizehnten Monat seines Lebens begann er Grimassen zu schneiden und wie ein Tier zu stöhnen, in jagender Hast zu atmen und auf eine noch nie dagewesene Art zu keuchen. Sein großer Schädel hing schwer wie ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seine breite Stirn fächelte und furchte sich kreuz und quer, wie ein zerknittertes Pergament. Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund. Bekam er einen Anfall, so nahm man ihn aus der Wiege und schüttelte ihn ordentlich, bis sein Angesicht bläulich wurde und der Atem ihm beinahe verging. (Seite 11)

Die Anfälle kommen vom Wachsen, vermutet der Vater.

In der Stadt brechen die Pocken aus, die Behörden schreiben eine Impfung vor und so kommt ein Arzt auch in das Haus der Familie Mendel. Als er den kleinen Krüppel sieht, diagnostiziert er: „Er wird ein Epileptiker“. Es könnte ihm vielleicht in einem Krankenhaus geholfen werden, aber die Eltern wollen Menuchim nicht unter russischen Kindern in einem Spital aufwachsen lassen.

Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. (Seite 12)

Also bleibt er hier, entscheidet Mendel. Es stellt sich aber keine Besserung ein. Da beschließt Deborah, mit dem Knaben einen weisen Rabbi aufzusuchen und dessen Rat einzuholen. Er sieht ihn genau an und sagt:

„Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht und geh nach Haus! […] Verlass deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind auch.“ (Seite 17ff)

Die Geschwister sind es oft leid, auf den Kleinen aufpassen zu müssen und vernachlässigen meistens ihre Aufsicht. Hin und wieder kneift Mirjam ihn in den Schenkel, und einmal tauchen sie ihn kopfunter in einen Bottich, …

[…] in dem sich Regenwasser seit einem halben Jahr gesammelt hatte, Würmer herumschwammen, Obstreste und verschimmelte Brotrinden. Sie hielten ihn an den krummen Beinen und stießen seinen grauen breiten Kopf ein Dutzend Mal ins Wasser, in der freudigen und grausigen Erwartung einen Toten zu halten. Aber Menuchim lebte. (Seite 21)

Das Kind ist nun schon älter als zehn Jahre und kann immer noch nichts anderes sagen außer „Mama“.

Die Liebe, auch die körperliche, zwischen Mendel und Deborah erstirbt. Sie haben keine Freude mehr aneinander.

Mirjam allerdings interessiert sich zunehmend für die Soldaten in der nahe gelegenen Kaserne. Und die finden wiederum Gefallen an dem jungen Mädchen.

Eines Abends beobachtet Mendel seine Tochter mit einem Kosaken in zärtlicher Umarmung im Wald. Er kann nicht wissen, dass die lebensfrohe Mirjam sich nicht nur mit diesem einen Soldaten trifft. Seinem zurückhaltenden Wesen entsprechend, rügt er das Mädchen nicht, und als er Deborah von seiner Entdeckung erzählt, findet er bei ihr keine Bestätigung seiner Bedenken.

Sie ist schön, dachte Deborah, so schön bin ich auch einmal gewesen, so schön wie meine Tochter – was ist aus mir geworden? Mendel Singers Frau bin ich geworden. Mirjam geht mit einem Kosaken, sie ist schön, vielleicht hat sie Recht. (Seite 85)

Bei Menuchim stellt sich immer noch keine Besserung ein. Die beiden anderen Brüder haben sich hingegen prächtig entwickelt. In der augenblicklichen Situation freut das die Eltern aber nicht, denn die Söhne sollen gemustert und zum Militär eingezogen werden. Das wollen Mendel und Deborah verhindern, müssten Jonas und Schemarjah sich doch den amtlichen Weisungen unterordnen, die mit den jüdischen Ritualen nicht zu vereinbaren wären.

Sie wollen die Söhne vom Militär freikaufen. Die resolute und lebenstüchtige Deborah wendet sich an einen „mit den Behörden vertrauten“ Mittelsmann. Der Agent heißt Kapturak und sagt ihr gleich, dass das von Deborah heimlich gesparte Geld nur für den Freikauf eines Sohnes reicht. Als Jonas, der im übrigen gerne Soldat werden will, von dem Gemauschel hinter seinem Rücken erfährt, ist er derart verärgert, dass er von zu Hause weggeht und bis zum Termin der Rekrutierung bei einem Fährmann Dienst tut und Pferde versorgt.

Schemarjah jedoch wird von einem Boten Kapturaks mit anderen Freigekauften über die Grenze gebracht. In Triest arbeitet er als Unteragent, lernt bei seinem Wirt ein Mädchen namens Vega kennen, deren Vater ihm etwas Geld zur Eröffnung eines Geschäfts gibt. Aber Schemarjah will nach Amerika und kauft lieber Schiffskarten für sich und Vega.

Das erfahren die Eltern nach Jahren aus einem Brief, den Schemarjah, der sich in Amerika jetzt Sam nennt, von seinem Freund und Partner Mac persönlich überbringen lässt.

Er war ein außergewöhnlicher Mann. Er trug einen mächtigen schwarzen Kalabreser, weite, helle, flatternde Hosen, solide gelbe Stiefel, und wie eine Fahne wehte über seinem tiefgrünen Hemd eine knallrote Krawatte. Ohne sich zu rühren, sagte er etwas, offenbar einen Gruß, in einer unverständlichen Sprache. Es klang, als spräche er mit einer Kirsche im Mund. (Seite 53)

In dem Brief steht außerdem, dass Sam Vega geheiratet habe und demnächst Tickets für eine Schiffspassage nach Amerika schicken werde. Er könne sich das nun leisten. Nach seiner Ankunft habe er zunächst Knöpfe an Hosen und Unterfutter in Ärmel genäht. Aber dann habe er Mac kennen gelernt und mit ihm „allerhand Geschäfte“ angefangen. Nun würden sie Versicherungen machen. Sogar ein paar Christen habe er schon versichert. Und Mac werde ihnen zehn Dollar geben, damit sie sich etwas für die Reise kaufen können.

Das Geld brauchen sie sogar nötig, um Visa zu besorgen. Sie haben sich nämlich entschlossen, nach Amerika zu gehen, denn sie sehen darin eine Möglichkeit, Mirjam aus dem verführerischen Umkreis der Kaserne zu holen und von ihrem liederlichen Lebenswandel abzubringen. Die Eltern hätten ja einen Mann zum Heiraten für sie suchen können, aber dafür wäre eine Mitgift nötig gewesen, die sie nicht aufwenden konnten.

Ein großes Problem ist natürlich Menuchim. Der Rabbi hatte damals zwar gesagt, „verlass ihn nicht, als wenn er ein gesundes Kind wäre!“; es ist aber unmöglich, ihn mitzunehmen, „den Idioten“. Wo soll er hin? Da fällt ihnen die Familie Billes ein. Mendel hatte alle Söhne des alten Billes unterrichtet, und die jüngste Tochter will demnächst heiraten. Das junge Paar könnte das Haus übernehmen und Menuchim dazu.

„Er macht gar keine Arbeit“, sagte Mendel Singer. „Es geht ihm auch von Jahr zu Jahr besser. Bald wird er mit Gottes Hilfe gesund sein. Dann wird mein älterer Sohn Schemarjah herüberkommen oder er wird jemanden schicken und Menuchim nach Amerika bringen.“ (Seite 90)

Bis zum letzten Tag vor der Abreise hoffen sie auf ein Wunder, das Menuchim gesund macht, damit sie ihn doch noch mitnehmen können. Sie merken, dass er sich ängstigt.

Aber wer kann sagen, was für einen Sturm von Ängsten und Sorgen die Seele Menuchims, die Gott verborgen hatte in dem undurchdringlichen Gewande der Blödheit! Ja, er ängstigte sich der Krüppel Menuchim. Er kroch manchmal aus seinem Winkel selbstständig bis vor die Tür, hockte an der Schwelle, in der Sonne, wie ein kranker Hund und blinzelte die Passanten an, von denen er nur die Stiefel zu sehen schien und die Hosen, die Strümpfe und die Röcke. Manchmal griff er unvermutet nach der Schürze seiner Mutter und knurrte. (Seite 91)

Nachdem Mendel auf den Ämtern vergeblich versuchte, die erforderlichen Dokumente zu besorgen und sich dabei einer entwürdigenden Behördenprozedur unterwerfen musste, erinnert sich Deborah an Kapturak. Der wickelt dann auch die Formalitäten auf den Amtsstellen ab. Schemarjah/Sam schickt unverzüglich die Schiffskarten, Geld und auch das Honorar für Kapturak. Bald ist alles zusammen: die Pässe, die Visa – nur das Wunder der Genesung an Menuchim blieb aus.

Am vierzehnten Abend der Seereise kündigen Leuchtkugeln die Ankunft im Hafen von New York an. Ein Passagier macht Mendel Singer auf die Freiheitsstatue aufmerksam:

„In der Rechten hält sie eine Fackel. Und das Schönste ist, dass diese Fackel in der Nacht brennt und dennoch niemals ganz verbrennen kann. Denn sie ist nur elektrisch beleuchtet. solche Kunststücke macht man in Amerika.“ (Seite 99)

Die Familie wird am Hafen abgeholt von Sam und Mac, der entgegen seiner Versprechungen nicht verhindern kann, dass die Einwanderer in Quarantäne müssen. Nach vier Tagen kann Mac sie dann doch herausholen. Stolz fährt er die Gäste in der großen heißen Stadt herum. Mendel ist benommen von den Eindrücken.

Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einigen Minuten wurde er ohnmächtig. (Seite 103)

Bei Sam und Vega wollen die drei nicht wohnen. So hausen sie in einer kleinen Wohnung. Zufrieden sind sie nicht; aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse können sie sich nicht unterhalten, und Menuchim fehlt ihnen. Deborah will wieder heim und ihn sehen.

Das hält Sam für keine gute Idee. Wenn schon, dann sollte man Menuchim herholen, da die Medizin in Amerika die Beste der Welt sei („man heilt solche Krankheiten mit Einspritzungen, einfach mit Einspritzungen!“).

Sam hat es inzwischen mit einem Warenhaus zu Wohlstand gebracht, und bald will er noch in Immobiliengeschäfte einsteigen.

Mirjam ist „ein nobles Fräulein, mit Hut und Seidenstrümpfen“ geworden, arbeitet bei Sam im Laden und ist mit Mac zusammen.

Eines Tages kommt ein Brief von der Familie Billes. Menuchim habe zu reden angefangen: Er war allein zu Hause, als ein brennendes Scheit aus dem Ofen fiel. Da lief er auf die Straße und schrie: „Es brennt!“ Seither spricht er ein paar Worte. Das hat der Doktor beobachtet und der will ihn nach Petersburg schicken, damit dortige Kapazitäten Menuchim untersuchen können. Jonas war in Zuchnow auf Urlaub gewesen, aber leider schon wieder abgereist, als das mit dem Feuer und Menuchim geschah.

Auf einer anderen Seite des Briefes ist eine Nachricht von Jonas, der schreibt, er sei gerne beim Militär, das Soldatenleben gefalle ihm und die Pferde hätten es ihm besonders angetan. Allerdings sei damit zu rechnen, dass es zum Krieg komme und man müsse darauf vorbereitet sein, dass er sterbe – er sei nun mal Soldat.

Sam ist mit einem Schlag an eine große Summe Geld gekommen, und er zieht in eine vornehmere Wohngegend.

Mac kündigt an, Menuchim nach Amerika zu holen, und Mendel ahnt auch warum: Mac will Mirjam heiraten und sich vorher bei ihm und Deborah einschmeicheln. Die Schiffskarten sind schon bestellt – da bricht der Krieg in Russland aus.

Mendel macht sich große Sorgen. Jonas muss in den Krieg, Menuchim bleibt in Russland. Lange gibt es keine Nachricht von dem ältesten Sohn. Vom Roten Kreuz hört man, dass er verschollen sei.

Man hatte erwartet, dass Amerika neutral bleiben würde. Das ist nicht der Fall. Mac meldete sich bei der Armee; Sam ebenfalls – und lange hört man nichts von ihm.

Mirjam besucht die Eltern manchmal sonntags und bringt Herrn Glück mit, den Ersten Direktor in einer von Sams Firmen.

Ein neuer Kosak!, dachte Mendel. Aber er sagte nichts. (Seite 129)

Zu ungewöhnlicher Zeit sucht Mirjam ihre Eltern auf. Mac sei zurückgekommen, sagt sie, er habe Sams Uhr gebracht und die letzten Grüße. Deborah rauft sich die Haare, reißt sich eine Strähne nach der anderen aus und bricht mit einem grölenden Laut endgültig zusammen. Sie ist tot.

Sieben Tage sitzt Mendel in seinem Zimmer und trauert. Nachbarn bringen ihm Essen und spenden Trost.

Am achten Tag nach der Trauer kommt die Schwiegertochter zu ihm. Mirjam sei bei ihr zu Hause. Er müsse sofort mitkommen, es sei etwas passiert. Zum ersten Mal betritt Mendel die Wohnung seines gefallenen Sohnes. Mirjam liegt mit aufgelösten Haaren und rot umränderten Augen in einem Bett. Als sie ihren Vater sieht, fängt sie schrill zu lachen an, beginnt dann zu schluchzen und muss von der Krankenschwester festgehalten werden.

„Guten Tag, Mendel Singer!“, sagte Mirjam. „Du bist mein Vater, ich kann es dir erzählen. Ich liebe Mac, der da steht, aber ich habe ihn betrogen. Mit Mister Glück habe ich geschlafen, ja mit Mister Glück! Glück ist mein Glück, Mac ist mein Mac. Mendel Singer gefällt mir auch und wenn du willst ––“ Da hielt die Krankenschwester Mirjam die Hand vor den Mund und Mirjam verstummte.

Mirjam wird mit einem Krankenwagen abholt und in eine Anstalt gebracht.

Deborah gestorben, Sam gefallen, Mirjam verrückt, Jonas verschollen, Menuchim verlassen, die Heimat verloren: Mendel glaubt, ebenfalls verrückt zu werden. Seine Einsamkeit kommt dem Sechzigjährigen zum Bewusstsein und er steigert sich in seinen Schmerz. In der Küche macht er auf offener Herdplatte ein Feuer, holt das Säckchen mit seinen Gebetsutensilien und will es in die Flammen werfen. Mit den Füßen stampft er zu seinem Zorngesang. „Gott will ich verbrennen“, sagt er zu den Nachbarn, die herbeigeeilt sind und sich um ihn kümmern.

Die Skowronneks, die einen Schallplattenladen betreiben, nehmen Mendel auf. Seine spärliche Einrichtung wird verkauft. Durch Botengänge und kleine Arbeiten in der Nachbarschaft macht er sich nützlich.

Das Angebot seiner Schwiegertochter, bei ihr im Haus zu wohnen, hatte er abgelehnt. Nun erfährt er, dass sie Mac heiraten wird.

Der Krieg ist aus. Ein heimkehrender Soldat hat Schallplatten aus Europa mitgebracht, die neuesten Lieder. Mendel legt in Skowronneks Laden eine Platte auf; sie gefällt ihm so gut, dass er sie wieder und wieder anhört. Das Stück heißt „Menuchims Lied“.

Das Ehepaar Frisch, das jetzt die frühere Wohnung Mendels gemietet hat, besuchte ein Konzert: Es wurde auch „Menuchims Lied“ gespielt. Ein Musiker, ein Verwandter von Herrn Frisch, hat ihn nach der Aufführung angesprochen und gefragt, ob er einen Mendel Singer aus Zuchnow kenne. Der geniale Kapellmeister, der die meisten Lieder, die sie spielen, selber komponiert habe, sei nämlich auch aus Zuchnow. Er heißt Alexeji Kossak und sucht einen Mendel Singer.

Als Herr Frisch dies Mendel erzählt, schießt diesem sofort durch den Kopf: ein Verwandter! Deborah war eine geborene Kossak. Er will nichts hören von einem, der ihm wohl alle traurigen Sachen erzählen möchte, die er schon kennt. Wenn dieser Alexeji Kossak etwas von ihm wolle, möge er schreiben. Herr Frisch zeigt Mendel noch eine Fotografie des Kapellmeisters aus dem Programmheft. „Ein schöner, junger Mann“, denkt Mendel.

Am Ostertag ist Mendel Singer bei den Skowronneks zum Essen eingeladen. Abends kommt ein Fremder, Alexeji Kossak, der Mendel Singer sprechen möchte. Nach dem Gebet berichtet Kossak von Zuchnow, von der Familie Billes und wie er versuchte, die Adresse von Mendel Singer herauszufinden. Er erzählt, dass er als Kind lange krank war, aber durch einen ihm gut gesonnenen Arzt in ein medizinisches Institut in eine große Stadt kam und dort gesund wurde. Bei der Arztfamilie fand er ein Klavier vor, auf dem er aus dem Kopf Lieder spielen konnte. Während des Krieges wurde er Dirigent einer Militärkapelle und durfte in Petersburg dem Zaren vorspielen. In London kam durch eine Konzertagentur sein Orchester zustande.

Als Skowronnek den Fremden nach dem kranken Sohn fragt, den Mendel zurück ließ, gibt sich Alexeji als Menuchim zu erkennen.

In ein paar Wochen wird Menuchim mit seiner Frau, seinen zwei Kindern und dem Vater nach Europa fahren; Mirjam wollen sie ebenfalls mitnehmen. In dem eleganten Hotelzimmer, in das Menuchim den Alten gebracht hat, schläft Mendel auf einem Sessel ein.

„Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder.“ (Seite 188)

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Über den armen Lehrer und gottesfürchtigen Juden Mendel Singer bricht ein Unglück nach dem anderen herein: Sein viertes Kind kommt als Krüppel zur Welt, seine Tochter amüsiert sich mit Soldaten, die älteren Söhne sollen zum Militär und bald auch in den Krieg. Seine Frau ist nach der Geburt ihres letzten Kindes unfruchtbar. Ein Sohn, Schemarjah, den sie vom Militär freikaufen können, schafft es, nach Amerika zu kommen.

Während die lebenstüchtige Ehefrau immer wieder versucht, handelnd in die scheinbar unabwendbaren Gegebenheiten einzugreifen, nimmt Mendel Singer diese fatalistisch hin.

„[…] Man soll sein Schicksal tragen! […] Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. ‚Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen‘ – so steht es geschrieben.“(Seite 38ff)

Deborah, seine Frau, antwortet:

„Der Mensch muss sich zu helfen versuchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben, Mendel! Immer weißt du die falschen Sätze auswendig. Viele tausend Sätze sind geschrieben worden, die überflüssigen merkst du dir alle! Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unterrichtest! Du gibst ihnen dein bisschen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du, Mendel, ein Lehrer!“ (Seite 399)

Der Sohn Schemarjah, der es in den Staaten zu Wohlstand gebracht hat – er nennt sich dort Sam –, holt seine Familie nach. Auf diese Weise können die Singers ihre Tochter Mirjam aus den ärmlichen Verhältnissen und dem unseriösen Umgang mit den Kosaken lösen, andererseits müssen sie ihren epileptischen Sohn Menuchim zurücklassen. In Amerika folgt dann wieder ein Schicksalsschlag nach dem anderen: Der in Russland im Krieg kämpfende Sohn Jonas gilt als verschollen. Als auch Amerika in den Krieg eintritt, meldet sich Sam bei der Armee. Bald kommt die Nachricht von seinem Tod. Diese Aufregung verkraftet Deborah nicht und stirbt. Eine Woche später wird Mirjam verrückt. Zum ersten Mal in seinem Leben hadert Mendel Singer mit Gott und resigniert.

Durch wundersame Fügung findet Menuchim seinen Vater in New York. Der in seiner Kindheit als Krüppel und Idiot Bezeichnete wurde geheilt und hat durch seine musikalische Naturbegabung Karriere als Komponist und Dirigent gemacht.

Joseph Roth erzählt die Geschichte mit einfachen Worten aus der Sicht eines, streng gläubigen Juden, ohne Larmoyanz oder Selbstmitleid. Man kann die Parallele zu der Bibelgestalt Hiob als Legende lesen, sodass dann auch der wenig plausible Schluss, ein allzu glückhaftes Happy End, hinnehmbar ist.

Zu der Zeit als Joseph Roth „Hiob“ schrieb (1930), war seine Frau nervenkrank. (Sie kam in eine Anstalt und wurde 1940 von den Nationalsozialisten ermordet.) Es wird vermutet, dass Joseph Roth versucht hat, mit diesem Roman sein eigenes Schicksal zu verarbeiten. Er hat sich immer Vorwürfe gemacht, sich um seine Frau möglicherweise nicht genügend gekümmert und ihr nicht ausreichend geholfen zu haben.

Michael Kehlmann verfilmte den Roman „Hiob“ von Joseph Roth:

Originaltitel: Hiob – Regie: Michael Kehlmann – Drehbuch: Michael Kehlmann – Kamera: Elio Carniel – Musik: Rolf A. Wilhelm – Darsteller: Günter Mack, Martha Wallner, Ludwig Hirsch, Eric Pohlmann u.a. – 1978; 250 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2005
Textauszüge: © Verlag Allert de Lange, Amsterdam, und Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Joseph Roth (Kurzbiografie)

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Sarah Winman - Lichte Tage
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Lichte Tage