Don DeLillo : Körperzeit

Körperzeit
Originaltitel: The Body Artist, 2001 Körperzeit Übersetzung: Frank Heibert Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001 Wilhelm Goldmann Verlag, München 2006 ISBN 978-3-442-46291-9, 143 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach dem Selbstmord ihres Ehemanns Rey bleibt Lauren – eine ungewöhnlich wandlungsfähige Performance-Künstlerin – allein in einem vorübergehend gemieteten Landhaus zurück. Unvermittelt stößt sie auf einen offenbar geistig verwirrten Fremden, der nur sinnlose Wortfolgen stammelt – aber Gespräche und Gesten von Rey und Lauren imitiert.
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Kritik

Bei dem Roman "Körperzeit" handelt es sich um eine spröde, handlungsarme und absichtlich unpoetisch wirkende Komposition in einer pseudoprotokollarischen Sprache, deren Abbrüche und Wiederholungen den Anschein von Authentizität vermitteln.
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Ein Ehepaar frühstückt in einem für sechs Monate gemieteten Ferienhaus, einem abgelegenen Holzhaus mit vielen Zimmern und offenen Kaminen an der Küste im Staat New York.

Er biss den Stiel [einer Feige] ab und warf ihn Richtung Spüle. Dann schlitzte er die Feige mit beiden Daumennägeln auf, nahm ihr [Lauren] den Löffel aus der Hand, leckte ihn ab und holte damit eine Portion weinrotes Fruchtfleisch aus der klaffenden Feigenschale. Er klatschte das Zeug auf seinen Toast – Frucht, Fleisch, Mansch – und verschmierte es mit der Unterseite des Löffels, blutbuttrige Schlieren, platzendvoll mit Samenleben. (Seite 16)

Rey Robles (eigentlich: Alejandro Alquezar) wurde angeblich vor vierundsechzig Jahren in Barcelona geboren. (Sein wahres Alter ist umstritten.) Nachdem sein Vater im spanischen Bürgerkrieg ums Leben gekommen war, wuchs er bei einer Familie in der Sowjetunion auf. Später schlug er sich in Paris und in New York durch und kam dann als Chauffeur nach Los Angeles. Dort verschaffte ihm die Frau eines Multimillionärs – eines Zementfabrikanten aus Liechtenstein –, der ihn eingestellt hatte, die Möglichkeit, sich als Filmregisseur zu versuchen. Für seinen Film „Mein Leben für deins“ wurde er in Cannes mit einer „Goldenen Palme“ ausgezeichnet. Nach seiner Scheidung von der Typberaterin Isabel Corrales, mit der er elf Jahre zusammen gewesen gewesen war, vermählte er sich mit der Bühnenschauspielerin Anna Langdon, aber diese Ehe scheiterte bereits nach kurzer Zeit. Jetzt ist er mit der sechsunddreißigjährigen Performance-Künstlerin Lauren Hartke verheiratet.

Als Rey Robles tot aufgefunden wird – er hat sich in der Wohnung seiner ersten Ehefrau in Manhattan erschossen – schreiben die Zeitungen, er sei Alkoholiker gewesen und habe hin und wieder unter Depressionen gelitten.

Der Mietvertrag für das Landhaus läuft noch zwei Monate. Lauren bleibt allein in dem großen Haus. Stundenlang starrt sie auf den Bildschirm ihres Computers, auf dem rund um die Uhr nichts anderes als die Übertragung einer Webcam vom spärlichen Verkehr auf einer Landstraße in der Nähe des finnischen Ortes Kotka zu sehen ist. Sie schlägt eine herumstehende Schachtel Semmelbrösel in Wachspapier ein, besprüht die Badezimmerkacheln mit einem nach Fichtennadeln duftenden Putzmittel und versucht angestrengt, einen Zeitplan aufzustellen.

Der Plan lautete, die Zeit zu organisieren, bis sie wieder leben konnte. (Seite 40)

Schon zu Lebzeiten Reys hörte sie Geräusche im Haus. Unvermittelt stößt sie in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock auf einen kleinen, zartgliedrigen, im ersten Augenblick wie ein blondes Kind aussehenen Mann, der in seiner Unterwäsche auf der Bettkante sitzt. Da er offenbar sprach- und vermutlich auch geistesgestört ist, überlegt Lauren, ob sie bei psychiatrischen Kliniken anrufen und nach vermissten Patienten fragen soll, aber sie unterlässt es und versucht stattdessen, mit dem seltsamen Mann ins Gespräch zu kommen, der ihr nicht einmal seinen Namen sagen kann. Weil er sie an ihren tollpatschigen früheren Biologielehrer erinnert, nennt sie ihn Mr Tuttle.

Hin und wieder ist er stundenlang fort. Wenn er da ist, spricht und gestikuliert er wie Rey oder Lauren. Er – oder ist es Lauren? – schaltet immer wieder den Recorder ein, den Rey benützt hatte, um seine teilweise gelogene Autobiografie zu diktieren, der aber auch sonst lief und Gespräche zwischen den Ehepartnern aufzeichnete.

Einmal stellt sie sich vor, wie sie gerade aus dem Auto aussteigen will, als plötzlich ein massiger Mann vor ihr steht, der sie ängstigt. Sie blickt zu ihm hoch wie bei einer entsprechenden Kameraeinstellung. Es handelt sich um den Hausbesitzer, der ihr erklärt, Mr Tuttle sei ein hirngeschädigter Verwandter, der bei ihm und seiner Frau Alma in diesem Haus gewohnt hatte, bis sie – als die Kinder eigene Familien gründeten – auszogen und ihn in einem hundertfünfzig Kilometer entfernten Pflegeheim unterbrachten. Dort werde er jetzt vermisst, und deshalb habe er hier nachsehen wollen.

Reys Anwalt ruft an und unterrichtet Lauren über die Schulden, die ihr Mann hinterlassen habe und für die sie jetzt aufkommen müsse.

Das gab ihr ein gutes Gefühl. Das war ihr Rey. Eine Woge der Zuneigung überschwemmte sie […] Das war der Rey, den sie kannte, nicht irgendein anderer. (Seite 106)

Mr Tuttle ist plötzlich verschwunden, und Lauren glaubt zu wissen, dass er nicht wieder auftauchen wird. Um ihr Gewissen zu beruhigen, spricht sie am zweiten Tag seiner Abwesenheit mit dem Leiter der psychiatrischen Klinik eines kleinen, etwa eine Stunde entfernten Krankenhauses, und aufgrund ihrer vagen Beschreibung meint er, bei einem am Vortag eingelieferter Patient könne es sich um den Vermissten handeln.

Die New Yorker Autorin Mariella Chapman, die seit dem College mit Lauren befreundet ist, schreibt in der Zeitung unter der Überschrift „Körperkunst in extremis: Langsam, karg und schmerzhaft“ über ein Gespräch, das sie mit der Performance-Künstlerin über deren neuestes, dreimal in einem Kellergewölbe des Boston Center for the Arts aufgeführtes Werk „Körperzeit“ geführt hat. Lauren trage die Haare wie „abgefetzt“, wirke bleich, blutlos und ausgemergelt.

„Hartkes Stück beginnt mit einer alten japanischen Frau auf einer kahlen Bühne, die stilisierte Gesten nach Art des Nô-Theaters vollführt, und es endet etwa fünfundsiebzig Minuten später mit einem nackten Mann, abgezehrt und sprachgestört, der verzweifelt versucht, uns etwas mitzuteilen.“ (Seite 119)

Dazu ist die anonyme Roboterstimme eines Anrufbeantworters zu hören und die Videoprojektion einer nächtlichen Landstraße mit spärlichem Verkehrsaufkommen zu sehen. Alle Figuren werden von Lauren selbst dargestellt. Den nackten Greis spielt sie mit künstlichen Genitalien und einem fleischfarbenen Verband mit einem aufgeklebten Büschel Brusthaare.

Lauren bleibt auch nach dem Ablauf des Mietvertrags in dem Holzhaus. Als sie einmal aus dem Auto aussteigt, steht der massige Hausbesitzer vor ihr. Er habe mehrmals vergeblich angerufen, erklärt er, weil er jemand vorbeischicken und eine alte Kommode abholen lassen möchte.

Er hatte Angst, mit dem Reden aufzuhören, weil sie in keiner Weise reagiert hatte, weder so noch so, und sich aus der Situation zurückzuziehen schien. (Seite 135)

Nachdem der Hausbesitzer wieder weggefahren ist, nimmt Lauren in einem Zimmer zwei Körper wahr, ihren eigenen und Hände, die sie berühren, einen Penis, der in ihrer Faust anschwillt, und sie hört zwei Menschen flüstern. Dann fragt sie sich, ob es sich dabei nicht um erotische Fantasie gehandelt habe.

Das Zimmer war leer, als sie hinschaute. Keiner war da. Das Licht vibrierte so sehr, dass sie die wahren Farben von Wand und Boden sehen konnte. Sie hatte die Wände nie zuvor gesehen. Das Bett war leer. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass es leer sein würde, sie holte lediglich auf. Sie betrachtete das Laken und die Decke, das Knäuel auf ihrer Seite des Bettes, die als einzige in Gebrauch war.
Sie trat ins Zimmer und ans Fenster. Sie öffnete es. Sie riss es auf. Sie wusste nicht, warum sie das tat. Dann wusste sie es. Sie wollte den Biss des Meeres auf ihrem Gesicht spüren, den Fluss der Zeit in ihrem Körper, um zu erfahren, wer sie war. (Seite 140)

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In der zweiundzwanzig Seiten langen Ouvertüre des Romans „Körperzeit“ schildert Don DeLillo ein Ehepaar beim alltäglichen Frühstück in einem für sechs Monate gemieteten Landhaus, wobei er jede Bewegung und jede auch noch so banale Äußerung protokolliert. Aufgrund der Gewöhnung nehmen sich Rey und Lauren nur noch oberflächlich wahr und reden aneinander vorbei.

Auf diese Szene folgt unvermittelt ein nüchterner Zeitungsbericht über den Selbstmord Reys. Warum er sich erschossen hat, erfahren wir nicht.

Die Witwe bleibt allein in dem abgelegenen Ferienhaus. In einem der Zimmer stößt sie unvermittelt auf einen fremden Mann, der geistig verwirrt zu sein scheint und nicht einmal sagen kann, wie er heißt. Verblüffenderweise imitiert er jedoch Gespräche und Gesten von Rey und Lauren. Don DeLillo lässt uns im Unklaren über die Figur. Handelt es sich um einen aus einer Irrenanstalt entflohenen Patienten, um eine Reinkarnation beziehungsweise einen Nachhall Reys oder um eine Einbildung Laurens?

Noch einmal unterbricht Don DeLillo den Bewusstseinsstrom durch einen Zeitungsartikel. Diesmal handelt es sich um die triviale Beschreibung einer Performance der Künstlerin Lauren mit dem Titel „Körperzeit“ aus der Feder einer mit ihr befreundeten Journalistin. Immerhin werden wir dadurch auf die ungewöhnliche Wandlungsfähigkeit Laurens hingewiesen, die beispielsweise auch einen nackten Greis darzustellen vermag.

„Was wir für die Wirklichkeit halten, ist nur die Spitze des Eisbergs – den entscheidenden Rest macht DeLillo sichtbar.“ (Michael Althen in: „Süddeutsche Zeitung“, 21. März 2001)

In diesem Roman, dessen Geschehen sich – vom Inhalt zweier Zeitungsartikel abgesehen – in einem Haus an der Ostküste New Yorks abspielt, genauer: im Kopf der Protagonistin, die es bewohnt, geht es Don DeLillo offenbar weniger um die psychologische Ausleuchtung von Schock und Trauer als um die Dekonstruktion von Raum und Zeit.

Bei „Körperzeit“ handelt es sich um eine spröde, handlungsarme und absichtlich unpoetisch wirkende Komposition in einer pseudoprotokollarischen Sprache, deren Abbrüche und Wiederholungen den Anschein von Authentizität vermitteln.

Charakteristisch für den 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in New York geborenen Autor Don DeLillo sind grüblerisch-detaillierte Beschreibungen alltäglicher Beobachtungen. Hier ist ein Beispiel:

Du stehst am Tisch, wühlst in Papieren, und du lässt etwas fallen. Nur merkst du es nicht. Es dauert eine Sekunde oder zwei, bevor du es merkst, und selbst dann merkst du es nur als eine formlose Verzerrung des wimmelnden Raums rings um deinen Körper. Doch kaum hast du gemerkt, dass dir etwas heruntergefallen ist, hörst du mit Verspätung, wie es am Boden auftrifft. Das Geräusch bahnt sich seinen Weg durch ein gewaltiges Netz von Entfernungen. Du hörst das Ding fallen und weißt im gleichen Augenblick, was es ist, mehr oder weniger, und es ist eine Büroklammer. Das weißt du durch das Geräusch, das sie beim Auftreffen auf dem Boden macht, und durch die zurückgeholte Erinnerung an das Fallenlassen selbst, wie das Ding aus deiner Hand fällt oder vom Rand der Seite rutscht, an die es geklammert war. Es ist vom Rand der Seite gerutscht. Jetzt, wo du weißt, dass es dir heruntergefallen ist, erinnerst du dich, wie es geschehen ist, oder halb jedenfalls, oder vielleicht siehst du es irgendwie vor dir, oder etwas ganz anderes. Die Büroklammer trifft mit einem Purzelbaum auf dem Boden auf, schwach und schwerelos, ein Geräusch, für das es kein lautmalerisches Wort gibt, das Geräusch einer herunterfallenden Büroklammer, aber als du dich bückst, um sie aufzuheben, ist sie nicht da. (Seite 101f)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch

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