Sándor Márai : Befreiung

Befreiung
Manuskript: Juli – September 1945 Originalausgabe: Szabadulás Regény Verlag, Budapest 2000 Befreiung Übersetzung: Christina Kunze Piper Verlag, München 2010 ISBN: 978-3-492-05372-3, 194 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Weil Erzsébets verwitweter Vater, ein Astronomie-Professor, in Budapest Juden half, suchen die Faschisten 1944 nach ihm, und er muss sich verstecken. Auch seine Tochter, eine 23-jährige Biologiestudentin, taucht mit gefälschten Papieren unter. Tagelang haust sie mit 140 anderen Personen in einem Luftschutzkeller und wartet auf die Befreiung durch die Rote Armee. Nachdem alle bis auf Erzsébet und einen gelähmten Mathematiker den Raum verlassen haben, taucht ein junger Russe auf ...
mehr erfahren

Kritik

Sándor Márai schrieb den Roman "Befreiung" in einem Furor unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gerade weil der Text nicht sorgsam poliert wurde, entwickelt er beim Lesen eine ungeheure Kraft und Intensität.
mehr erfahren

Erzsébets verwitweter Vater, ein Astronomie- und Mathematik-Professor in Budapest, beschäftigt sich lieber mit den Geheimnissen des Himmels als mit den Menschen. Doch als die Juden in seiner Heimatstadt verfolgt werden wie schädliche Tiere [Judenverfolgung], hilft er ihnen nach Kräften – und gehört deshalb bald selbst zu den Verfemten. Als die Deutschen am 19. März 1944 Budapest besetzen, sucht die Gestapo nach ihm. Doch er war rechtzeitig gewarnt worden und fuhr mit dem Frühzug aufs Land. Seine dreiundzwanzigjährige Tochter tauchte an diesem Morgen ebenfalls unter. Die Biologiestudentin muss sich nicht nur wegen ihres Vaters verbergen, sondern auch, weil sie der Aufforderung, sich vor den Bolschewiken nach Deutschland zu retten, nicht nachkam. Die Tochter einer Putzfrau an der Universität besorgt ihr gefälschte Papiere auf den Namen Erzsébet Sós. Dass der Vorname mit ihrem richtigen übereinstimmt, ist Zufall.

Erzsébet und ihr Vater sind nicht die Einzigen, die sich vor den Nationalsozialisten und den Pfeilkreuzlern verstecken müssen. Manche halten das nicht lange durch.

Die Leute verstecken sich, monatelang, mit „einwandfreien“ Papieren, mit fieberhafter Vorsicht, aber dieselben Leute verließen plötzlich, um fünf Uhr am Nachmittag, aus einer Nervenkrise heraus, ihren Schlupfwinkel, gingen auf die Straße, in ihr Stammcafé oder ins Lichtspieltheater, liefen der Polizei oder den politischen Ermittlern geradewegs in die Arme. (Seite 9)

Die Wohnung, in der Erzsébet und ihr Vater bis zum Einmarsch der Deutschen lebten, wird zerstört. Dabei werden auch fast alle Aufzeichnungen, Berechnungen und Manuskripte des Professors vernichtet.

Zuerst hatten die deutschen Schergen die Zimmer durchsucht, dann hatten unbekannte und rätselhafte Hände Kleider und Gebrauchsgegenstände gestohlen; im Oktober, nach dem Aufstand der Pfeilkreuzler, forschten Diebe mit Armbinden in den erkalteten und verwüsteten Zimmern nach verbliebener Beute, bis im November eine Bombe das Haus und die Wohnung gänzlich zerstört hatten. (Seite 13f)

Um zu überleben, muss Erzsébet alles, was ihr verblieb auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Danach besitzt sie nicht einmal mehr Unterwäsche zum Wechseln.

Ihr Freund Tibor setzte sich rechtzeitig ins Ausland ab, weil er „nicht auf die Widerstandskraft der ungarischen Gesellschaft vertraute“ und an ihrer „moralischen Widerstandskraft“ zweifelte (Seite 35). Erzsébet sollte mitkommen, aber sie wollte ihren Vater nicht allein lassen.

Eine Kommilitonin, die den Pfeilkreuzlern nahesteht und unter ihnen einen Geliebten hat, warnt Erzsébet zwei Tage vor Weihnachten, man kenne inzwischen das Versteck ihres Vaters und werde ihn noch in der Nacht festnehmen. Fieberhaft sucht Erzsébet nach einem neuen Unterschlupf für ihn. Aber die meisten Menschen, denen sie vertraut, sind nicht mehr da oder wagen es nicht, jetzt noch jemanden aufzunehmen. Das Risiko erscheint ihnen zu groß. In ihrer Not wendet sich Erzsébet an den Hausmeister des Gebäudes gegenüber des großen Mietshauses, in dem sie selbst wohnt. Es handelt sich um einen arbeitslosen Buchbinder, einen Sabbatarier. Ohne viel zu fragen oder zu erklären, fordert er Erzsébet auf, ihren Vater zu einer Kellertür am Klempnergeschäft in der Seitenstraße zu bringen. Im Keller holt er zwei Reihen Ziegel aus einer Wand, lässt den Professor hindurchkriechen und mauert das Loch wieder zu. Nur eine kleine Öffnung bleibt, damit der Sabbatarier Erzsébets Vater und die anderen fünf schon seit einiger Zeit eingemauerten Männer versorgen kann. Erzsébet weiß nicht, warum er das tut.

Was verbirgt sich in solch einem Menschen? Geld verlangt er nicht. (Seite 44)

Erzsébet aber ist voller Zuversicht. Der Vater wird überleben, und Tibor kommt zurück. (Seite 49)

Sie geht zurück ins Haus gegenüber, in das Dienstbotenzimmer der Wohnung im 3. Stock, und legt sich im Mantel aufs Eisenbett. Heizen kann sie nicht, und es hätte auch keinen Sinn, denn die Druckwelle von Bombenexplosionen hat die Fensterscheiben zerbrochen.

Russische Flugzeuge greifen an.

Als ein Nachbarhaus einstürzt und die Überlebenden von dort in den Luftschutzkeller des großen Mietshauses drängen, eilen auch dessen Bewohner hinunter, um zu verhindern, dass die Neuen die besten Winkel erobern. Einhundertvierzig Menschen hausen schließlich in dem Luftschutzraum. Erzsébet ist unter ihnen. Der Strom fällt aus. Wasser muss mit Eimern und Töpfen von einem Brunnen in der Nachbarstraße geholt werden. Zu essen gibt es allerdings noch reichlich. Es wird sogar gekocht. Die Menschen hoffen auf die baldige Befreiung durch die Rote Armee.

Der Krieg ist hier, man hört ihn keuchen. Als würde sich im Dunkeln ein Ungeheuer über sie beugen. Sein stinkender, wilder Atem ist zu spüren, das heiße Schnüffeln im Nacken des Opfers. (Seite 72)

Erzsébet erträgt all dies. Sie begehrt nicht auf […] Sie spürt eine Art Milde wie vielleicht noch nie zuvor. Diese Milde hat sich unerwartet eingestellt wie ein Geschenk. (Seite 65)

Eines Morgens werden alle geweckt. Vier Pfeilkreuzler leuchten mit einer Taschenlampe in die Gesichter. Erzsébet denkt zunächst, die Männer seien auf Raub aus, aber sie haben es auf einen jüdischen Zahntechniker abgesehen, den wohl der Hauswart denunzierte. Sie zerren ihn ins Freie und erschießen ihn.

Es heißt, die Rote Armee sei bereits bis in ein Nachbarhaus vorgedrungen. In der ersten Etage des Wohnblocks, in dem sich der Luftschutzkeller befindet, haben fünf SS-Männer eine MG-Stellung errichtet.

Eine Jüdin, die bisher kaum ein Wort sagte, um sich nicht zu verraten, berichtet plötzlich von Auschwitz. Gleich nach der Ankunft sah sie, wie ihr Vater einer Kolonne zugeteilt wurde, die man dann zu den angeblichen Duschräumen führte. Sie wurde stattdessen zum Arbeiten eingeteilt und überlebte den Holocaust. Schlimmer noch als die Bestien unter den Aufsehern im Vernichtungslager seien Funktionsträger gewesen, die ruhig und diszipliniert ihren Dienst taten, erklärt die Frau. Sie ist verrückt, seit die Nationalsozialisten ihren Vater, ihren Ehemann und ihre zwei Kinder ermordeten.

„Diese stille Disziplin, verstehen Sie? Das war schlimm, schlimmer als alles.“ (Seite 104)

Der Hauswart taucht mit zwei deutschen Soldaten auf und ordnet an, dass alle den Keller innerhalb von zehn Minuten verlassen. Nur zwei Menschen bleiben unbemerkt in einem dunklen Winkel zurück: Erzsébet und ein seit vier Jahren gelähmter Mathematiker. Er habe in Wien gelebt, bis die Deutschen einmarschierten, erzählt er. Daraufhin sei er in seine Heimatstadt Budapest zurückgekehrt.

Erzsébet sagt:

„Ich glaube, dass niemand vergeblich gelitten hat, ich glaube, dass die Menschen aus dem Leiden lernen. Ich glaube, dass es etwas gibt, das letzten Endes stärker ist als der Hass.“ (Seite 136)

Der Gelähmte teilt diese optimistische Ansicht nicht.

„Sie glauben daran, dass das Leiden die Menschen zur Liebe erzieht, Sie glauben, dass die Liebe den Menschen vom Leid und vom Elend befreit.“ (Seite 136)

Die beiden warten im Luftschutzkeller auf die Befreier. Auf Propaganda-Plakaten wurden die Bolschewisten als Bestien dargestellt. Erzsébet hat noch keinen Russen gesehen, aber sie vermutet, dass es Menschen sind wie andere auch. Das bestätigt sich, als ein Russe mit einer Maschinenpistole am Eingang auftaucht. Er ist groß, kräftig und noch keine dreißig Jahre alt. Erzsébet versucht ihm zu erklären, dass keine Deutschen mehr da sind, aber die Verständigung ist schwierig, weil sie nicht russisch kann und der Soldat kein Ungarisch versteht. Erzsébet streckt ihm die Hand hin. Er nimmt sie nicht. Wachsam und misstrauisch blickt er sich um. Den im Dunkeln liegenden Gelähmten bemerkt er allerdings nicht. Endlich lässt er die Waffe sinken, aber er bleibt auf der Hut. Aus einer zurückgelassenen Pálinka-Flasche schenkt Erzsébet ein Wasserglas voll und reicht es ihm. Der Russe trinkt es in einem Zug.

Plötzlich packt er sie am Arm und vergewaltigt sie. Sie spürt den Schmerz, muss sich übergeben, und er wischt ihr den Mund ab. Der Hunger übermannt sie. Als der Russe sieht, wie sich Erzsébet über ein Stück Brot hermacht, schenkt er ihr eine Tüte Zucker, die er bei sich hat. Dann drückt er ihr schweigend die Hand und verlässt den Luftschutzraum.

Erzsébet verübelt es dem Befreier nicht, dass er sie vergewaltigt hat. Betäubt, müde und gleichgültig macht sie sich auf den Weg und geht ruhig dem Hauswart und zwei Russen entgegen, die in diesem Augenblick hereinkommen. Die Männer lassen sie durch.

In der dritten Nacht nach dem Neujahrstag – am vierundzwanzigsten Tag der Belagerung Budapests – fasste eine junge Frau im Schutzraum eines großen Mietshauses in der Innenstadt den Entschluss, aus dem belagerten Haus zu verschwinden, die zum Kriegsschauplatz umgestaltete Straße zu überqueren und, egal wie und um jeden Preis, in die zugemauerte Nische des Luftschutzkellers im gegenüberliegenden Haus zu gelangen zu dem Mann, der mit fünf weiteren schon die dritte Woche in diesem Versteck bangte. Dieser Mann war der Vater der jungen Frau. (Seite 7)

Auf dem Trottoir liegt der junge Russe. Er starb durch einen Kopfschuss.

Ratlos steht sie noch eine Zeit lang da. Sie friert sehr. Sie geht um den toten Russen herum und mit unsicheren Schritten auf das gegenüberliegende Haus zu. (Seite 186)

„Es scheint, ich bin frei“, sagt sie laut. (Seite 185)

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Sándor Márai schrieb den Roman „Befreiung“ im Spätsommer 1945 innerhalb von sieben Wochen, beabsichtigte jedoch nicht, ihn drucken zu lassen. Das Manuskript wurde erst nach seinem Tod entdeckt und 2000 veröffentlicht. Eine erste deutschsprachige Ausgabe erschien im Januar 2010.

„Befreiung“ enthält ein paar Fehler, die vor einer Drucklegung zu Lebzeiten des Autors gewiss korrigiert worden wären. So wechselt beispielsweise das Datum einmal vom 3. Januar zum 19. Januar. Unwahrscheinlich ist es außerdem, dass sich eine Jüdin, die Auschwitz überlebt hat, bereits Ende 1944 / Anfang 1945 wieder in Budapest aufhält. (Das Vernichtungslager wurde erst am 27. Januar 1945 befreit.)

Diese kleinen Mängel nimmt man als Leser gern in Kauf, denn sie sind der Preis für den Furor, in dem Sándor Márai den atmosphärisch dichten Roman unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat. Gerade weil die Sprache nicht sorgsam poliert ist, entwickelt sie beim Lesen eine ungeheure Kraft und Intensität. „Befreiung“ ist ein mitreißender, aufwühlender, erschütternder Roman. Es geht darin um die Frage, wie man in einem sinnlosen Krieg Würde bewahren kann. Sándor Márai erzählt aus der Sicht der Protagonistin, einer dreiundzwanzigjährigen Biologiestudentin, die sich ebenso wie ihr Vater vor den Faschisten und Pfeilkreuzlern in Budapest versteckt und auf die Befreiung durch die Rote Armee wartet. Das Buch beginnt und endet damit, dass sie am 3. Januar 1945 den Luftschutzraum eines großen Mietshauses verlässt und die Straße überquert, um zu ihrem Vater zu kommen, der im Keller des Gebäudes auf der anderen Seite eingemauert ist. Die Szene steht auf Seite 7 im Imperfekt, auf Seite 186 jedoch im Präsens. Dazwischen erinnert Erzsébet sich an das, was sie in den vergangenen zehn Monaten durchgemacht hat.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Piper Verlag

Sándor Márai: Die Glut
Sándor Márai: Die Möwe

Nagib Machfus - Miramar
Mit einem Konglomerat von aus vier verschiedenen Perspektiven erzählten Geschichten vermittelt der Nobelpreisträger Nagib Machfus in "Miramar" ein ebenso realistisches wie kritisches Bild von der ägyptischen Gesellschaft unter Gamal Abd el Nasser.
Miramar

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.