Andrzej Szczypiorski : Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras
Originalausgabe: Msza za miasto Arras Warschau 1971 Eine Messe für die Stadt Arras Übersetzung: Karin Wolff Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1979 Diogenes Bibliothek, Zürich 1988 ISBN: 3-257-05711-3, 306 Seiten Taschenbuch: Diogenes, Zürich 2000 ISBN: 978-3-257-22414-6, 197 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die nordfranzösische Stadt Arras wird im Frühjahr 1458 von der Pest heimgesucht. Im Oktober 1461 kommt es zu einem wochenlangen Pogrom. Dabei entartet eine demokratische Herrschaftsform durch Gleichmacherei, Missgunst und Opportunismus, Heuchelei, Verrat und Verlogenheit zur Tyrannei, in der auch der Ich-Erzähler zum Tod verurteilt wird ...
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Kritik

Andrzej Szczypiorski entfaltet in "Eine Messe für die Stadt Arras" ein mittelalterliches Panorama über Fanatismus, Verblendung und Massenwahn.
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Jean war in Gent aufgewachsen und im Alter von zwanzig Jahren ungebildet nach Arras gekommen. Dort nahm sich der sittenstrenge Geistliche Albert des jungen Mannes an, der aus Gent ein frivoles Leben gewohnt war und mit dem Fürstbischof von Utrecht, David von Burgund (1457 – 1496), befreundet war, einem unehelichen Sohn des Herzogs Philipp der Gute.

Bei David und Albert handelte es sich um grundverschiedene Männer:

Der königliche Bastard – ein unverwüstlicher Gauner, der Teufel in leibhaftiger Gestalt, ein Vielfraß, ein Lügner, voll wilden Stolzes und der verrücktesten Einfälle –, und ihm gegenüber ein Weiser, nur aus Wissen, Ernst und Tugendhaftigkeit gebildet. (Seite 27)

Albert hielt die Bürger von Arras zu einem gottgefälligen Leben an und drohte ihnen mit Hölle und Fegefeuer. Einige von ihnen waren deshalb fortgezogen, in andere Länder, „dorthin, wo es weniger Heiligkeit, aber dafür mehr zu essen“ gab (Seite 32).

Im Frühjahr 1458 brach in Arras die Pest aus und raffte innerhalb eines Monats ein Fünftel der Bevölkerung hin. Ungeachtet der Seuche kam Bischof David nach Arras, um nach dem Rechten zu sehen und ein strenges Regiment einzuführen: Er ließ nicht nur die Stadttore schließen und bewachen, sondern befahl außerdem, von Kranken berührte Lebensmittel zu verbrennen – obwohl er damit die Bürger gegen sich aufbrachte, weil sie nicht verstanden, warum er es tat. Eine Hungersnot war die Folge. David versuchte sie durch Transporte zu lindern, aber nicht wenige der Fuhrwerke wurden von Straßenräubern überfallen. Vor Verzweiflung gruben die Hungernden frisch Beerdigte aus und machten sich über sie her.

Eine Mutter erstickte ihr Neugeborenes, kochte es, machte ihren anderen Kindern eine Suppe davon und aß das Fleisch des Säuglings. Als die Stadtknechte sie vor den Rat zerrten, gestand sie die Tat. Albert ersparte ihr zwar die übliche Folter, aber zum Entsetzen der auf dem Richtplatz Versammelten verweigerte er ihr die Sterbesakramente, bevor der Henker ihr den Kopf abschlug. Durch diese Unbarmherzigkeit zog sich der Geistliche den Unwillen der Bürger von Arras zu, die befürchteten, dass Gott die Stadt für den Frevel bestrafen werde.

Wie stets, wenn die Menschen das Ende aller Dinge voraussehen, wurde die Stadt von den zügellosesten Lastern erfasst. (Seite 72)

Auch als die Zahl der Pestopfer zurückging und die Seuche aufhörte, spielten sich noch immer „lästerliche und geile Szenen“ ab (Seite 82), doch nach und nach begannen sich die Bewohner von Arras zu schämen, und sie verlangten nach Läuterung. Weil Alberts Gebete und Predigten das Unglück nicht abgewendet hatten, zweifelte man an ihm.

Die gesellschaftliche Hierarchie war während der Seuche zusammengebrochen.

Bisher verharrten wir alle ausnahmslos – lebend oder sterbend in einem Zustand der Unterwürfigkeit […] Unterwürfigkeit, Willfährigkeit, macht den Reiz unserer Existenz aus. Als Gegenleistung empfangen wir Schutz und Friede, mit einem Wort: die Willfährigkeit gestattet uns die Freude am Leben. Ohne sie lässt uns das Schicksal zur Beute unserer Vereinzelung werden. (Seite 79)

Zimmerleute, Tuchmacher, Schmiede und Bäcker wurden in den bis dahin Patriziern vorbehaltenen Stadtrat aufgenommen. Das war für die einfachen Leute nicht leicht: Bisher hatten sie immer nur gegen die Verordnungen des Rats protestiert, ohne eigene Vorschläge zu machen, doch nun mussten sie selbst Entscheidungen treffen. Das fanden die neuen Ratsmitglieder unbequem und hörten lieber wieder auf Albert.

Indem er die Macht mit den Ungebildeten teilte, behielt er sie ganz für sich! (Seite 114)

1461 fand der Tuchmacher Gervais eines seiner edlen arabischen Pferde, das am Abend noch gesund gewesen war, am nächsten Morgen verendet im verschlossenen Stall vor. Ein Seiler sagte als Zeuge aus, der Jude Celus habe in der Nacht Verwünschungen ausgestoßen. Celus wurde festgenommen, aber noch bevor der Fall geklärt war, erhängte er sich im Keller des Rathauses.

Kurz darauf trat ein gewisser Icchak als Abgesandter der jüdischen Gemeinde in Arras vor den Rat und bat höflich um die Herausgabe des Toten, damit ihn die Angehörigen bestatten konnten. Einige der neuen Ratsmitglieder fühlten sich gerade durch die Unterwürfigkeit Icchaks provoziert.

Ihr eigenes Unrecht wollten sie in Judenblut ertränken! (Seite 166)

Und weil es ohnehin galt, Arras von allen Teufeleien zu reinigen, ließ der Rat den Juden bei lebendigem Leib auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Außerdem wurden Häuser im Judenviertel angezündet.

Geißler-Prozessionen zogen durch die Straßen.

Von Farias de Saxe, dem reichsten und vornehmsten Bürger der Stadt Arras, der auch dem Stadtrat angehörte, hieß es, er schneide mit einem Medikus aus Worms zusammen Tierkadaver auf. Da lag der Verdacht nah, dass er schwarze Messen abhielt. Die übrigen Ratsmitglieder, die sich von de Saxe nicht mit gebührendem Respekt behandelt fühlten, verurteilten ihn zum Tod. Als er zum Richtplatz geführt wurde, rief er den Bürgern zu, er verzeihe ihnen. Das hielt die Menge für eine Lästerung, denn einem Sünder wie ihm stand kein großmütiges Verhalten zu. Also bewarf man ihn mit Steinen und Pferdeäpfeln, bevor er den Scheiterhaufen erreichte.

Gervais starb am Galgen.

Sieben Frauen wurden als Hexen verbrannt.

Einige, die noch alte Rechnungen offen hatten, schwärzten Mitbürger an und wurden sie auf diese Weise los. Überall lauerten Denunzianten. Selbst die Ratsmitglieder misstrauten sich gegenseitig.

Auch gegen Jean erhoben sich die Bürger von Arras.

„Wie gescheit ist Herr Jean!“, riefen sie. „Viel zu gescheit, um in unserer Stadt weiterzuleben. Wir verlangen reinen demütigen Glauben, verlangen Gehorsam gegenüber dem Himmel und wünschen keine Neunmalgescheitheiten, die uns mit der Kompliziertheit ihrer Rede und ihrer Gedankengänge beleidigen. Unsere Hände sind schwielig geworden von schwerer Arbeit, und wir vertrauen nur unseren Händen und den Lehren der heiligen Kirche. Herr Jean aber verbringt Tage und Jahre mit Disputen und hat sich einen Verstand angeeignet, der des Satans Altar ist.“ (Seite 205)

Zunächst musste Jean nur den Rat verlassen, aber kurz darauf warnte ihn das Ratsmitglied Pierre de Moyes vor der bevorstehenden Verhaftung. Jean beschloss, aus Arras zu fliehen und zu Bischof David zu reiten. Ein Diener sollte ihm ein Pferd bereitstellen. Um Mitternacht schlich Jean zum Stadttor des heiligen Ägidius. Während es sonst bei Einbruch der Dunkelheit verriegelt wurde, stand es in dieser Nacht weit offen. Da ahnte Jean, dass ihn der Diener verraten hatte, und statt in die Falle zu tappen, kehrte er nach Hause zurück.

Bald darauf holten ihn die Stadtknechte und sperrten ihn in ein Verließ im Rathaus-Keller. Obwohl es nicht stimmte, klagte man ihn an, mit Farias de Saxe konspiriert zu haben. Ohne vorherige Tortur sollte Jean mit dem Schwert enthauptet werden.

In der Nacht vor der Hinrichtung verbreitete sich die Nachricht von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des Bischofs von Utrecht. Dem Stadtherrn Widerstand zu leisten, hielt man im Rat für verfehlt und zwecklos. Also wurden die Tore geöffnet. Damit war Jean gerettet.

Albert starb am Morgen an Wassersucht.

Nach außen hin also war die Stadt in Festtagsstimmung, in den Herzen der Menschen aber mehrten sich Trauer und Furcht. (Seite 267)

David, der sich freute, Jean wiederzusehen, las eine Messe für die Stadt Arras. Er vergab alle Sünden, erklärte die Ketzer- und Hexenprozesse der letzten Monate für null und nichtig und rehabilitierte beispielsweise Icchak und Farias de Saxe. Statt die Ratsmitglieder, wie erwartet, hinrichten zu lassen, bezeichnete er sie als Dummköpfe und verbannte sie samt ihren Familien aus Arras.

Dagegen begehrte Jean auf:

„Also, diese ganze ungeheuerliche gemeine Sünde soll sich nun als ein Nichts herausstellen und diese ganze Grausamkeit als Bagatelle? Wozu kroch denn die Stadt Arras in den stinkenden Mist ihrer Verbrechen und Ungesetzlichkeiten, wenn sich nun herausstellt, dass auch kein einziger Schritt vorwärts gemacht wurde? Haben wir dazu die Scheiterhaufen entzündet, die Juden gemartert sowie das einfache Volk, Adel und Priesterschaft, um nun von Euch zu hören, dass das alles nicht wahr, eitles Truggespinst unserer armen Sinne ist? Ihr sagt, es gibt keine Erlösung, kein besseres Teil für die Stadt Arras, für die ganze Welt? Wozu also hat der Sohn den Vater den Stadtknechten ausgeliefert, wozu hat man die jüdischen Gehöfte verbrannt, wozu die Leiber derer, die die Stadt für Abtrünnige hielt, in Fetzen gerissen? In die tiefsten Tiefen sind wir hinabgestiegen, um uns zu erhöhen – und Ihr, Fürst, sagt uns jetzt, dass ein derartiges Unrerfangen vergebliche Liebesmüh sei!“ (Seite 296f)

Aus Protest verließ Jean die Stadt und ritt nach Brügge, wo er dem Rat berichtete, was in Arras geschehen war.

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Die nordfranzösische Stadt Arras wurde im Frühjahr 1458 von der Pest heimgesucht. Gut drei Jahre später, im Oktober 1461 kam es zu einem drei Wochen dauernden Pogrom (Vauderie d’Arras). Einige Zeit später erklärte David von Burgund, der Fürstbischof von Utrecht, ein unehelicher Sohn Philipps des Guten, des Herzogs von Burgund, alle während der letzten Zeit in Arras gegen angebliche Hexen und Ketzer gefällten Urteile für null und nichtig.

Vor dem Hintergrund dieser historischen Tatsachen entfaltet Andrzej Szczypiorski in seinem Roman „Eine Messe für die Stadt Arras“ ein gewaltiges Panorama über Fanatismus, Verblendung und Massenwahn. In Arras entartet eine demokratische Herrschaftsform durch Gleichmacherei, Missgunst und Opportunismus, Heuchelei, Verrat und Verlogenheit zur Tyrannei.

Andrzej Szczypiorski kleidet die Parabel in einen (fiktiven) Bericht, den ein Augenzeuge ein halbes Jahr nach dem Pogrom in Arras vor dem Rat der Stadt Brügge abgibt.

Dieser Protagonist vermag den Fanatismus seines Lehrmeisters Albert nicht zu teilen. Ebenso wenig gelingt es ihm, sich wie Bischof David mit den menschlichen Schwächen pragmatisch abzufinden. Stattdessen quält er sich mit Zweifeln.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Seitenangaben beziehen sich auf die gebundene Ausgabe aus dem Jahr 1988.

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