Hans Christian Andersen : Märchen
Inhaltsangabe
Das Judenmädchen - Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern - Der Stein der Weisen - Des Kaisers neue Kleider - Die kleine Meerjungfrau - Die roten Schuhe - Der Schatten
Kritik
Das Judenmädchen
Das Judenmädchen Sara fällt in der christlichen Armenschule durch seine Aufgewecktheit auf. Während der Religionsstunde soll Sara in einem Geografiebuch lesen, aber dem Lehrer fällt auf, dass sie stattdessen begierig zuhört. Als Saras Vater davon erfährt, nimmt er sie von der Schule, denn er versprach seiner streng gläubigen Ehefrau kurz vor deren Tod, die Tochter niemals christlich taufen zu lassen.
Jahre später dient Sara in einem winzigen Ort in Jütland in einem bürgerlichen Haus. Einmal hört sie, wie der Hausherr eine Legende vorliest. Sie handelt von einem ungarischen Ritter, der bei einem türkischen Pascha in Gefangenschaft gerät, mit den Ochsen zusammen vor den Pflug gespannt und mit Peitschenhieben angetrieben wird. Nachdem seine Gemahlin und seine Freunde ihn freigekauft haben, kommt es zu einem neuen Religionskrieg, und der Pascha fällt seinem ehemaligen Gefangenen in die Hände. Er kann es kaum glauben, als der ungarische Ritter ihn ohne Rache ziehen lassen will. Aus Furcht vor Folterungen hat er bereits ein tödliches Gift geschluckt. Überwältigt von der christlichen Nächstenliebe, lässt er sich noch rasch taufen.
Sara weint, als sie das hört.
Wieder vergehen Jahre. Der Hausherr stirbt, und seine Witwe kann sich eigentlich keine Dienstmagd mehr leisten, aber Sara arbeitet weiter für sie und pflegt sie, als sie krank wird. Auf dem Sterbebett bittet die Hausherrin Sara darum, aus der Bibel vorzulesen. Dabei bricht Sara zusammen und stirbt wenig später. – Die tote Jüdin wird nicht auf dem Friedhof, sondern außerhalb der Stadtmauer begraben.
Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern
An einem bitterkalten Silvesterabend geht ein armes Mädchen barfuß und ohne Kopfbedeckung durch die Straßen. Schwefelhölzer trägt es in der Schürze und in einer Hand. Den ganzen Tag über hat die Kleine weder etwas verkauft noch auch nur ein Almosen bekommen. Weil sie deshalb befürchtet, vom Vater geschlagen zu werden, kehrt sie nicht nach Hause zurück, sondern kauert sich in eine Ecke und zieht die bloßen Beine unter den Rock. Sie nimmt ein Schwefelholz heraus und streicht es an der Wand an, um sich an der hellen Flamme zu wärmen. Ein drittes und ein viertes Schwefelholz flammt auf. Jedesmal glaubt das Mädchen etwas Schönes zu sehen: einen warmen Kachelofen, einen dampfenden Gänsebraten, einen Weihnachtsbaum mit tausend Lichtern. Plötzlich erblickt das Mädchen ein Sternschnuppe und glaubt im Lichtschein des nächsten brennenden Schwefelholzes seine Großmutter zu sehen. Die nimmt das Kind auf den Arm und schwebt mit ihm zu Himmel hinauf: Da weichen Kälte und Hunger von dem Mädchen.
Am anderen Morgen findet man das erfrorene Mädchen mit den Schwefelhölzern in der Ecke.
Der Stein der Weisen
In Indien stand ein prächtiger Baum, in dem sich Vögel aus allen Teilen der Erde versammelten. Im Inneren der Krone, die einen Umfang von mehreren Meilen hatte, gab es ein Schloss, und darin wohnte der weiseste Mann der Welt, der doppelt so klug wie König Salomo war.
Sein Name ist so schwer auszusprechen; du könntest ihn doch nicht aussprechen, und deshalb kann er dir gleichgültig sein. Er wusste alles, was ein Mensch wissen kann und je auf dieser Welt wissen wird; jede Erfindung, die gemacht worden war oder noch gemacht werden sollte, kannte er, aber auch nicht mehr, denn alles hat ja seine Grenzen.
In der Geheimkammer des Schlosses lag „Das Buch der Wahrheit“. Der Weise hatte beinahe jede Seite gelesen. Nur der Abschnitt über „Das Leben nach dem Tode“ war so verblasst, dass er keinen Buchstaben davon entziffern konnte.
Seine vier Söhne und seine blinde Tochter hatten die Baumkrone noch nie verlassen. Er lehrte sie, dass die Welt vom Schönen, Wahren und Guten zusammengehalten wird. Auch von einem Edelstein erzählte er, einem Stein der Weisen, in dessen Lichtstrahlen das Kapitel über „Das Leben nach dem Tode“ in dem „Buch der Wahrheit“ lesbar sein würde.
Da ritt der Älteste los, um den Stein der Weisen zu suchen. Er sah besonders gut, aber der Teufel blies ihm Splitter in die Augen, bis der junge Mann seine gute Meinung über sich und die Welt aufgab. Die Vögel brachten die Nachricht zum Schloss. Also machte sich der zweitälteste Sohn auf den Weg, aber er hörte außergewöhnlich gut und litt unter dem Lärm und Geschrei, dem Klatsch und Tratsch, bis ihm das Trommelfell riss. Der dritte Sohn schwang sich auf den Rücken eines Straußes und wechselte unterwegs auf einen Schwan, der ihn übers Meer trug. Der Teufel, der wusste, dass sein Geruchssinn stark ausgeprägt war, setzte ihm mit Weihrauch so zu, bis er völlig verwirrt war. Daraufhin versuchte der vierte Sohn sein Glück. Der reiste in einem Luftballon, der noch gar nicht erfunden war, landete auf dem Wetterhahn eines Kirchturms und blieb da sitzen, um den Wind zu schmecken.
Dem Vater war nur noch die blinde Tochter geblieben. Eines Nachts, als er schlief, nahm sie ihre Spindel, band das Ende des Fadens am Haus fest, um wieder zurückzufinden und lief los. Wo sie erschien, leuchtete in den Seelen die Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen auf. Dem Teufel blieb nichts anderes übrig, als eine Doppelgängerin zu schaffen, um die Menschen zu verwirren.
Er ging in den Sumpf, nahm die aus dem fauligen Wasser aufsteigenden Blasen, ließ das siebenfache Echo des Lügenwortes über sie hinschallen, um sie kräftiger zu machen. Er pulverisierte bezahlte Ehrenverse und lügenhafte Leichenpredigten, so viele sich nur finden ließen, kochte sie in Tränen, die der Neid geweint hatte, streute oben etwas Schminke darauf, die von einer vergilbten Jungfernwange gekratzt war, und schuf hieraus eine Mädchengestalt, die in Bewegung und Aussehen der des segensreichen blinden Mädchens glich.
Voller Zuversicht kehrte das Mädchen nach einiger Zeit mit Hilfe des Fadens nach Hause zurück. Und da konnte der Vater lesen, was in dem „Buch der Wahrheit“ über das ewige Leben stand. Es war ein einziges Wort: „Glaube“.
Des Kaisers neue Kleider
Es lebte einmal ein eitler Kaiser, der sich um nichts anderes als um seine Kleidung kümmerte. Zwei Betrüger, die sich als Weber ausgaben, versprachen ihm, die wunderbarsten Stoffe für ihn anzufertigen und daraus Kleider zu schneidern. Die seien so leicht wie Spinnweben, behaupten sie, aber weder dumme noch für ihr Amt ungeeignete Menschen könnten sie sehen. Begeistert nimmt der Kaiser die Betrüger in seinen Dienst und zahlt ihnen ein fürstliches Honorar. Sie stellen zwei Webstühle auf, lassen sich die teuersten Seiden liefern und tun bis weit in die Nacht hinein so, als ob sie webten.
Nach einiger Zeit schickt der Kaiser seinen alten Minister hin, um sich nach dem Fortschritt der Arbeit zu erkundigen. Der Minister erschrickt, als er auf den Webstühlen weder Garne noch Stoffe sieht, obwohl die Betrüger eifrig tätig zu sein scheinen. Weil er nicht zugeben will, dass er entweder dumm oder für sein Amt ungeeignet ist, berichtet er dem Kaiser von den wunderbaren Farben und Mustern, die er angeblich gesehen hat.
Des Kaisers neue Kleider sind Gesprächsthema in der ganzen Stadt.
Einem zweiten Staatsmann, den der Kaiser zu den Webern schickt, geht es wie dem ersten.
Schließlich begibt sich der Kaiser persönlich mit seinem Gefolge zu den Webern, um nach den Kleidern zu sehen. „Ja, ist das nicht prächtig?“, sagen die beiden Staatsmänner, die bereits über den Stand der Dinge berichtet hatten. Der Kaiser sieht nichts, will aber auch nicht für dumm oder unfähig gelten, lobt die gar nicht vorhandenen herrlichen Stoffe und ernennt die Betrüger zu Hofwebern.
Rechtzeitig für ein großes Fest werden die Kleider angeblich fertig. Die Betrüger tun so, als würden sie dem Kaiser die Sachen anpassen. „Belieben Eure Kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen“, sagen die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!“ Der Kaiser, der sich nur im Hemd sieht, schwärmt dennoch davon, wie gut die neuen Kleider sitzen.
Dann greifen zwei privilegierte Kammerherren in die Luft, als wollten sie die Schleppe tragen, und der Kaiser schreitet unter dem Thronhimmel durch die Straßen. Die Menschen, die seinen Weg säumen, bestaunen die prächtigen neuen Kleider des Kaisers – bis ein kleines Kind ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“
Die kleine Meerjungfrau
Weit draußen auf dem Grund der tiefen See lebt der verwitwete Meerkönig mit seiner alten Mutter und seinen sechs Töchtern. Erst wenn die Prinzessinnen das fünfzehnte Lebensjahr vollenden und erwachsen sind, dürfen sie aus dem Meer auftauchen, im Mondschein auf Klippen sitzen und Schiffe beobachten. Nach und nach feiern die Seejungern ihren fünfzehnten Geburtstag und tauchen hinauf zur Wasseroberfläche.
Endlich kommt auch für die jüngste von ihnen der Tag. Die Großmutter, die wegen ihrer Vornehmheit selbst ein Dutzend Austern am Schwanz trägt, befiehlt acht Austern, sich am Schwanz der Fünfzehnjährigen festzuklammern. Das tut zwar weh, aber es zeigt den hohen Stand der Meerjungfrau an. Bei Sonnenuntergang taucht sie in den Wellen neben einem Dreimaster auf und hört Musik. An Bord des Schiffes feiert nämlich ein Prinz seinen sechzehnten Geburtstag. Da kommt ein Sturm auf und bringt das Schiff zum Sinken. Die kleine Seejungfer, die bereits gelernt hat, dass Menschen unter Wasser nicht leben können, hält den Kopf des schönen Prinzen über Wasser, schwimmt mit ihm an Land und legt ihn in der Morgensonne an den Strand. Sie bleibt noch in der Nähe, bis ein junges Mädchen den bewusstlosen Prinzen entdeckt und Hilfe holt. Erst dann kehrt die kleine Meerjungfrau zum Schloss ihres Vaters zurück.
Der Prinz geht ihr nicht mehr aus dem Sinn. In vielen Nächten taucht sie hinauf und schwimmt in den Kanal hinein, um einen Blick auf den schönen Prinzen zu erhaschen, wenn dieser im Mondschein durch den Schlosspark geht.
Von ihrer Großmutter erfährt sie, dass die Menschen nur eine vergleichsweise kurze Zeit leben, aber eine unsterbliche Seele besitzen, anders als die Mitglieder des Meervolks, die zwar dreihundert Jahre alt werden, sich dann jedoch in Schaum auflösen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist. Nur wenn ein Mensch sich in eine Meerjungfrau verliebt und sich mit ihr vermählt, fließt etwas von seiner Seele in den Körper der Braut und sie erhält ebenfalls eine unsterbliche Seele. Da die Menschen allerdings Beine haben und Fischschwänze abstoßend finden, geschieht das so gut wie nie.
Sie kleine Meerjungfrau kann an nichts anderes mehr denken als an den Prinzen. Trotz ihrer Angst wagt sie sich zu der widerlichen Meerhexe, und die erklärt sich bereit, ihr zu helfen.
„Ich will dir einen Trunk bereiten, mit dem sollst du, bevor die Sonne aufgeht, ans Land schwimmen, dich ans Ufer setzen und ihn trinken, dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zusammen zu dem, was die Menschen hübsche Beine nennen, aber es tut weh, es wird sein als ob ein scharfes Schwert durch dich hindurch ginge […] Du behältst deinen schwebenden Gang; keine Tänzerin wird schweben können, wie du, aber jeder Schritt, den du tust, wird sein, als ob du auf scharfe Messer trätest […] Willst du alles dies erleiden, so werde ich dir helfen!“
Die Meerhexe warnt die kleine Seejungfrau auch noch vor dem, was mit ihr geschieht, wenn der Prinz eine andere als sie heiratet: Dann wird sie sich am Morgen nach der Hochzeitsnacht in Schaum auflösen. Bleich wie der Tod versichert die Meerjungfer, dass sie das alles auf sich nehmen will. Dann erst kommt die Meerhexe auf die Bezahlung zu sprechen und verlangt für den Zaubertrank, in den sie ihr eigenes Blut mischen muss, die wunderbare Stimme der kleinen Seejungfer.
„Streck deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie ab, zur Bezahlung, und du bekommst dafür den kräftigen Trank!“
Noch vor dem Sonnenaufgang erreicht die kleine Meerjungfrau das Schloss des Prinzen, trinkt an der prächtigen Marmortreppe das Zaubermittel und verliert das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kommt und den schneidenden Schmerz spürt, steht der junge Prinz vor ihr, und weil sie nackt ist, hüllt sie sich in ihr langes Haar. Der Prinz fragt, wo sie herkomme, aber die kleine Meerjungfrau kann nicht sprechen, denn die Hexe hat ihr ja die Zunge abgeschnitten. Sie wird mit kostbaren Gewändern eingekleidet und im Schloss aufgenommen. Zwar kann sie weder sprechen noch singen, aber alle beneiden sie um ihre Schönheit, ihren anmutigen Gang und ihren schwebenden Tanz. Niemand ahnt, dass sie jeden Schritt so empfindet, als träte sie auf scharfe Messerklingen. Nachts, wenn alle schlafen, geht sie die Marmortreppe hinunter, um ihre brennenden Füße im Meerwasser zu kühlen.
Der Prinz hat sie von Tag zu Tag lieber, aber er behandelt sie wie ein Kind und kommt gar nicht auf die Idee, sie zu seiner Frau zu machen. Schließlich soll er sich mit der schönen Tochter des Königs im benachbarten Reich vermählen. Auf der Schiffsreise dorthin nimmt er auch die kleine Meerjungfer in seinem Gefolge mit. Für die Hochzeitszeremonie erhält die kleine Meerjungfrau ein Kleid aus Gold und Seide, denn sie soll die Schleppe der Braut tragen. Nach der Trauung in der Kirche begibt sich die Hochzeitsgesellschaft auf das Schiff, wo bis spät in die Nacht gefeiert wird. Nur die kleine Meerjungfrau ist traurig, denn sie weiß, dass sie den Prinzen zum letzten Mal sieht und am nächsten Morgen sterben muss. Für ihn verließ sie ihre Heimat, opferte ihre schöne Stimme und litt entsetzliche Qualen, aber er ahnt es nicht einmal.
Als alle bis auf den Steuermann und der kleinen Meerjungfrau zu Bett gegangen sind, tauchen ihre Schwestern aus den Fluten auf. Sie sind kahl, denn sie haben der Meerhexe ihr schönes Haar gegeben und dafür ein scharfes Messer bekommen, das die kleine Meerjungfrau dem Prinzen ins Herz stoßen soll.
„Bevor die Sonne aufgeht, musst du es dem Prinzen ins Herz stoßen, und wenn sein warmes Blut über deine Füße spritzt, wachsen sie zu einem Fischschwanz zusammen und du wirst wieder eine Seejungfer, kannst zu uns ins Wasser herniedersteigen und noch dreihundert Jahre leben, ehe du zu totem, kaltem Meeresschaum wirst.“
Die kleine Seejungfer beugt sich über das schlafende Paar, küsst den Prinzen auf die Stirn und schleudert das Messer ins Meer. Bald darauf steigt die Sonne aus dem Meer empor. Da wird die kleine Meerjungfrau durchsichtig und verwandelt sich in eine Tochter der Luft.
Die roten Schuhe
Es war einmal ein kleines, hübsches aber armes Mädchen namens Karen, das im Sommer barfuß gehen musste und für den Winter nur ein paar klobige Holzschuhe besaß – bis sich die alte Dorfschusterin erbarmte und aus alten roten Tuchlappen Schuhe für Karen nähte.
Weil man bei einer Beerdigung keine roten Schuhe trägt, lief Karen allerdings wieder barfuß, als ihre Mutter zu Grabe getragen wurde. Eine vornehme ältere Dame, die das sah, nahm sich des Waisenmädchens an. Sie kleidete Karen ein und ließ die roten Schuhe ins Feuer werfen.
Als die Königin mit ihrer Tochter das Land bereiste und vom Volk bejubelt wurde, fielen Karen die roten Saffianschuhe der Prinzessin auf. Kurz darauf wurde sie für die bevorstehende Einsegnung neu eingekleidet und entschied sich für ein Paar feiner roter Schuhe. Die alte Dame hätte nicht zugelassen, dass Karen bei der Einsegnung rote Schuhe trug, aber sie war inzwischen fast erblindet und konnte die Farbe nicht erkennen. So kam es, dass in der Kirche alle auf Karens rote Schuhe starrten.
Bei einem sonntäglichen Kirchgang mit ihrer Pflegemutter trug Karen wieder ihre roten Schuhe. Als sie nach der Messe in die Kutsche steigen wollte, wunderte ein alter Soldat sich über die schönen Tanzschuhe, und Karen fühlte sich dazu ermuntert, ein paar Tanzschritte auszuführen. Aber sie konnte mit dem Tanzen nicht mehr aufhören: die Schuhe tanzten von allein weiter. Erst als sie die roten Schuhe abstreifte, kamen ihre Beine zur Ruhe.
Während die alte Dame sich zum Sterben niederlegte, ging Karen mit ihren roten Schuhen auf einen Ball. Wieder machten die Schuhe sich selbstständig und zwangen Karen, unermüdlich zu tanzen, hinaus aus dem Ballsaal und bis in den finsteren Wald hinein. Vergeblich versuchte sie, die Schuhe auszuziehen: sie saßen an ihren Füßen fest. Eines Tages tanzte sie an dem Haus vorbei, in dem sie gewohnt hatte und sah, wie der Sarg mit ihrer Gönnerin herausgetragen wurde. Endlich kam sie tanzend zum Haus des Scharfrichters. Den bat sie verzweifelt, ihr die Füße mit den Schuhen abzuschlagen. Die Schuhe tanzten mit den Stümpfen weiter. Für Karen schnitzte der Scharfrichter Holzprothesen und Krücken. Damit ging sie in die Kirche, um zu beten – aber da tanzten die roten Schuhe vor ihr her und sie kehrte entsetzt um.
Schließlich nahm die Pfarrersfrau sie als Dienstmagd auf, aber Karen wagte sich nicht mehr in die Kirche.
Erst als ihre Seele zum Himmel auffuhr, fragte niemand mehr nach den roten Schuhen.
Der Schatten
Ein junger Gelehrter kommt aus dem kühlen Norden in den heißen Süden.
In den heißen Ländern brennt die Sonne freilich anders als bei uns. Die Leute werden ganz mahagonibraun, ja, in den allerheißesten Ländern brennen sie gar zu Mohren.
Obwohl in dem Haus gegenüber Blumen am Fenster stehen und Musik zu hören ist, sieht der Gelehrte nie jemanden herauskommen oder hineingehen. (Erst später erfährt er, dass dort die Poesie wohnt.) Als er einmal nach Sonnenuntergang auf dem zu seinem Zimmer gehörenden Balkon sitzt, wirft das in der Stube brennende Licht seinen Schatten auf die Mauer des Nachbarhauses. Da fordert er seinen Schatten auf, sich im Inneren des Hauses umzusehen. Das hätte er besser nicht getan, denn am anderen Morgen, als er ausgeht, um einen Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen, merkt er, dass er keinen Schatten mehr hat.
Am Abend ging er wieder auf seinen Altan hinaus, das Licht hatte er ganz richtig hinter sich gesetzt, denn er wusste, dass ein Schatten stets seinen Herrn als Schirm haben will; aber er konnte ihn nicht herbeilocken.
Einige Jahre nachdem der Gelehrte in den Norden zurückgekehrt ist, klopft ein schwarz gekleideter Fremder an seine Tür.
„Ja, das habe ich mir wohl gedacht!“, sagte der feine Mann, „dass Sie mich nicht erkennen würden. Ich bin so sehr zum Körper geworden, dass ich mir habe Fleisch und Kleider zulegen müssen. Sie haben sich wohl auch nicht gedacht, mich in solchem Wohlstand wiederzusehen! Kennen Sie Ihren alten Schatten nicht wieder?“
Der Gelehrte kann es kaum glauben, dass sein Schatten in der Welt herumgekommen und reich geworden ist. Der Gelehrte ist dagegen kränklich und die Leute behaupten, er sehe wie ein Schatten aus.
„Ach“, sagte der gelehrte Mann, „ich schreibe über das Wahre und das Gute und das Schöne; aber kein Mensch macht sich etwas daraus, dergleichen zu hören.“
Da lädt ihn der Schatten zu einer Reise ein.
So reisten sie denn; der Schatten war der Herr und der Herr war der Schatten. Sie fuhren miteinander, sie ritten und gingen zusammen, Seite an Seite, vor- und hintereinander, wie eben die Sonne stand.
In einem Kurort begegnen sie einer wunderschönen Prinzessin, die sich dort von einer Erkrankung erholt. Sie wundert sich darüber, dass der Fremde keinen Schatten hat, aber der erklärt ihr, er habe seinen Schatten wie einen Menschen herausgeputzt und fordert sie auf, mit dem Schatten – bei dem es sich in Wirklichkeit um den Gelehrten handelt – ein kluges Gespräch zu führen. Die Prinzessin ist tief beeindruckt von dem Mann, der sich einen so wertvollen Schatten leisten kann, Sie beschließt, sich mit ihm zu vermählen und fordert ihn auf, sie in ihr Heimatland zu begleiten. Am Hochzeitstag wendet der Schatten sich an den Gelehrten:
„Nun bin ich so glücklich und mächtig geworden, wie man es nur werden kann; nun will ich auch etwas ganz Besonderes für dich tun. Du sollst immer bei mir im Schlosse wohnen, mit mir in meinem königlichen Wagen fahren und tausend Reichstaler im Jahre bekommen; aber dann musst du dich Schatten nennen lassen von all und jedem Menschen. Du darfst nicht sagen, daß du jemals Mensch gewesen bist, und einmal im Jahr, wenn ich im Sonnenschein auf dem Altan sitze und mich dem Volke zeige, musst du zu meinen Füßen liegen, wie es sich für einen Schatten gehört.“
Auf diesen Betrug lässt der Gelehrte sich nicht ein und er droht, der Prinzessin die Wahrheit zu sagen. Der Schatten eilt daraufhin zu seiner Verlobten und erzählt ihr, sein Schatten sei verrückt geworden: „Er glaubt, er sei der Mensch und ich sein Schatten!“ Die Prinzessin hält es für das Beste, den bereits eingesperrten vermeintlichen Schatten ohne Aufsehen „von dem bisschen Leben zu befreien, das er hat“. Ihr Bräutigam seufzt heuchlerisch. – Von der Hochzeitsfeier bekommt der Gelehrte nichts mehr mit; da ist er bereits tot.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Weltberühmt wurde Hans Christian Andersen durch seine mehr als einhundertsechzig Märchen, die er 1835 bis 1848 in acht Bänden publizierte (Andersens Märchen). Dabei bearbeitete er Volksmärchen, bis sie seinen literarischen Ansprüchen genügten und von Kindern verstanden werden konnten. Zugleich achtete er darauf, dass seine romantischen Kunstmärchen wie gesprochen klingen. Aus Andersens Märchen lernen Kindern etwas über das Leben, über menschliche Schwächen und moralische Gebote. Weil die Geschichten liebevoll ausgeschmückt, fantasievoll und originell sind, bietet ihre Lektüre auch Erwachsenen Erbauung und Vergnügen.
Anlässlich des 200. Geburtstags von Hans Christian Andersen brachte susithevoice 2005 eine von Susi Mueller besprochene Aufnahme des Märchens „Die kleine Meerjungfrau“ heraus (ISBN 3-938700-01-7, 31 Minuten, 8.90 €).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: Projekt Gutenberg
Hans Christian Andersen (Kurzbiografie)