Sascha Arango : Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen
Die Wahrheit und andere Lügen Originalausgabe: C. Bertelsmann Verlag, München 2014 ISBN: 978-3-570-10146-9, 299 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit fünf Bestsellern hat Henry Hayden den Verlag Moreany vor der Insolvenz bewahrt. Als die Lektorin Bettina Hansen, die ihn entdeckte, ein Kind von ihm erwartet, muss sich der 44-Jährige zwischen ihr und seiner Ehefrau Martha entscheiden. Die Trennung von Martha würde auch das Ende seiner Schriftsteller-Karriere bedeuten, denn die Bestseller stammen alle aus der Feder seiner Frau. Mit diesem Dilemma beginnt eine ganze Serie von Irrungen und Wirrungen, die zwei Frauen das Leben kostet ...
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Kritik

In "Die Wahrheit und andere Lügen", einer Mischung aus Krimi und Komödie, wirft Sascha Arango einen gewitzten Blick in menschliche Abgründe. Ideenreich überrascht er die Leser mit immer neuen Wendungen.
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Mit fünf Bestsellern hat Henry Hayden den Verlag Moreany vor der Insolvenz bewahrt. Schon der vor acht Jahren erschienene, in zwanzig Sprachen übersetzte Debütroman – „Frank Ellis“ – verkaufte sich zehn Millionen Mal. Claus Moreany verdankt seine Entdeckung der Verlagsangestellten Bettina Hansen, die zwar Literatur studiert hatte, aber damals als Aushilfskraft im Vertrieb beschäftigt war.

Eines Tages zog sie aus purer Langeweile Henrys maschinengetippten Text aus dem Faulturm unverlangt eingesandter Manuskripte, um ihn als Lesestoff in die Kantine mitzunehmen.

Inzwischen ist sie Cheflektorin im Verlagshaus Moreany – und die Geliebte des verheirateten Bestsellerlieferanten. Als sie Henry eröffnet, dass sie von ihm schwanger ist und ihm eine Ultraschallaufnahme des Embryos zeigt, macht er ihr Hoffnung, dass er seine Frau verlassen werde.

„Ich fahre nach Hause und erzähle alles meiner Frau.“
„Wirklich?“
Henry sah die Verblüffung in Bettys Gesicht, er war selbst überrascht. Warum hatte er das gesagt? Henry neigte nicht zur Übertreibung, alles erzählen wäre nicht nötig gewesen.
„Was meinst du mit alles?“
„Alles. Ich werde ihr einfach alles sagen. Keine Lügen mehr.“
„Und wenn sie dir verzeiht?“
„Wie könnte sie?“

In Wahrheit ist er entsetzt. Der 44-Jährige will kein Kind, und schon gar nicht von Betty. Trotz der Schwangerschaft raucht die 34-Jährige weiter. Sie wird nie eine gute Mutter. Er empfindet keine Liebe für sie, sondern eher ein „zyklisches Verlangen“. Als er nach Hause fährt, überlegt er, ob er es nicht besser anders herum machen sollte: Er könnte Martha schonen und dafür Betty die Wahrheit über seine Gefühle gestehen.

Betty war hart im Nehmen, würde es eher verkraften als Martha, sie konnte ein neues Leben beginnen, einen Mann für das Kind finden, denn sie war geschaffen, um zu überleben.

Außerdem wäre es nach einer Trennung von Martha mit dem Schriftsteller-Ruhm vorbei. Denn Henry hat kein einziges Wort der Romane selbst geschrieben.

Er war 36 und besaß weder eine eigene Wohnung, noch ein festes Einkommen oder auch nur eine Vorstellung über die eigene Zukunft, als er nach einem One-Night-Stand neben Martha aufwachte.

Die Frau, die neben ihm im Bett lag, hatte er noch nie zuvor gesehen, und er verspürte kein Verlangen, sie noch kennenzulernen.

Nach dem Aufwachen wollte er sich davonstehlen, aber dann entdeckte er das mit der Schreibmaschine getippte Manuskript des Romans „Frank Ellis“ und las die ersten Zeilen.

Als Martha am frühen Nachmittag erwachte, hatte Henry bereits den Ofen geheizt, das Rätsel der tropfenden Wasserhähne gelöst, den Duschvorhang befestigt, die Küche aufgeräumt und Spiegeleier gebraten. Die kleine Schreibmaschine auf dem Küchentisch hatte er geölt und einen klemmenden Typenhebel über der Gasflamme geradegebogen.

In Marthas Keller fand Henry einen Koffer mit vergammelten Manuskripten. Martha erklärte ihm, dass sie nur schreiben wolle und sich nicht für Literatur interessiere. Henry schickte das Manuskript des Romans „Frank Ellis“ unter seinem eigenen Namen an vier Verlage. Als das erste Geld kam, zog er mit Martha in eine größere Wohnung und heiratete sie.

Von seinen Kritikern lernte Henry, wie sein Werk zu verstehen war.

Martha, die Tochter eines verstorbenen frühpensionierten Feuerwehrmanns und einer Supermarkt-Kassiererin, die gelähmt ist, seit sie vom Blitz getroffen wurde, macht sich bis heute nichts daraus, dass ihr Mann als Bestseller-Autor gefeiert wird und sie nur als seine Ehefrau bekannt ist. Sie schreibt jede Nacht. Das erfüllt sie. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wäre ihr nur lästig.

Weil Henry seine Geliebte immer nur mit Prepaid Handys anruft und diese ebenso häufig wechselt wie die Orte, ist er überzeugt, dass Martha nichts von der Affäre wissen kann. Doch offenbar spürt sie etwas, denn sie küsst ihn und sagt:

Wenn es eine Frau ist, behalt’s für dich.

Sie fühlt sich von einem Marder gestört, der sich auf dem Dachboden herumtreibt. Henry soll ihn verscheuchen aber nicht töten. Zunächst ruft er jedoch Betty an. Sie möchte sogleich wissen, ob er Martha alles gesagt habe. Statt die Frage zu beantworten, sagt Henry: „Lass uns Schluss machen, Betty.“ Er verabredet sich mit ihr wie immer an den Klippen und überlegt, ob er ihr zum Abschied eine Eigentumswohnung schenken soll. Aber dann kauft er stattdessen in einer Pfandleihe eine Patek Philippe, die er – wenn Betty sie zurückweisen würde – seiner Frau schenken könnte.

Bettys grüner Subaru steht bereits da, als Henry in seinem Maserati zu den Klippen kommt, und weil sie weder die Handbremse angezogen noch einen Gang eingelegt hat, schiebt der schwere Wagen den kleineren mühelos in den Abgrund.

Später kommt Henry betrunken aus seinem Weinkeller und stolpert über seinen schlafenden Hovawart Poncho, als es klingelt. Er nimmt an, dass es die Polizei ist und wundert sich über den unerwartet raschen Ermittlungserfolg, aber Betty steht in der Tür und sagt: „Henry, deine Frau weiß alles.“

Wie konnte Betty sich aus dem sinkenden Subaru befreien, ohne sich die Frisur zu ruinieren?

Die beiden Frauen hatten sich bis dahin nur einmal auf einer Cocktail-Party getroffen, aber an diesem Abend kam Martha bei der Lektorin vorbei, denn sie war wegen Henry besorgt. Noch in der Tür sagte Martha:

„Sie sollten wissen […], dass ich Sie nicht hasse. Der Mann, den wir beide lieben, steckt in einer großen Krise.“

Anschließend fuhr sie dann zu den Klippen, um dort auf Henry zu warten und mit ihm zu reden, und weil sie den Treffpunkt nicht kannte, nahm sie Bettys mit einem Navi ausgestatteten Wagen und ließ ihren roten Saab stehen.

Mitten in der Nacht fällt dem mit Henry befreundeten serbischen Fischhändler Obradin Basarić, der schlaflos am Fenster steht und raucht, der vorbeifahrende Maserati des Schriftstellers auf. Er holt sein Nachtsichtgerät und beobachtet, wie Henry das Fahrrad seiner Frau am Strand abstellt, ihren Parka über die Lenkstange hängt und Unterwäsche hinlegt – so wie Martha es jeden Tag macht, wenn sie zum Schwimmen geht. Was hat das zu bedeuten?

Zu Hause verbrennt Henry Marthas Badeanzug im Kamin.

Am Morgen sucht Henry nach seiner Frau und fragt Obradin, ob er sie gesehen habe. Marthas Fahrrad lehnt an einem Felsen am Strand. Direkt am Wasser steht Martha in ihrem grünen Parka. Henry erschrickt. Aber es ist eine fremde junge Frau, noch keine 30. Sie heißt Sonja, ist die Tochter der Bürgermeisterin Elenor Reens und schlüpfte wegen der Kälte in den Parka.

Rettungsschwimmer der Feuerwehr suchen nach Martha; auch ein Marinehubschrauber kommt zum Einsatz. Allgemein wird angenommen, dass die stille, unscheinbare Frau des Schriftstellers beim Baden von der Strömung erfasst und aufs offene Meer hinaus gezogen wurde.

Obradin Basarić holt ein Fass Slibowitz aus dem Keller und verschwindet damit. Seine Frau Helga weiß nach 20 Ehejahren, was sie in diesen Fällen zu tun hat: Sie telefoniert mit dem Arzt und dem Jagdaufseher. Als Obradin dann randaliert, wie befürchtet, trifft ihn ein Betäubungspfeil aus dem Gewehr des Jagdaufsehers, und man bringt den Bewusstlosen nach Hause. Obradin büßte sämtliche Vorderzähne ein und kann nur noch lispeln. Außerdem ist der Motor seines Fischkutters kaputt. Aber Henry gibt nicht nur Helga heimlich das Geld für einen neuen Motor und rät ihr, einen Lottogewinn vorzutäuschen, sondern geht auch mit seinem Freund zum Zahnarzt und lässt ihm neue Zähne machen.

Jenssen, ein junger Kriminalkommissar der Mordkommission, teilt Henry mit, man habe die Leiche seiner Frau geborgen und bittet ihn, zur Identifizierung in die Gerichtsmedizin zu kommen. Weil Henry annimmt, dass die Tote von Tauchern in dem Autowrack gefunden wurde und die Polizei inzwischen die Fahrzeughalterin ermittelt und vernommen hat, steckt er eine Zahnbürste ein. Betty hat den Ermittlern gewiss alles gesagt. Henry kann es ihr nicht verübeln, er hätte es an ihrer Stelle ebenso gemacht.

Während der Fahrt zur Gerichtsmedizin über die Küstenstraße bemerkt Henry, dass ihm ein roter Peugeot folgt.

Der andere Fahrer heißt Gisbert Fasch. Vor mehr als 30 Jahren schlug der damals elf Jahre alte Henry Hayden ihm im katholischen Waisenhaus von Sankt Renata zwei Schneidezähne aus, weil er sein Bett haben wollte. Henry schrieb von Gisbert und anderen ab und erschlich sich gewissenlos gute Noten. Er bestahl andere, aber dabei ging es ihm nur um den Nervenkitzel, nicht um die Beute.

Ein Jahr und drei Monate dauerte sein Gastspiel im Waisenhaus von Sankt Renata. Dann, eines Tages im Winter, war Henry verschwunden und mit ihm die Kasse des Heimleiters.

Später schrieb Gisbert Fasch elf Jahre lang an einem Roman über die Steinzeitwanderer, den er unter dem Pseudonym Travis Forster veröffentlichen wollte: Travis wie die Hauptfigur Travis Bickle in Martin Scorseses Film „Taxi Driver“ und Forster wie der Abenteurer Georg Forster. Weil Gisbert Fasch nichts als 08/15-Absagen bekam, brachte er das Buch schließlich im Selbstverlag heraus – und ruinierte sich damit finanziell. Er musste Insolvenz anmelden. Seine Novellen, Hörspiele und Theaterstücke blieben in der Schublade. Seither verdient Gisbert Fasch seinen Lebensunterhalt wieder als Sprachlehrer für zumeist aus Afrika stammende Ausländer.

Als er in einer Literaturbeilage den Namen Henry Hayden las, glaubte er zunächst an eine zufällige Namensgleichheit, denn wie sollte dieses gefühllose Ungeheuer ohne jeglichen Ansatz künstlerischer Begabung Belletristik geschaffen haben? Gisbert begann, Material über Henry Hayden zu sammeln.

In der Vita des Bestseller-Autors heißt es, seine Eltern seien bei einer Schiffskatastrophe ums Leben gekommen, die er als Einziger überlebt habe. Aber Gisbert findet heraus, dass es sich dabei um eine Lüge handelt. Charlotte Hayden, geborene Buntknopf, verschwand am 2. Dezember 1979, und Martin E. Hayden – übrigens kein Großwildjäger, wie von Henry behauptet, sondern ein Finanzbeamter in der Hundesteuerstelle – stürzte noch am selben Abend über eine Treppe hinunter und erlag seinen Verletzungen. Was Henry der nach Flucht aus dem Waisenhaus tat, versucht Gisbert noch zu ermitteln. Studiert hat er jedenfalls nicht. Was Gisbert in zwei Jahren Arbeit über Henry recherchiert hat, deckt dessen erste elf und letzte neun Lebensjahre ab, aber dazwischen klafft noch eine Lücke von fast 15 Jahren. Das bisher gesammelte Material hat Gisbert in einer braunen Aktentasche bei sich im Auto.

Henry war neun Jahre alt, als seine Mutter verschwand und noch am selben Abend sein betrunkener Vater zu ihm heraufpolterte und ihn als Hurensohn beschimpfte.

„Hurensohn, weil du der Sohn einer Hure bist. Du bist nicht mein Kind.“

Als Martin E. Hayden merkte, dass Henry wieder das Bett genässt hatte, zerrte er ihn auf die Treppe, aber der Junge klammerte sich an einen Treppenpfosten, bis der Stoff der nassen Schlafanzughose riss und der schwere Mann über die Stufen hinunter stürzte. In einem schwarzen Plastiksack wurde er später aus dem Haus getragen.

Um herauszufinden, wer ihm folgt, bremst Henry hinter einer scharfen Kurve abrupt ab, steigt aus und stellt sich an den Straßenrand. An dieser Stelle der Steilküste ist die Straße mit Betonblöcken gesichert. Der rote Peugeot rast heran. Der Fahrer blickt Henry überrascht an – achtet einen Augenblick nicht auf die Straße und prallt gegen einen der Betonblöcke. Henry läuft hin und zerrt den Schwerverletzten aus dem Wrack. Zwanzig Minuten später trifft er mit ihm in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses ein, wo ihm der Arzt schließlich sagt, er habe dem Mann das Leben gerettet.

Erst dann fährt Henry weiter zur Gerichtsmedizin. Der Brustkorb der toten Wasserleiche ist bereits geöffnet; das Gehirn liegt in einer Schale. Aber Henry erkennt auch so, dass es nicht Martha ist. Später ermittelt die Polizei, dass es sich um eine frühpensionierte Beamtin handelte, die beim Versuch, eine Möwe zu fotografieren, von einer Brücke stürzte.

Auf dem Rückweg macht Henry einen Abstecher zu den Klippen. Wo der Subaru stand, parkt nun ein Campingmobil mit britischem Kennzeichen. Ein Mann sitzt in einem Klappstuhl davor und raucht. Eine Weile schaut Henry den drei herumtollenden Kindern zu und betrachtet vor allem deren ebenfalls splitternackte Mutter. Überall ist Müll verstreut. Da würde die Polizei jedenfalls keine Spuren mehr finden, weder vom Subaru noch vom Maserati.

Henry fährt weiter, bis ihn der vom Fond ausgehende Gestank stört. Ursache ist die braune Aktentasche des Unfallopfers, auf die Henry den Kopf des Mannes gebettet hatte. Sie ist inzwischen in einer braun verfärbten Blutlache festgebacken. Henry will sie ins Gebüsch schleudern, aber da fällt eines seiner Schulzeugnisse heraus. Die Mappe enthält auch eine Kopie seiner Geburtsurkunde, „Zeugnisse, Gerichtsunterlagen über seine Eltern, Einweisungsprotokolle in Erziehungsheime, psychologische Gutachten, Zeitungsartikel über Henry Hayden und seine Romane, selbst eine Kopie seiner Heiratsurkunde“. Warum sammelte der Unbekannte Material über ihn? Wollte er eine unautorisierte Biografie schreiben?

Von der Intensivstation wird Gisbert Fasch in ein Vierbettzimmer verlegt. Dort besucht ihn sein Lebensretter Henry Hayden, der ihn an der Küstenstraße mit einem simplen Trick besiegte, sich aber offenbar nicht an den Jungen aus dem Waisenhaus erinnert, dem er die Zähne eingeschlagen hatte. Nachdem Henry den Eindruck gewonnen hat, dass es sich bei dem Rechercheur weder um einen Polizisten noch um einen Privatdetektiv handelt, lässt er ihn auf seine Kosten in ein Einzelzimmer auf der Privatstation verlegen. Um sich zu vergewissern, dass er es mit einem Amateur-Forscher zu tun hat, bricht er danach in Gisbert Faschs Wohnung ein. An den Wänden hängt Material über ihn. In der Badewanne liegt eine lebensgroße Puppe, in deren Plastikvagina ein Lockenstab steckt. Bevor Henry wieder geht, schaltet er den Lockenstab ein. Bald darauf wird die Feuerwehr gerufen, aber die Wohnung brennt aus.

Auf Anraten Henrys meldet Betty ihren Subaru als gestohlen. Sie mietet einen Leihwagen und hinterlegt dafür einen Abdruck ihrer Kreditkarte, die auf Henrys Konto läuft. Dass sie auf diese Weise eine private Verbindung mit ihm dokumentiert, bedenkt sie nicht. Beim nächsten Treffen mit ihr tut Henry so, als befürchte er ihre Festnahme.

„Nun stell dir doch einfach mal vor“, fuhr Henry in besorgtem Ton fort, „die Polizei findet meine Frau tot in deinem Auto. Du hast es doch als gestohlen gemeldet?“
Sie nickte stumm.
„Was denkt man da wohl? Es gibt keinen Abschiedsbrief, es gibt keinen Hinweis auf Selbstmord, man kann doch gar nichts anderes glauben, als dass du es getan hast.“
„Ich?“, ihre Stimme hob sich eine Oktave. „Du warst doch mit ihr zuletzt an den Klippen.“
Henry schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, Schatz. Es war anders.“
Sie beugte sich vor, Henry entdeckte eine interessante Ader auf ihrer Stirn, die er noch nie gesehen hatte.
„Du warst nicht da?“
„Nö. Ich war nicht da.“
„Du warst … wo?“
„Ich war im Kino. Koreanischer Film. Superspannend.“
[…] „Warum inszenierst du dann ihren Tod am Strand?“
„Das habe ich nicht getan. Ihr Fahrrad stand wirklich dort. Martha hat es da stehen lassen. Weiß der Teufel, warum. Erinnerst du dich, wie ich dich an dem Abend nach Hause gebracht habe?“
Natürlich erinnerte sie sich. „Danach bin ich sofort zu den Klippen. Dein Wagen stand nicht mehr da. Die Reifenspuren führten direkt ins Meer. Und da waren deine Zigarettenstummel. Sie hat deine Zigaretten geraucht und ist dann …“
Betty bedeckte ihren Mund mit den Händen. „O mein Gott, wie schrecklich ist das!“
Sie hatte begriffen. […]
Empörung hob Betty halb aus dem Stuhl. „Du denkst doch nicht, dass ich deine Frau umgebracht habe?“
„Hast du?“

Als Henry merkt, dass Sonja Reens gern mit intim wäre, denkt er:

Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Komplikation. Der Roman war nicht fertig, die Frage, wer den zu Ende schreiben sollte, war nicht mal ansatzweise geklärt. Dem Kind in Bettys Bauch wuchsen bereits kleine Fingerchen, im Dach wohnte ein Gewissensdämon in Gestalt eines Marders, und ein unbekannter Schnüffler sammelte heimlich die Spuren seiner Vergangenheit, um zu seinem größten Geheimnis vorzudringen. Es würde nicht leicht werden, Lösungen für all diese Probleme zu finden und wieder Ordnung zu schaffen, jetzt war keine Zeit für leidenschaftliche Experimente.

Ungeachtet seiner guten Vorsätze kann Henry der Versuchung nicht widerstehen und lässt sich auf eine Affäre mit Sonja ein.

Claus Moreany ist besorgt, weil das letzte Kapitel des neuen Romans „Weiße Finsternis“ seines Erfolgsautors noch fehlt und Henry in seiner Trauer um Martha möglicherweise nicht in der Lage ist, das Buch zu vollenden. Aber der 71-Jährige, dessen Körper bereits von Metastasen zerfressen wird, möchte vor seinem Tod noch mit Betty nach Venedig und ihr dort einen Heiratsantrag machen. Seit längerer Zeit liebt er sie heimlich, aber er wird nichts von ihr verlangen; er möchte nur, dass sie als seine Witwe alles erbt.

Betty war jung, nach seinem Tod konnte sie noch einmal heiraten, Kinder mit einem anderen Mann haben und eine Familie gründen. Ihre Kinder würden dann in Moreanys Haus aufwachsen, in seinem Garten spielen und im Schatten der Ahornbäume groß werden, die sein Vater in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gepflanzt hatte. Betty wäre für den Rest ihres Lebens abgesichert.

Dass seine langjährige Sekretärin Honor Eisendraht in ihn verliebt ist, ahnt Claus Moreany nicht. Die verbitterte Frau belauert argwöhnisch die jüngere Lektorin und vermutet wegen einer weggeworfenen leeren Schachtel Metoclopramid, dass Betty schwanger ist. Als Honor Eisendraht allein im Büro ist, durchwühlt sie Bettys Sachen.

Kurz darauf übergibt Claus Moreany Betty einen an ihn adressierten und deshalb bereits von ihm geöffneten Umschlag. Er enthält eine CD mit Ultraschallbildern eines Embyros.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Henry vertraut Obradin an, dass seine Frau nicht am Strand ertrunken sei. Der Fischhändler wehrt ab; er will lieber nicht wissen, was mit Martha passierte. Aber Henry redet weiter:

„Es gibt eine Frau“, sagte Henry leise und setzte sich wieder neben seinen Freund, „eine andere Frau. Eine böse Frau. Sie heißt Betty und arbeitet im Verlag. Sie verfolgt mich seit Jahren, behauptet, sie bekommt ein Kind von mir. Sie erpresst mich damit. Sie will mein Geld, aber vor allem will sie mich.“

Er redet dem Serben ein, dass Martha von Betty ermordet wurde.

„Sie hat mir erzählt, dass Martha sie besucht hat, um sie zur Rede zu stellen […] Martha kam von dem Treffen nicht mehr nach Hause. Ich hab sie überall gesucht. Bettys Auto ist seitdem verschwunden. Sie hat es als gestohlen gemeldet. Diese Frau benutzt inzwischen meine Kreditkarten, sie erzählt überall rum, dass sie von mir schwanger ist. Vor Gericht wird sie sagen, dass ich es getan habe. Man wird mich wegen Mordes einsperren, und sie wird alles bekommen, das Haus, die Rechte an den Romanen, alles.“

Nach dem Gespräch mit Obradin übergibt Henry seiner Lektorin das neue Manuskript und behauptet, er habe es inzwischen fertiggestellt. Wie immer wurde der Text mit Schreibmaschine getippt, und es gibt keine Kopie davon. Betty liest „Weiße Finsternis“ – aber das letzte Kapitel fehlt noch immer. Zum Abendessen ist sie mit Henry in einem ihr unbekannten Restaurant verabredet. Bevor sie losfährt, legt sie das Manuskript in den Scanner und kopiert die Dateien auf einen USB-Stick.

Das nach Henrys Angaben programmierte Navi des Leihwagens lotst Betty in unwegsames Gelände. Sie wundert sich darüber und telefoniert zweimal mit Henry, der bereits im Restaurant sitzt. Er behauptet, sie sei kurz vor dem Ziel und ermutigt sie zum Weiterfahren. Schließlich hält sie neben einem Hangar direkt am Wasser. Dort steigt sie aus.

Kommissar Jenssen hat den Tod von Henry Haydens Ehefrau für einen Unfall gehalten, aber als nun innerhalb eines Monats auch dessen Lektorin Bettina Hansen spurlos verschwindet und nur ihr ausgebranntes Auto neben einem Hangar am Wasser gefunden wird, verdächtigt er Henry Hayden als Mörder. Sein Vorgesetzter Awner Blum tut Jenssens Verdacht allerdings als Hirngespinst ab, denn Hayden wurde zur Tatzeit in einem Restaurant gesehen, telefonierte vor Zeugen mehrmals mit Bettina Hansen, die auf dem Weg zu ihm war und erkundigte sich dann besorgt bei der Polizei, ob ein Verkehrsunfall mit ihr gemeldet worden sei, weil sie nicht auftauchte und Anrufe auf ihrem Handy nicht mehr beantwortete.

Während seiner Vernehmung sagt Henry, bei seinem letzten Treffen mit der Lektorin habe sie kaum zugehört und ihm dann anvertraut, dass sie schwanger sei.

„Hat sie einen Namen genannt?“, fragte Jenssen […].
„Nein. Sie sprach von einem katastrophalen Fehler, den sie begangen habe, für eine Abtreibung sei es längst zu spät.“
„Denken Sie, sie wurde vergewaltigt?“ […]
„Möchte ich nicht ausschließen. Jedenfalls sprach sie von einem Mann, vor dem sie sich fürchtete. Er sei gefährlich und unberechenbar, sie habe das Verhältnis mit ihm beendet, fürchte nun seine Rache. Er hat sie wohl ständig angerufen und damit gedroht, die Ultraschallbilder des Kindes an den Verlag zu schicken, sie meinte, er habe ihren Wagen gestohlen.“

Die Polizei stellt fest, dass Bettina Hansen im letzten halben Jahr tatsächlich immer wieder mit einem Unbekannten telefonierte, dessen Identität sich nicht feststellen lässt, weil er auf Fantasienamen gekaufte Prepaid-Handys benutzte und Bettys Telefon ebenso wie ihr Notebook verschwunden ist. Weder der Gynäkologin noch sonst jemanden vertraute sie den Namen des Vaters ihres ungeborenen Kindes an.

Nachdem Jenssen bei Gisbert Fasch im Krankenhaus war, ruft dieser seinen Lebensretter an und warnt ihn:

„Da ist kürzlich eine Frau umgebracht worden, die deine Romane lektoriert, erzählt mir dieser Jenssen. Er versucht, einen Zusammenhang herzustellen zwischen meinem Unfall, dem Tod deiner Frau und dem Tod dieser anderen Frau.“

Henry verbrennt Gisberts Aktentasche samt den Unterlagen.

Kurz nach Bettys Verschwinden hat Obradin seinen nächsten Anfall. Henry findet ihn sturzbetrunken auf dem Fischkutter im Hafen. Für einen Augenblick kommt er zu sich, richtet sich auf und ballt die Faust:

„Wir sind quitt, Henry! Du hast gegeben, du hast bekommen. Ich schulde dir nichts mehr.“

Dann verdreht er die Augen, sinkt um und bleibt mit dem Kopf im Wasser liegen. Obradins Tod würde für Henry das leidige Restrisiko mindern.

Henry musste nur von Bord gehen und das Schicksal für sich arbeiten lassen. Es hatte ihn bisher niemals enttäuscht. Doch statt dies zu tun, löste Henry seinen Gürtel, band ihn um Obradins Rumpf und zog ihn von Bord des Kutters. Man muss es wohl das sporadisch Gute nennen, von dem Henry selber glaubte, es führe zwangsläufig zur Strafe […].

In seinen Bemühungen, den Marder zu fangen, hat Henry inzwischen das Dachgeschoss des Hauses verwüstet. Er wurde von dem Tier gebissen, aber es gelang ihm noch nicht, es zu erwischen. Erst nachdem ein Orkan auch den Rest des Hauses zerstört hat, findet Henry den Marder mit gebrochenem Genick im Gras.

Claus Moreany stirbt im Ospedale Giovanni e Paolo in Venedig. Auf dem Sterbebett liegend, heiratete er Honor Eisendraht und vermachte ihr seinen gesamten Besitz einschließlich des Verlags.

In Bettys früherem Büro findet Honor Eisendraht den USB-Stick mit dem Manuskript „Weiße Finsternis“. Das letzte Kapitel fehlt. Beim Aufräumen in Claus Moreanys Villa entdeckt Honor Eisendraht allerdings ein ungeöffnetes Kuvert. Darin befindet sich der fehlende Teil des Romans. Martha Hayden schickte ihn an die Privatadresse des Verlegers. Honor Eisendraht begreift, dass nicht Henry, sondern Martha Hayden die Bücher schrieb, und sie ahnt, dass der Hochstapler auch ein Mörder ist. Eigentlich müsste sie zur Polizei gehen, doch inzwischen gehört ihr der Verlag, und der neue Roman einschließlich des Endes ist wie ein Barscheck, hat also Vorrang gegenüber moralischen Bedenken.

Aus dem Meer wird das Wrack eines Subaru mit einer weiblichen Leiche darin geborgen. Diesmal handelt es sich wirklich um Marthas sterbliche Überreste. Jenssen unterrichtet Henry ausgerechnet bei Claus Moreanys Beerdigung darüber und erklärt ihm, dass Martha nicht am Strand, sondern 30 Kilometer weiter östlich im Wrack eines Bettina Hansen gehörenden Autos ertrunken sei. Henry muss zu den Polizisten ins Auto steigen und mit ihnen zum Revier fahren, aber sie versichern ihm, dass es sich nicht um eine Festnahme handele.

Ob er eine Erklärung dafür habe, dass seine Frau im Wagen seiner Lektorin saß, fragen sie ihn. Henry kommt auf Marthas Vorliebe fürs Schwimmen und Wandern zu sprechen, und als Jenssen ihm die Landkarte bringt, auf der die Orte markiert wurden, von denen aus Betty angerufen worden war, deutet Henry auf entsprechende Gegenden, in denen Martha angeblich wanderte.

„Da haben wir unseren geheimnisvollen Anrufer!“, jubilierte Blum auf der Herrentoilette.
„Dann“, erwiderte Jenssen, der sich aufs Wasserlassen konzentrierte, „wäre Martha Hayden also der Vater des Kindes mit dem Doppelleben, der sich perfekt tarnt und sich bestens mit Ortungstechniken auskennt?“
Blum trocknete sich bereits die Hände ab. „Jenssen, als erfolgreicher Kriminalist müssen Sie fähig sein, Denkmodelle zu verlassen. Abstrahieren Sie. Wir waren auf dem Holzweg. Da kommen gerade neue Fakten rein.“

Henry behauptet, Martha und nicht Bettina Hansen habe seine Manuskripte lektoriert. Die Mitarbeiterin des Verlags habe allerdings Claus Moreany vorgetäuscht, sie arbeite mit dem Schriftsteller zusammen.

„Ich habe das bemerkt und war empört. Ich war wütend! Wie kann man die kreative Leistung eines anderen als die eigene ausgeben?! Aber meine Frau hat nur gelacht und gemeint: Lass sie doch.“

Bevor der Roman „Weiße Finsternis“ im Verlag Moreany erscheint, verschwindet Henry Hayden spurlos. Das Buch wird ein Misserfolg. Kritiker meinen, das Ende sei verstörend und fremdartig.

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Wäre „Die Wahrheit und andere Lügen“ ein Film, könnte man von einer Mischung aus Krimi und Komödie sprechen. Jedenfalls ist das alles spannend und nicht so ernst gemeint. Sascha Arango schreibt ebenso locker wie ideenreich. Dabei setzt er treffsicher Pointen und überrascht die Leser mit immer neuen Wendungen. Als Hauptfigur des Romans „Die Wahrheit und andere Lügen“ porträtiert Sascha Arango geschickt einen Charakter voller Widersprüche mit vielen Facetten und Geheimnissen, der sich ständig zwischen Lüge und Wahrheit bewegt. Es handelt sich zwar um einen Schurken, aber er verfügt auch über ein paar sympathische Züge und eignet sich deshalb als Identifikationsfigur. So wird dieser gewitzte Blick in menschliche Abgründe zu einem besonderen Lesevergnügen.

Sascha Arango wurde 1959 in Berlin geboren. „Die Wahrheit und andere Lügen“ ist sein erster Roman. Hörspiele und Theaterstücke schrieb er schon zuvor. Einen Namen machte er sich vor allem als Drehbuchautor („Tatort“, „Eva Blond“ u.a.). 1995 wurde er für das Drehbuch „Zu treuen Händen“ (Regie: Konrad Sabrautzky) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, im Jahr darauf gleich noch einmal für „Der letzte Kosmonaut“ (Regie: Nico Hofmann).

Den Roman „Die Wahrheit und andere Lügen“ von Sascha Arango gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Axel Milberg (Regie: Caroline Neven Du Mont, München 2014, ISBN 978-3-8445-1434-6).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © C. Bertelsmann Verlag

Christa Wolf - Medea. Stimmen
Christa Wolf deutet Medea zur verleumdeten Humanistin um und macht aus dem griechischen Mythos einen vielschichtigen, gesellschaftskritischen Roman, der sich trotz des ernstes Themas wie ein spannender Politthriller liest.
Medea. Stimmen