Lara Andriessen : Verdauung der Masken
Inhaltsangabe
Kritik
Bei meiner Mutter reichte mein bloßer Anblick aus, sie böse werden zu lassen. Mehr und mehr geriet sie außer sich – schlug besinnungslos auf mich ein. (Seite 14)
Die Mutter ohrfeigt ihre kleine Tochter Lara nicht nur für die unbedeutendsten Vergehen, sondern schlägt auch mit einem Schuh, einem Teppichklopfer oder einem Ledergürtel auf sie ein. Einmal hat das Mädchen Fieber und lässt deshalb die ihm aufgetragene Hausarbeit liegen. Ohne sich um den Grund zu kümmern, verprügelt die Mutter das Kind. Einige Zeit nachdem Lara endlich erschöpft eingeschlafen ist, schreckt sie verschwitzt aus einem Albtraum hoch – und wundert sich, dass ihr Vater bei ihr ist, denn der hat sich bisher noch kaum um sie gekümmert.
Aber jetzt plötzlich war er da in meiner Not. Von ihm hatte ich am wenigsten von allen Menschen auf Hilfe gehofft. Aber da war er nun und streichelte mich. Langsam wagte ich es, meinen Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu sehen. Er lächelte mich tatsächlich besorgt an. Begann meine schweißnassen Haare zu streicheln. Nicht zu fassen. Mein Vater gab mir Zärtlichkeit. Ich war außer mir, geriet total durcheinander. Dies bewirkte, dass sich bei mir wieder alle Schleusen öffneten. Die Tränen rannen mir erneut über die Wangen. Ich konnte mein Schluchzen nicht mehr aufhalten […] (Seite 20f)
Im Etagenbett über Lara schläft ihre ein paar Jahre ältere Schwester Bea, reagiert jedoch nicht auf den Besuch des Vaters im Kinderzimmer. Wortlos stellt er einen Stuhl in die Mitte des Kinderzimmes und hebt Lara aus dem Bett.
Vertrauensvoll legte ich meine dünnen Kinderärmchen um seinen Hals. Er hatte starke und warme Hände. Und ich liebte ihn in diesem Moment. Er kümmerte sich um mich. Vielleicht war jetzt alles gut […] (Seite 21)
Mit seiner kleinen Tochter auf dem Schoß setzt er sich auf den Stuhl.
Ich kuschele mich an ihn […] Langsam streichelt seine Hand über mein Nachthemd. Langsam und behutsam. Seine andere Hand hielt mich zärtlich fest. Ich sehe in sein Gesicht. Er lächelt. Seine Augen betrachten mich zärtlich. Das kannte ich nicht. So hatte er mich noch nie angesehen […] Noch immer streichelten mich seine Hände. Doch jetzt glitten sie nach unten und dann noch weiter hinunter […] Papas Hände glitten noch weiter nach unten und in mein Höschen hinein. Mein Körper erstarrte vor Schreck […] Ich spürte einen Finger, seinen Finger. Einen einzelnen Finger in mir drin […] Ich bäume mich auf, doch er hält mich fest mit seinen starken Armen […] Das ganze Gesicht strahlt nur eine fleischige Masse aus Gier und Grausamkeit aus […] (Seite 22)
Beinahe in jeder dienstfreien Nacht missbraucht der Polizeibeamte seine kleine Tochter. Wenn er mit seinem harten Penis in ihren Anus oder in ihre Vagina stößt, glaubt sie zu zerreißen.
Ihr Vater hatte sie zu seinem Eigentum gemacht. Lara ging in seinen Besitz über. Gehörte nur noch ihm. Ihm ganz allein. (Seite 37)
Sie ist noch keine zwölf, da hält sie es nicht mehr aus. Obwohl ihr der Hausarzt unsympathisch ist, weil er sie bei jeder Konsultation gynäkologisch untersucht, geht sie zu ihm in die Sprechstunde, klagt über Schlafstörungen und erreicht, dass er ihr ohne Rücksprache mit ihren Eltern Schlaftabletten verschreibt (Seite 41f). Die besorgt sie sich in einer Apotheke und schluckt sie alle auf einmal. Weil das Medikament aber nicht stark genug ist, kommt sie in einem Krankenhausbett wieder zu sich.
Mit zwölf verliebt sie sich in Wolfgang, einen neun Jahre älteren Polizisten. Als seine Hände unter ihren Pullover gleiten, assoziiert sie das mit den schmerzhaften Besuchen ihres Vaters im Kinderzimmer. Panisch vor Angst drängt sie Wolfgang zurück. Kurz darauf ruft er sie an, erklärt ihr, sie sei zu jung für ihn und trennt sich von ihr.
Einmal kommt der Vater nachts nicht allein an Laras Bett, sondern bringt seinen ebenfalls betrunkenen Bruder mit. Beide sind in Unterhosen. Der Onkel kniet sich von hinten auf Laras Arme und schiebt ihr seine ekelige Zunge in den Mund, während ihr der Vater die Beine spreizt und mit seinem Penis zustößt. „Willst du auch mal?“, fragt er seinen Bruder. Lara hat sich längst angewöhnt, ihren Körper während des qualvollen Missbrauchs wie eine Hülle zu verlassen, doch als der Vater mit einem Messer über ihren Körper streicht, schreit sie vor Schreck. Ihre Mutter reißt die Tür auf. Die beiden Männer rennen hinaus. „Hilf mir, Mama, bitte hilf mir!“, stöhnt das gequälte Kind, aber die Mutter herrscht es an: „Hör auf zu schreien! Es ist vorbei! Schlaf jetzt!“ (Seite 72) – Bea will von all dem nichts mitbekommen haben.
Und was war mit Bea? Wusste sie etwas? Sie schlief ja immerhin mit ihr in einem Zimmer. Warum ist sie niemals aufgewacht, wenn Lara von der Maske besucht wurde? […] Ihre Schwester schlief doch direkt über ihr im Etagenbett. Warum hörte sie nichts? Warum sah sie nichts? (Seite 102)
Im Alter von dreizehn Jahren versucht Lara, sich erneut das Leben zu nehmen, aber es misslingt ihr auch dieses Mal.
Daraufhin reißt sie von zu Hause aus. Mit Ken, den sie auf der Straße kennen lernt, schleicht sie nachts heimlich in den Keller ihres Elternhauses, um dort zu schlafen. Ken gehört einer Motoradclique an und bleibt ein paar Tage mit Lara zusammen. Sie küssen und streicheln sich, aber als er ihre Angst vor dem Geschlechtsverkehr spürt, zwingt er sie zu nichts. Die Beziehung ist nur von kurzer Dauer, denn nachdem einzelne Mitglieder der Gang verhaftet wurden, trennt Ken sich von Lara und taucht unter, um der Festnahme zu entgehen.
Lara wird von der Polizei aufgegriffen, von ihren Eltern im Polizeirevier abgeholt und in ein Heim für schwer erziehbare Mädchen gebracht. Von dort holt Bea sie schließlich wieder nach Hause.
Ihre neue Liebe heißt Bruno. Er ist elf Jahre älter als sie. Um ihn beinahe täglich treffen zu können, lügt Lara zu Hause, sie habe eine neue Freundin.
Erst nach einem Jahr gelingt es ihm, sie zu überreden, sich ihm hinzugeben. Zum ersten Mal liegen sie beide nackt auf dem Bett. Zärtlich nimmt er sie in die Arme und streichelt sie. Dann verliert er die Selbstbeherrschung und fällt rücksichtslos über sie her, ohne auf ihr verzweifeltes Schreien zu achten.
Als Laras Vater beobachtet, wie sie von Bruno nach Hause gebracht wird, prügelt er in der Diele wütend auf sie ein. Bruno entdeckt die Hämatome und Hautabschürfungen an Laras Körper und drängt sie, ihre Familie zu verlassen. Erstaunlicherweise erlauben es die Eltern, dass sie an ihrem fünfzehnten Geburtstag in Brunos kleine Wohnung zieht.
Mit sechzehn wird sie erstmals schwanger. Im vierten Monat setzen wehenartige Schmerzen ein. Ihr Vater fährt sie ins Krankenhaus. Dort wird sie drei Tage lang untersucht; dann teilt ihr der Arzt mit, ein Abortus müsse eingeleitet werden, weil der Fetus tot sei. Während sie für den Eingriff vorbereitet wird, schreckt sie noch einmal aus ihrer ersten Betäubung hoch – und blickt auf den erigierten Penis des Narkosearztes zwischen ihren Beinen (Seite 121). – Jahre später bestätigt sich ihr Verdacht, dass es sich bei der Operation um die Abtreibung eines lebenden Fetus handelte und ihr Vater dem Gynäkologen dafür Geld angeboten hatte.
Laras zweite Schwangerschaft endet im vierten Monat, als sie schmerzgekrümmt auf der Toilette sitzt und den Fetus verliert (Seite 124).
Lara beginnt unter Brunos krankhafter Eifersucht und Aggressivität zu leiden. Dass er sich immer wieder betrinkt, macht alles nur noch schlimmer. Zweieinhalb Jahre hält sie es mit ihm aus. Aber sobald sie ihre Krankenschwestern-Ausbildung abgeschlossen hat, beginnt sie in einem Städtischen Krankenhaus zu arbeiten, verlässt Bruno und zieht in ein Schwesternwohnheim. Zweimal schlägt Bruno sie zusammen; beim zweiten Mal flieht sie in ihrer Verzweiflung auf eine stark befahrene Straße und wirft sich vor ein Auto. Die Fahrerin, die gerade noch bremsen konnte, bringt die völlig verstörte junge Frau in ein Krankenhaus. Bruno wird festgenommen und wegen schwerer Körperverletzung zu zweieinhalb Monaten Haft verurteilt. Aus Angst, er könne ihr nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis etwas antun, verlässt Lara die Stadt.
Ein Autofahrer, den sie nach einem Zimmer fragt, nimmt sie mit in seine Villa und macht sie zur Edelprostituierten. Carl, einer ihrer Freier, löst sie nach ihrem dritten Selbstmordversuch an ihrem achtzehnten Geburtstag aus, nimmt sie mit zu sich und heiratet sie zwei Jahre später. Im Abstand von drei Jahren kommt sie mit zwei Töchtern nieder: Mera und Jada. Das dritte Kind – der behinderte Sohn Valentin – wird durch eine Vergewaltigung in der Ehe gezeugt. Carl arbeitet als Ingenieur und ist häufig dienstlich verreist. Um die Kinder und den Haushalt kümmert er sich nicht.
Lara beginnt schließlich ein Doppelleben und arbeitet nachts unter dem Namen Katja wieder als Edelprostituierte. Einer der Freier verliebt sich in sie und erschießt sich, als er begriffen hat, dass sie verheiratet ist und sich nicht scheiden lassen will.
Eines Tages stellt sich bei einer gynäkologischen Untersuchung heraus, dass Lara krebskrank ist. Jahrelang verdrängt sie die Diagnose, bis sie im Alter von dreiunddreißig Jahren endlich in eine Operation einwilligt.
1995 macht Carl mit den Kindern zwei Wochen Urlaub in Spanien. In dieser Zeit lernt Lara in einer Boutique einen Mann namens Manjen kennen und beginnt noch am gleichen Tag eine Affäre mit ihm. Manjen bringt sie dazu, am 7. Mai eine Erklärung zu unterschreiben, derzufolge Valentin durch eine Vergewaltigung in der Ehe gezeugt wurde und eine Vollmacht, die ihren Liebhaber und dessen Sohn berechtigt, zu ihrem Schutz ihr Familienhaus zu betreten. Außerdem verlangt Manjen einen Hausschlüssel. Lara will sich von dem Mann scheiden lassen, der sie seit neunzehn Jahren unterdrückt, aber sie glaubt zugleich, Manjen aufhalten zu müssen.
Dieser Mann war gefährlich für sie. Wieder war sie auf einen Menschen gestoßen, der sie nicht sich selbst sein lassen wollte. Und es reifte der Entschluss in ihr, sich von ihm zu trennen. (Seite 203)
Sechs Wochen nach dem Beginn der Affäre sagt sie Manjen, sie wolle sich von ihm trennen. Daraufhin droht er, ihren Ruf zu vernichten, ihre Kinder zu tyrannisieren und die Karriere ihres Mannes zu zerstören. Dann vergewaltigt er sie im Auto. Lara weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als sich Carl anzuvertrauen. Am nächsten Morgen gehen sie zum Polizeirevier, wo man Lara dazu auffordert, Anzeige zu erstatten. Davor schreckt sie zurück und fragt stattdessen einen Staatsanwalt um Rat. Der erhebt von sich aus Anklage gegen Manjen wegen Nötigung, Erpressung und Vergewaltigung. Als Manjen von Carl das für Lara ausgegebene Geld zurückverlangt, schaltet das Ehepaar eine Rechtsanwältin ein. Am 28. Mai – Carl ist mit den Kindern zum Wandern gefahren – steht Manjen vor der Haustür. Statt zu öffnen, ruft Lara die Polizei, und zwei Streifenbeamte, die kurz darauf eintreffen, fordern Manjen auf, wieder wegzufahren.
In der „Beratungsstelle bei Vergewaltigung und Gewalt an Mädchen und Frauen“ (ARADIA) findet Lara endlich die Kraft, über ihr Schicksal zu reden und auch die Beobachtungen nicht länger zu verdrängen, die darauf hindeuten, dass ihre Tochter Jada Opfer eines Missbrauchs geworden ist. Das Mädchen schweigt allerdings, und die Indizien reichen nicht aus, um Anzeige zu erstatten.
Lara meldet sich in einer von ARADIA vermittelten Frauen-Wohngemeinschaft an. Kurz bevor sie dort einziehen kann, erkrankt sie an Grippe. Carl gibt ihr die vom Arzt verschriebenen Medikamente, aber sie fühlt sich von Tag zu Tag schlechter. Erst als sie nichts mehr einnimmt, erholt sie sich wieder. Im Oktober 1995 verlässt sie Carl. Die Kinder bleiben bei ihm.
Am 25. Januar 1996 gerät sie mit ihrem Auto ins Schleudern. In einer Tankstelle stellt sich heraus, dass Radmuttern locker waren. Acht Wochen später holt sie eine seit zwei Tagen auf dem Rücksitz liegende Flasche Rotwein aus dem Auto und trinkt ein Glas. Davon wird ihr übel. In dem Wein stellt das Landeskriminalamt Spuren des Beruhigungsmittels Bromacetan fest. Versucht Carl, die Veröffentlichung des autobiografischen Buches „Verdauung der Masken“, an dem sie gerade arbeitet, mit allen Mitteln zu verhindern? Sie stellt Strafanzeige, aber die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren nach einiger Zeit ein, weil die Verdachtsmomente nicht für eine Anklageerhebung ausreichen (Seite 252).
In einem Brief vom 29. Oktober 1996 an ihre Eltern schreibt Lara:
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Ich habe mein Schweigen gebrochen. Jetzt beginnt für mich der Weg der Heilung.“ (Seite 256)
Was ist an dieser schockierenden Erzählung authentisch und was nicht?
Lara Andriessen wurde am 1. April 1956 als Tochter eines Polizeibeamten und einer Angestellten in Berlin-Wedding geboren. In einem unveröffentlichten Lebenslauf gibt sie an, dass sie von klein auf den „Schlagorgien“ ihrer Mutter und der Gewalt ihres Vaters ausgeliefert war. Im Alter von acht Jahren unternahm sie den ersten Selbstmordversuch. Fünf Jahre später riss sie von zu Hause aus, lebte einige Zeit als Straßenkind in Berlin und wurde dann in ein Heim für schwer erziehbare Mädchen gesperrt, aus dem sie schließlich ausbrach. Als sie mit vierzehn von ihrem Vater schwanger geworden sei, habe er für eine Abtreibung gesorgt, heißt es weiter in ihrem Lebenslauf. Sie war noch keine fünfzehn, als sie ihr Elternhaus endgültig verließ. Während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester war sie mit einem Mann namens Bruno zusammen, aber die Beziehung endete „in einem Desaster voller Eifersucht und Alkoholprobleme mit Prügel und Folter“ (a.a.O.). Als Siebzehnjährige zog sie von Berlin in die Pfalz und wurde eine Edelhure. Ein reicher Freier holte sie aus der Prostitution und heiratete sie 1976. Dieser Ehe, die 1995 geschieden wurde, entstammen drei Kinder: zwei Töchter und ein autistischer Sohn.
Auf dem Buchrücken steht: „Sogar Mordversuche wurden unternommen, um die Veröffentlichung des Buches zu verhindern.“ Das wirkt reißerisch, denn aus der Erzählung glauben wir zu wissen, dass die Staatsanwaltschaft das entsprechende Verfahren ohne Anklageerhebung einstellte (Seite 252).
„Verdauung der Masken“ ist kein Tatsachenbericht, sondern eine Erzählung. Da ist es natürlich erlaubt, Fakten und Fiktion zu mischen. Aber auch eine rein fiktionale Erzählung sollte in sich plausibel und glaubwürdig wirken. Einige der Szenen in „Verdauung der Masken“ erfüllen diesen Anspruch jedoch nicht.
Lara erwachte mitten im Operationsgeschehen. Es dauerte eine Weile, bis sich die Ärzte von diesem Schreck erholt hatten. Währenddessen werkelte Lara schon wie besessen an sämtlichen Schläuchen herum und versuchte, diese herauszuziehen, fuchtelte wild mit den Armen herum, wehrte die Hände, die nach ihr griffen, heftig ab und startete dann auch noch den Versuch, vom Operationstisch zu steigen. (Seite 173)
Diese Szene ist nicht nur unglaubwürdig, sondern auch ein Beispiel für stilistische Schwächen, von denen es in dem Buch viele gibt. Offenbar fehlte es an einem kompetenten Lektorat. Neben unpassenden Wörtern, Denk- und Grammatikfehlern sind formale Unzulänglichkeiten im Aufbau des Buches zu bemängeln, in dem Lara Andriessen einzelne – teils in der ersten, teils in der dritten Person Singular erzählte – Episoden chronologisch aneinandergereiht hat, ohne auf dramaturgische Erfordernisse zu achten. Außerdem bleiben sogar die Hauptfiguren schemenhaft. Beispielsweise lesen wir von Laras Vater nur, dass er seine Tochter von klein auf missbraucht. Was ist das für ein Mensch? Wie verhält er sich gegenüber seiner Frau und gegenüber Laras Geschwistern? Um seine Perversion zu verstehen, müssten wir mehr von ihm wissen. Und von der Protagonistin erfahren wir zwar, was sie durchmacht, aber ihr Wesen wird nicht beleuchtet.
Obwohl „Verdauung der Masken“ als Erzählung missglückt ist, halte ich das Buch für lesenswert. Es reißt den Leser mit, weil Lara Andriessen nicht abstrakt über den Missbrauch von Kindern und die Vergewaltigung von Frauen schreibt, sondern das perverse Verhalten in einzelnen Szenen veranschaulicht. Der Leser leidet mit der Protagonistin mit und wird zornig auf die Männer, die sie unterdrücken und vergewaltigen. Die Lektüre weckt nicht nur Emotionen, sondern regt auch zum Nachdenken an, denn Lara Andriessen hat ein Tabu gebrochen und den Missbrauch von Kindern thematisiert, der zumeist im familiären Umfeld stattfindet und daher verhältnismäßig leicht vertuscht werden kann. Wenn – wie in diesem Fall – der Vater sich an der Tochter vergeht, neigen Mutter und Geschwister dazu, ihre Beobachtungen zu verdrängen. Und das gequälte Kind wird durch die Autoritätsperson des Vaters so eingeschüchtert, dass es aus Angst vor den Konsequenzen niemandem etwas zu verraten wagt. Viele der Opfer schweigen ihr ganzes Leben lang und leiden ohne Hilfe an den psychischen Folgen ihrer Vergewaltigung. Lara Andriessen hat den Mut, über ihre eigenen traumatischen Erfahrungen zu sprechen, anderen Opfern zu helfen und das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, um möglichst viele Menschen dafür zu sensibilisieren.
Neununddreißig Jahre lang schwieg ich. Jetzt will ich das Schweigen brechen, in die Welt hinausschreien, was an mir geschehen ist. Möchte anderen zurufen: „Wehrt euch! Lasst es nicht zu, was euch geschieht! Wehrt euch und wartet nicht zu lange! Wartet nicht, bis ihr nicht mehr genug Kraft habt, euch zu wehren! Wartet nicht so lange wie ich gewartet habe!“ (Seite 13)
Weitere Bücher von Lara Andriessen:
- Blutiger Sonnenaufgang (2002)
- Das selbst gewählte Exil (2002)
- Die Faust des Märchenprinzen (2004)
- Offene Lippen. Bekenntnisse einer Edel- und Promi-Hure (2005)
- Sei still, kleine Prinzessin! (2006)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Rainer Körbel Verlag
Lara Andriessen: Blutiger Sonnenaufgang
Lara Andriessen: Das selbst gewählte Exil
Lara Andriessen: Die Faust des Märchenprinzen