Pierre Bost : Ein Sonntag auf dem Lande

Ein Sonntag auf dem Lande
Originalausgabe: Monsieur Ladmiral va bientôt mourir Gallimard, Paris 1945 Ein Sonntag auf dem Lande Übersetzung: Rainer Moritz Dörlemann Verlag, Zürich 2013
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Seit der jetzt 76 Jahre alte verwitwete Maler Urbain Ladmiral vor zehn Jahren von Paris aufs Land zog, besucht ihn sein Sohn Gonzague Edouard mit der Familie nahezu an jedem Sonntag. Gonzague arbeitet in einem Büro in Paris und führt ein Leben ohne Höhen und Tiefen. Er liebt seinen Vater und versucht, ihm alles recht zu machen. Seine Schwester Irène, die an diesem Sonntag während des Mittagsschlafs unerwartet hereinplatzt, ist das genaue Gegenteil von ihm ...
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Kritik

Die kleine melancholische Geschichte spielt auf engstem Raum an einem "Sonntag auf dem Lande". Pierre Bost erzählt aufmerksam, sensibel und mit feinem Humor, unaufgeregt und ohne Effekthascherei.
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Der verwitwete Porträtmaler Urbain Ladmiral ist 76 Jahre alt. Er wurde mit dem Prix-de-Rome ausgezeichnet und ist Mitglied des Institut de France. Vor zehn Jahren verließ er Paris und zog nach Saint-Ange-des-Bois, in ein Haus, das er sich dort gekauft hatte.

Als Monsieur Ladmiral zehn Jahre zuvor Paris verlassen hatte, um nach Saint-Ange-des-Bois zu ziehen, hatte er, um mit dem Haus zu prahlen, das er gekauft hatte, alle wissen lassen, dass es acht Minuten vom Bahnhof entfernt liege. Damals stimmte das fast. Später lag das Haus, je älter Monsieur Ladmiral wurde, zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, dann eine gute Viertelstunde. Monsieur Ladmiral hatte dieses Phänomen sehr langsam begriffen und es nie zu erklären gewusst, richtiger gesagt, hatte er es nie zugegeben. Es war eine ausgemachte Sache, dass er immer noch acht Minuten vom Bahnhof entfernt wohnte, was nicht dazu angetan war, sein Leben zu vereinfachen: Man musste Spielchen mit den Wanduhren machen, bei den Zeitplänen falsche Berechnungen einbauen und behaupten, dass die Bahnhofsuhr vorgehe oder dass der Fahrplan heimlich geändert worden sei.

Die Haushälterin Mercédès kennt die Marotten ihres Dienstherrn, aber sie schätzt ihn, ohne es zu zeigen. Und Monsieur Ladmiral nimmt ihre „respektvollen Unverschämtheiten“ gelassen hin, denn er weiß, dass er auf sie angewiesen ist.

Mercédès hütete sich wie alle Frauen davor, die Situation auszunutzen; sie bediente sich ihrer, und das reichte.

Wie nahezu an jedem Sonntagmorgen kommen Monsieur Ladmirals Sohn Gonzague Edouard, dessen Ehefrau Marie-Thérèse und die drei Kinder – Emile (14), Lucien (11), Mireille (5) – mit dem Zug aus Paris zu Besuch. Mireille wird es während der Bahnfahrt jedes Mal übel. Auch diesmal hat sie sich wieder übergeben. Monsieur Ladmiral will die Gäste vom Zug abholen, weil er jedoch von einem achtminütigen Fußweg zum Bahnhof ausgeht, kommt ihm die kleine Reisegesellschaft schon unterwegs entgegen. Während Monsieur seinen Sohn wie eh und je Gonzague nennt, benutzt Marie-Thérèse nur den zweiten Vornamen: Edouard.

Monsieur Ladmiral hat seine Schwiegertochter von Anfang an nicht besonders gemocht. Das hängt damit zusammen, dass sie bis zur Eheschließung in einer Firma angestellt war und Monsieur Ladmiral arbeitende Frauen vulgär findet.

Gonzague liebt seinen Vater, will es ihm recht machen und trägt beispielsweise den gleichen Bart.

Die Bewunderung des Sohnes für seinen Vater ging so weit, dass Gonzague erstens zu malen begonnen hatte und das zweitens trotz verheißungsvoller Anfänge sehr rasch aufgegeben hatte. Für ihn zählte die Malerei seines Vaters zum Schönsten, was es gab, und er hatte eine Art Sakrileg darin gesehen, zu versuchen, ihm auf diesem Gebiet zu folgen, wo er ihn nie erreichen würde.

Dass er dann im Büro einer Kolonialwarenfirma anfing, war Monsieur Ladmiral ein Greuel:

„Ins Büro gehen“, das war für Monsieur Ladmiral das Zeichen von Knechtschaft und Armseligkeit. Etwas so Hässliches wie wenn eine Frau ohne Kopfbedeckung aus dem Haus ging oder die Kinder auf der Straße spielten.

Drei Jahre nach seinem Firmeneintritt wurde Gonzague eine Stelle in Dakar angeboten, aber er schlug sie mit der Begründung aus, er müsse in der Nähe seines älter werdenden Vaters bleiben. Als ihm dann zum zweiten Mal eine Versetzung nach Afrika vorgeschlagen wurde, wies er darauf hin, dass er inzwischen verheiratet war und lehnte auch dieses Angebot ab.

Monsieur Ladmiral und seine Besucher kommen an der Kirche vorbei. Marie-Thérèse geht für ein paar Minuten hinein.

Der alte Herr nimmt seine Enkelin auf die Schultern und wird dadurch noch langsamer.

Aus Feingefühl verlangsamte auch Edouard seinen Schritt, ein wenig zu sehr sogar, sodass er leicht ins Hintertreffen geriet. Sein Vater drehte den Kopf nach ihm um:
„Müde?“, fragte er mit munterer Stimme, ein wenig ironisch.
Gonzague ärgerte sich. Der alte Vater würde wirklich niemals die Aufmerksamkeiten verstehen, die man ihm entgegenbrachte.

Bei Tisch wendet Monsieur Ladmiral sich an seinen Sohn: „Wenn du dein Jackett ausziehen möchtest …“ Gonzague weiß, dass sein Vater dies nur aus Höflichkeit sagt und es schrecklich finden würde, wenn er es täte. Er behält also das Jackett an. Marie-Thérèse tadelt ihn deshalb: „… wo es dein Vater dir doch erlaubt! Sieh nur, wie du schwitzt …!“ Zu Hause mache er es sich doch auch bequem, meint sie, warum also nicht auch auf dem Land.

Er [Monsieur Ladmiral] nahm es seinem Sohn übel, sich so zu zieren, und er war ihm auch gram angesichts der Vorstellung, dass er seine Jacke vielleicht wirklich wie ein Fuhrmann ablegen würde. Und da Gonzague schließlich, um seinem Vater nicht zu missfallen, das Jackett anbehielt, verübelte er ihm, nicht den Mut zu haben, zu seinen Meinungen zu stehen.

Nach dem Essen zieht Monsieur Ladmiral sich zum Mittagsschlaf ins Gartenhaus zurück. Auch Edouard und Marie-Thérèse legen sich hin.

Sie werden von Hundegebell geweckt. Eine elegante, stark geschminkte junge Dame platzt herein: Irène. Anders als ihr Bruder Gonzague besucht sie den Vater nur selten und unregelmäßig; vor fast drei Monaten geschah es zum letzten Mal. Sie kam unerwartet mit ihrem Hund im Auto aus Paris. Nun weckt sie alle auf, auch den Vater, denn sie hält es für ungesund, tagsüber zu schlafen. Emile und Lucien schwärmen für die Tante, die so viel aufregender als ihre Mutter ist, und der Ältere ist sogar ein bisschen verliebt in sie.

Irène fand die gegenständliche Malerei ihres Vaters scheußlich und verheimlichte das auch nie. Als die Mutter starb, lebte sie noch beim Vater in Paris. Gonzagues war bereits verheiratet und hatte Famlie. Um nicht von ihrem Vater vereinnahmt zu werden, nahm sich Irène kurzerhand eine eigene Wohnung. Ihr Geld verdiente sie in wechselnden Jobs. Inzwischen scheint die ebenso selbstständige wie flatterhafte junge Dame eine Boutique oder etwas Ähnliches in Paris zu betreiben. Gonzagues vermutet, dass sie einen Liebhaber hat, wagt aber nicht, danach zu fragen, und Irène erzählt trotz ihrer Extravertiertheit nicht viel von sich. Schon ihre allererste Liaison verschwieg sie dem Vater, und zwar aus Taktgefühl.

Als sie erfährt, dass auf dem Dachboden alte Stoffe herumliegen, fordert sie ihren Vater sogleich auf, mit ihr hinaufzugehen und sucht sich einige Sachen heraus, die sie in ihrem Laden zum Kauf anbieten kann. Zurück im Wohnzimmer, versucht sie zu erklären, wie sie den Trödelkram verwerten will. Gonzagues meint, die Sachen gehörten dem Vater und der könne sie nach Belieben verschenken. Irène hört die Missgunst heraus und erwidert, sie wolle niemanden bestehlen und werde für die Sachen bezahlen. Nun streiten die Geschwister, wer zuerst angefangen habe, in diesem Zusammenhang von Geld zu reden. Monsieur Ladmiral findet das peinlich. Als er sagt, er wolle mit seiner Tochter keine Geschäfte machen, unterstellt ihm die verärgerte Tochter, er wolle den Preis hochschrauben. Schließlich drückt sie ihm 1000 Francs in die Hand, und um ein Ende herbeizuführen, nimmt Monsieur Ladmiral die Banknoten entgegen.

Um die Stimmung wieder zu lockern, schlägt Irène ihrem Vater eine Spazierfahrt mit dem Auto vor. Für alle wäre es zu klein, aber Emile und Lucien dürfen mit und freuen sich darauf. Da klingelt das Telefon. Lucien hebt ab und wendet sich dann an seine Tante:

„Das ist für dich, Tante Irène. Ein Herr, ich habe den Namen nicht verstanden.“

Schon an Irènes Miene während des Telefongesprächs erkennen die Jungs, dass aus der Autofahrt nichts mehr wird. Irène will sofort nach Paris zurück. Sie verabschiedet sich hastig und fährt los.

Gonzagues lässt sich von seinem Vater überreden, mit der Familie noch zum Abendessen zu bleiben, obwohl Emile am nächsten Morgen in der Schule eine Arbeit wird schreiben müssen.

Am nächsten Morgen geht Monsieur Ladmiral ins Dorf, begegnet dort Monsieur Tourneville und wird gefragt, ob er einen schönen Sonntag und Besuch von der Familie hatte.

„Ja“, sagte Monsieur Ladmiral, „von meiner Tochter.“

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Unaufgeregt und ohne Effekthascherei erzählt Pierre Bost eine kleine melancholische Geschichte, die auf engstem Raum und (bis auf einen kurzen Epilog) an einem „Sonntag auf dem Lande“ spielt. Sie handelt von unerfüllten und aufgegebenen Träumen. Aufmerksam, sensibel und mit feinem Humor geht Pierre Bost den uneingestandenen, zumindest unausgesprochenen Ängsten und Enttäuschungen der Personen nach. Zugleich veranschaulicht er die zwischenmenschlichen Beziehungen vor allem zwischen dem verwitweten Vater und seinen beiden erwachsenen Kindern.

„Ein Sonntag auf dem Lande“ ist ein kleiner, zarter und impressionistischer Roman. Unauffällig variiert Pierre Bost das Tempo. Seine Sprache ist von schlichter Eleganz.

Bertrand Tavernier verfilmte den Roman:

Ein Sonntag auf dem Lande – Originaltitel: Un dimanche à la campagne – Regie: Bertrand Tavernier – Drehbuch: Colo Tavernier, Bertrand Tavernier, nach dem Roman „Ein Sonntag auf dem Lande“ von Pierre Bost – Kamera: Bruno de Keyzer – Schnitt: Armand Psenny – Musik: Gabriel Fauré, Louis Ducreux, Marc Perrone, Philippe Sarde – Darsteller: Louis Ducreux, Michel Aumont, Sabine Azéma, Geneviève Mnich, Monique Chaumette, Thomas Duval, Quentin Ogier, Katia Wostrikoff, Claude Winter, Jean-Roger Milo, Pascale Vignal, Jacques Poitrenaud, Valentine Suard, Erika Faivre, Marc Perrone u.a. – 1984; 90 Minuten

Der Pastorensohn Pierre Bost wurde am 5. September 1901 in Lasalle norwestlich von Nîmes geboren und wuchs in Le Havre auf. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg zog er nach Paris. Seine Karriere als Autor begann er als Dramatiker: 1923 wurde seine Komödie „L’imbécile“ im Théâtre du Vieux-Colombier in Paris uraufgeführt. Pierre Bost schrieb Bühnenstücke, Romane, Drehbücher und Zeitungsartikel, er arbeitete einige Zeit als Lektor bei Gallimard und als Chefredakteur der Zeitschrift „Marianne“. „Ein Sonntag auf dem Lande“ war sein letzter Roman. Das Buch erschien im Oktober 1945. Pierre Bost starb am 6. Dezember 1975 in Paris.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Dörlemann Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.