Milena Agus : Die Frau im Mond

Die Frau im Mond
Originalausgabe: Mal di Pietre edizione mottetempo, Rom 2006 Die Frau im Mond Übersetzung: Monika Köpfer Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2007 ISBN: 978-3-455-40077-9, 136 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Erzählerin erinnert sich an ihre verstorbene Großmutter väterlicherseits und erzählt aus deren Leben. Die sardische Bauerntochter galt als mannstoll und verrückt. Als ihre Mutter erfuhr, dass sie vermeintlichen Verehrern Liebesgedichte schickte, schlug sie die junge Frau grün und blau. Ein ausgebombter Witwer aus Cagliari heiratete sie 1943. Sieben Jahre später, so scheint es, verliebte sich die verzweifelte Frau während einer Kur in einen Kriegsheimkehrer, dem ein Bein amputiert worden war ...
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Kritik

Die Ich-Erzählerin orientiert sich am zeitlichen Ablauf der Ereignisse, hält sich jedoch nicht streng an die Chronologie. Milena Agus hat für "Die Frau im Mond" eine schlichte Sprache und eine naiv-romantische Art der Darstellung gewählt, die zum Landleben auf Sardinien passen.
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Die Erzählerin erinnert sich an ihre vor einiger Zeit verstorbene Großmutter väterlicherseits.

Sie – die Großmutter – war in dem Dorf im Süden von Sardinien, in dem die Bauernfamilie lebte, gern zur Schule gegangen, aber die Eltern hatten sie nach der vierten Klasse herausgenommen, obwohl der Lehrer eigens zu ihnen nach Hause gekommen war und sie gedrängt hatte, die begabte Schülerin aufs Gymnasium zu schicken.

Die Eltern hielten es für schlimm genug, dass sie heimlich Gedichte schrieb.

In der Pubertät sorgte sie für einen Skandal, weil sie in der Kirche um die Bänke der Männer herumschlich, ungehemmt einem von ihnen schöne Augen machte und ihr Haar löste. Sie galt als liebestoll, und das änderte sich auch nicht, als sie erwachsen wurde. Im Dorf tuschelte man über die Liebesgedichte, mit denen sie vermeintliche Verehrer verschreckte. Als die Mutter von den Gerüchten hörte, schlug sie ihre Tochter grün und blau.

Die Eltern beabsichtigten, sie ins Irrenhaus zu bringen. Sie fuhren mit dem Bus nach Cagliari, besichtigten eine psychiatrische Anstalt auf dem Monte Claro und ließen sich Informationsmaterial mitgeben. Aber dann begann der Zweite Weltkrieg, und die Pläne zerschlugen sich.

Anfang 1943 stürzte sich die verzweifelte Frau, die befürchtete, keinen Mann abzukriegen, in einen Brunnen. Sie überlebte, weil ihre Schwestern die Nachbarn zu Hilfe riefen.

Im Mai 1943 kam ein Fremder ins Dorf, ein über vierzig Jahre alter, vom Kriegsdienst befreiter Angestellter der Saline von Cagliari, dessen Haus in der Stadt bei einem Luftangriff am 13. Mai, seinem Geburtstag, zerstört worden war. Seine Frau hatte ihm eine Geburtstagstorte gebacken und die Zutaten dafür auf dem Schwarzmarkt gekauft. Um am Abend, nach seiner Rückkehr von der Arbeit, den Geburtstag zu feiern, waren seine Mutter, die Schwester und der Schwager, die Nichten und Neffen gekommen. Die Bombe hatte sie alle zusammen getötet.

Die Urgroßeltern der Erzählerin nahmen den Witwer auf. Nach kurzer Zeit hielt er um die Hand der zehn Jahre jüngeren, für verrückt gehaltenen Tochter an. Sie machte ihm klar, dass sie nichts für ihn empfand, aber dadurch ließ er sich nicht abhalten. Im Juni 1943 fand die Hochzeit statt. Er nahm es hin, dass sich seine Frau nicht von ihm anfassen ließ und besuchte weiterhin Prostituierte in Cagliari, wie er es auch schon während seiner ersten Ehe getan hatte.

Im Winter 1944/45 zog er mit seiner Frau in die Stadt.

Dort schlug sie ihm eines Tages vor, das Geld fürs Bordell zu sparen und ließ sich von ihm erklären, was er von den Huren erwartete. Es waren ausgefallene Rollenspiele. Beispielsweise mochte er es, wenn sie sich nackt auf den Tisch legte. Dann bedeckte er ihren Körper mit Speisen und leckte sie ab. Seine Frau machte ebenso fantasievoll wie geschäftsmäßig mit und achtete darauf, dass er anschließend einen entsprechenden Geldbetrag für den geplanten Kauf eines Hauses auf die Seite legte.

Wegen ihrer Nierensteine riet ihr der Arzt 1950 zu einer Thermalkur. Zum ersten Mal in ihrem Leben verließ sie Sardinien und setzte mit der Fähre nach Civitavecchia über. Inzwischen ging sie auf die vierzig zu.

Während der Kur im Herbst 1950 verguckte sie sich in einen Kriegsheimkehrer (Reduce) mit Holzbein und Krücke, der zwar mit einem armseligen Koffer ankam, aber elegant gekleidet war und gut aussah. Sie lernten sich kennen, verbrachten die meiste Zeit zusammen und schliefen miteinander. Der Reduce war bei der Marine gewesen und 1943 vor Marseille in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Das Bein hatte er im Winter 1944/45 verloren. Seine Mutter war schon früh gestorben, seinen Vater hatte die Gestapo zu Tode gefoltert. Seit 1939 war er verheiratet. 1944, während seiner Kriegsgefangenschaft, hatte seine Frau sich mit einem Partisanen eingelassen und dann eine Tochter geboren. Kurz vor der Kur war die Familie von Genua nach Mailand umgezogen.

Dem Reduce fielen die Narben an den Armen seiner Geliebten auf. Sie behauptete, die Verletzungen habe sie sich bei der Feldarbeit zugezogen, aber er durchschaute, dass sie sich selbst die Haut zerschnitt.

Neun Monate nach der Kur brachte sie einen Sohn zur Welt. Auch danach wurde sie noch mehrmals schwanger, aber es kam jedes Mal zu Fehlgeburten.

1954 zog die Familie in ein eigenes Haus.

Als der Sohn sieben Jahre alt war und zur Schule ging, nahm seine Mutter eine Anstellung als Haushälterin bei zwei älteren Damen an – Donna Loretta und Donna Fanni –, denn sie wollte Geld verdienen, damit der Junge Musikunterricht bekommen konnte. Ihrem Mann verheimlichte sie es.

Im November 1963 reiste die Großmutter der Erzählerin mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn nach Mailand, um ihre jüngste Schwester und deren Familie mit einem Besuch zu überraschen – in Wirklichkeit jedoch, um nach dem Reduce zu suchen, in der naiven Vorstellung, dass sich in Mailand ebenso wie in Cagliari über kurz oder lang alle Menschen auf der Straße über den Weg laufen. Die Schwester wohnte mit ihrer Familie in der Dachkammer einer Mietskaserne, in der es nicht einmal eine Toilette gab. Der Schwager verdiente ein wenig Geld als Lumpensammler, die Schwester arbeitete als Dienstmädchen, und die Kinder waren tagsüber bei Nonnen. Die Großmutter der Erzählerin suchte nach dem Reduce, während ihr Mann dem Sohn Sehenswürdigkeiten in Mailand zeigte. Das schöne Kleid, das ihr Mann für sie kaufte, beachtete sie nicht weiter. Bei der Abreise verzweifelte sie.

Sie folgte Großvater und Papa, die sich angeregt unterhielten, auf der Rolltreppe zu den Bahngleisen und dachte, dass sie beiden es nicht einmal bemerken würden, wenn sie jetzt einfach kehrtmachte. Der Nebel hatte sich vollends verzogen. Sie würde weiterhin alle widerlichen Straßen der Welt nach dem Reduce absuchen, mochte auch bald der Winter hereinbrechen, sie würde sogar betteln gehen und, wenn es sein musste, auf einer Parkbank schlafen, und falls sie an einer Lungenentzündung starb oder verhungerte, umso besser.
Also ließ sie Koffer und Pakete los und lief auf der Rolltreppe in die andere Richtung. Während sie mit den Menschen zusammenstieß, die nach oben fuhren, rief sie immer wieder: „Entschuldigung! Entschuldigung!“, doch am unteren Ende brachte die Rolltreppe sie zum Stolpern und verschluckte einen Schuh und einen Fetzen ihres Mantels, zerriss ihr wunderschönes neues Kleid, die Strümpfe und die Wollmütze, die ihr vom Kopf gefallen war, zerkratzte ihr Hände und Beine, und schließlich war sie fast überall mit Schrammen übersät.
Zwei Arme halfen ihr, sich wieder aufzurichten. Großvater war hinter ihr hergestürzt, und jetzt hielt er sie fest und streichelte sie, als wäre sie ein Kind: „Es ist nichts passiert“, murmelte er, „es ist nichts passiert.“

Der Sohn wurde Pianist. Obwohl sich Sängerinnen, Geigerinnen und Flötistinnen am Konservatorium gern von ihm am Flügel begleiten ließen, hatte er kein Glück in der Liebe – bis sich eine Flötistin in ihn verliebte: die Mutter der Erzählerin. Die beiden heirateten. Die Flötistin verzichtete auf Engagements, um ihren Mann auf seinen Konzertreisen begleiten zu können. Als die Erzählerin geboren wurde, spielte er in New York das G-Dur-Konzert von Maurice Ravel. Ein paar Monate nach der Niederkunft fing seine Frau an, ihn wieder zu begleiten, und das Kind wuchs vorwiegend bei der Großmutter väterlicherseits auf. Deren Mann starb am 10. Mai 1978.

Lia, die Großmutter mütterlicherseits, war ganz anders. Sie achtete streng auf Ordnung, putzte fortwährend, war ernst und streng. Ihren Schwiegersohn verachtete sie, weil er als Pianist in ihren Augen keinen vernünftigen Beruf ausübte.

Erst später erfährt die Erzählerin, dass ihre Mutter unehelich geboren wurde. Lia war keine Witwe, wie sie behauptete. Als sie mit achtzehn schwanger geworden war, hatte sie ihren Geburtsort Gavoi verlassen. Der mit einer anderen Frau verheiratete Vater des Kindes, ein Schafhirt, erfuhr nichts von dem Kind. Lia fand in Cagliari eine Anstellung als Dienstmädchen. Die Tochter brachte sie zu den Nonnen. Als das Mädchen größer war, holte Lia das Abitur nach, arbeitete als Büroangestellte und kaufte sich schließlich ein Haus.

Nachdem Lia an Krebs gestorben war, suchte ihre Tochter nach dem Vater. Unter dem Vorwand, eine wissenschaftliche Untersuchung durchzuführen, fragte sie sich durch und stieß dabei auf eine Familie, die den Schafhirten beschäftigt hatte. Eine alte Frau erzählte ihr, der sei Anfang der Fünfzigerjahre nach Mailand gegangen, um dort Arbeit zu suchen. Später war er mit einer Frau zurückgekehrt, hatte ein Stück Land erworben und Schafe gezüchtet. Der Frau hatte es in dem sardischen Dorf nicht gefallen, und die Ehe war kinderlos geblieben. Der Mann war verzweifelt und hatte sich schließlich in einen Brunnen gestürzt [Suizid]. Die Witwe war 1954 nach Norditalien zurückgekehrt.

Die Erzählerin wird in Kürze heiraten. Bei der Renovierung des Elternhauses finden die Handwerker im Verputz einer Wand ein Notizbuch der Großmutter. Darin liegt ein Brief des Reduce. Offenbar hatte ihm die Großmutter der Erzählerin eine selbst verfasste Geschichte geschickt, denn er schreibt:

„Sehr verehrte Freundin […], ich fühle mich geschmeichelt, wenngleich ich auch ein wenig verlegen bin, wegen all dessen, was Sie sich über mich ausgedacht und geschrieben haben […] Die Liebe, die Sie zwischen uns erfunden haben, hat mich zutiefst berührt, und während ich die Szenen las, habe ich fast bedauert – entschuldigen Sie bitte meine Anzüglichkeit –, dass es jene Liebe nicht in Wirklichkeit gegeben hat.“

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In dem Roman „Die Frau im Mond“ von Milena Agus erinnert sich die Ich-Erzählerin an ihre Großmütter und die Eltern. Im Zentrum steht die Großmutter väterlicherseits, bei der sie vorwiegend aufwuchs. Das Leben dieser sardischen Bauerntochter blieb unerfüllt, weil sie in ihrer unkonventionellen Leidenschaft und ihrem Verlangen nach Eigenständigkeit der Zeit weit voraus war. Man hielt sie für verrückt.

Die Erzählerin orientiert sich am zeitlichen Ablauf der Ereignisse, hält sich jedoch nicht streng an die Chronologie, sondern greift mitunter voraus und holt das eine oder andere nach. Milena Agus hat für „Die Frau im Mond“ eine schlichte Sprache und eine naiv-romantische Art der Darstellung gewählt, die zum Thema passen. Damit evoziert sie eine ganz eigene, durchaus poetische Atmosphäre. Bis auf Lia trägt keine der Figuren einen Namen. Vieles bleibt ungesagt.

Den Roman „Die Frau im Mond“ von Milena Agus gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Marion Martienzen (Regie: Wolfgang Stockmann, Hamburg 2007, 3 CDs, ISBN 978-3-455-30583-8).

Nicole Garcia hat den Roman von Milena Agus verfilmt: „Die Frau im Mond. Erinnerung an die Liebe“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Verlag Hoffmann und Campe

Nicole Garcia: Die Frau im Mond. Erinnerung an die Liebe

Rafael Chirbes - Die schöne Schrift
Eine einfache alte Frau erzählt ihrem erwachsenen Sohn von den seltenen Augenblicken des Glücks in ihrem Leben, vor allem aber von Not und Leid, Liebe und Kränkungen. In einem schlichten, bewegenden Monolog erinnert sich die Frau an entscheidende Stationen ihres Lebens. Sie spricht zu ihrem Sohn, aber mehr noch zu sich selbst, weil sie vor dem Sterben verstehen möchte, was ihr widerfuhr.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.