Hannah Dübgen : Über Land

Über Land
Über Land Originalausgabe: dtv Verlagsgesellschaft, München 2016 ISBN: 978-3-423-28094-5, 269 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 21-jährige Asylbewerberin Amal aus dem Irak läuft der zehn Jahre älteren, mit einem indischen Architekten liierten Ärztin Clara im Frühjahr 2013 in Berlin vors Fahrrad. Später erfährt Clara, dass Amals Vater nach einer politisch unerwünschten Äußerung spurlos verschwand und ihre Mutter Rauya, eine Archäologin, vom Nationalmuseum in Bagdad entlassen wurde. Rauya drängte ihre einzige Tochter daraufhin, das Land zu verlassen, um selbstbestimmt und in Freiheit leben zu können ...
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Kritik

"Über Land" ist ein leiser, kosmo­poli­tischer, mit großer Empathie für die Charaktere geschriebener Roman von Hannah Dübgen. Er dreht sich um Verantwortung, Mitmenschlichkeit, Migration und Globalisierung, v. a. aber um Freiheit und Selbst­bestim­mung.
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Die 31-jährige Ärztin Clara Hobrecht ist im Frühjahr 2013 mit dem Fahrrad in Berlin unterwegs, als zwischen geparkten Autos eine zehn Jahre jüngere Ausländerin hervorkommt, der sie nicht mehr ausweichen kann. Sie stürzen beide. Die Fußgängerin springt gleich wieder auf und rennt weg. Die Ärztin vermutet deshalb, dass es sich entweder um eine illegal im Land lebende Migrantin oder um eine Asylbewerberin handeln könnte. Neun Tage später findet sie die 21-Jährige in einer Flüchtlingsunterkunft. Sie heißt Amal Al-Sharhany, stammt aus dem Irak und hat einen Asylantrag gestellt.

Amals Vater Hassan war Arzt in Bagdad. Seine Mutter war nach der Macht­ergreifung der Baath-Partei in den Sechziger­jahren in einem Schauprozess verurteilt und öffentlich gehängt worden. Als Abgeordneter im Kommunal­parlament sprach er sich im Juni 2012 dafür aus, auch mit Terroristen das Gespräch zu suchen. Zehn Tage später kam er nicht mehr von der Arbeit nach Hause und blieb seither spurlos verschwunden. Wahrscheinlich wurde er von der Geheimpolizei entführt und ermordet.

Amals 1959 geborene Mutter Rauya ist Archäologin. Amal saß im Hörsaal, als Rauya den Studenten 2600 Jahre alte Lehmziegel aus Nebukadnezars Palast im antiken Babylon und Backsteine aus der 1979 von Saddam Hussein befohlenen Rekonstruktion zeigte. Im Gegen­satz zu den antiken Ziegeln wiesen die gerade einmal 30 Jahre alten bereits Risse auf. Und weil Ende des 20. Jahrhunderts statt Naturasphalt wie in der Antike gewöhnlicher, für die Hitze ungeeigneter Mörtel verwendet wurde, drohten die nachgebauten Mauern bereits wieder einzustürzen. Außerdem war durch Saddams Bauten noch unerschlossenes archäologisches Material unerreichbar geworden, und die schweren Baufahrzeuge hatten vermutlich auch einiges davon zerstört. Rauya wurde kurz nach ihrer kritischen Vorlesung vom Nationalmuseum Bagdad entlassen. Immerhin lehrt sie noch an der Universität Bagdad.

Rauyas Vater, ein Lehrer, war bald nach Amals Einschulung gestorben. Seither gehörte seine Witwe Ischtar zur Familie, und Amal entwickelte eine besonders enge Beziehung zu ihrer Großmutter.

Rauya und Ischtar drängten Amal nach Hassans Verschwinden, den Irak zu verlassen. Der erste Versuch scheiterte: Amal wurde an der türkisch-griechischen Grenze aufgegriffen, drei Tage lang festgehalten und dann von den Türken in den Irak abgeschoben. Rauya brachte sie dazu, es noch einmal zu wagen. Amal ließ sich gegen Bezahlung von einem kurdischen Türken über die Grenzen schmuggeln. Er lebte seit einigen Jahren legal in Österreich und tat, als kehre er mit seiner Frau und zwei Töchtern von einem Urlaub in der Türkei zurück. Für Amal hatte er türkische Papiere besorgt. Ob die Beifahrerin und deren kleine Tochter Yasmin in dem vollgepackten Auto wirklich zu ihm gehörten, bezweifelt Amal. Jedenfalls kam sie auf diese Weise nach Salzburg, und ein junges Paar fuhr sie dann mit dem Auto zum nächsten Bahnhof in Deutschland. Ohne Fahrkarte schaffte sie es mit dem Zug bis nach Berlin, wo sie ihren Asylantrag stellte.

Amal fasst Vertrauen zu Clara und nimmt den alten Laptop an, den diese ihr schenkt, damit sie nicht nur von Internet-Cafés aus mit ihrer Mutter in Bagdad skypen kann.

Clara lebt mit dem indischen Architekten Tarun Sarkar zusammen in Berlin. Kennengelernt hatten sie sich an Silvester 2010.

Taruns hinduistische Großeltern mütterlicherseits waren im Sommer 1947 aus ihrem Dorf in Ostbengalen nach Kalkutta/Kolkata geflohen. Der Sohn eines Schuhmachers in Kolkata studierte schließlich in London. Vor drei Jahren kam Tarun nach Berlin. Seit kurzem ist er erstmals vom Entwurf an für ein großes Bauprojekt verantwortlich: In Hoara, der Nachbarstadt von Kolkata, lässt die vom Trinamool Congress geführte bengalische Regierung von dem Berliner Architekturbüro, bei dem Tarun angestellt ist, einen Wohnturm für zehntausend Arbeiterfamilien errichten.

Tarun wird von seiner in Kolkata lebenden Schwester Priya um Hilfe gebeten. Sie und ihr Ehemann Udar haben eine fünf Jahre alte Tochter, Madri, und erwarten jetzt ihr zweites Kind. Die Ärzte haben festgestellt, dass der Fötus einen schweren Herzfehler aufweist und der Junge sofort nach der Geburt operiert werden muss. Weil es für den erforderlichen Eingriff in Kolkata keine Expertise gibt, muss Priya vor der Niederkunft in eine Spezialklinik in Delhi. Die wird sie allerdings nur aufnehmen, wenn die Bezahlung der Rechnung sichergestellt ist. Weil die Ersparnisse der Familie nicht ausreichen, bittet Priya ihren Bruder, ihr Geld zu leihen oder für einen Kredit zu bürgen. Clara bietet ihrem Lebensgefährten sofort an, einen eventuell noch fehlenden Betrag abzudecken. Aber davon will Tarun nichts wissen. Lieber würde er einen Bankkredit aufnehmen. Das verletzt Clara.

Weil der Bauleiter vor Ort mit Schwierigkeiten kämpft, die sich nicht telefonisch von Berlin aus lösen lassen, muss Tarun nach Indien. Dass er davon ausgeht, dass Clara aus beruflichen Gründen nicht mitkommen kann, ärgert sie. Er hätte sie zumindest fragen können.

In dem Flüchtlingsheim, in dem Amal wohnt, wird eine sechsköpfige Familie aus Tschetschenien für die Abschiebung abgeholt. Abu, ein schon älterer Syrer, und Amals ebenfalls aus Syrien geflohene Zimmergenossin Nourig erhalten dagegen positive Bescheide auf ihre Asylanträge.

Clara verabredet sich mit Amal am Pergamon­museum und zeigt ihr das Ischtar-Tor. Amals Großmutter wurde vor einigen Tagen mit einem Infarkt ins Krankenhaus gebracht. Während des Besuchs im Museum erfährt Amal durch einen Anruf ihrer Mutter, dass Ischtar gestorben ist. Der Tod ihrer geliebten Großmutter macht Amal schwer zu schaffen, zumal sie ihr Versprechen, ein Veilchen aus Deutschland zu schicken, noch nicht eingelöst hat. Amal will sofort in ein Internet-Café, um mit ihrer Mutter zu skypen. Clara arrangiert stattdessen mit Tarun, dass sie den großen Bildschirm in einem Konferenz­raum des Architektur­büros benutzen können.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die beiden Irakerinnen reden miteinander arabisch, aber unvermittelt wechselt Rauya ins Englische und sagt:

„No, Amal, you stay where you are! You stay in Berlin!“

Clara begreift, dass sie diese Aufforderung verstehen soll. Weil Amals Asylantrag im Fall einer Ausreise erledigt wäre, verspricht Carla spontan, an ihrer Stelle mit Veilchen nach Bagdad zu reisen. Ebenso wie Tarun trifft Clara eine Entscheidung ohne Rücksprache mit dem Lebensgefährten. An der Beerdigung kann Clara nicht teilnehmen, denn es dauert einige Tage, bis sie die Flüge gebucht, Visa bekommen, Einzelheiten organisiert und sowohl blühende Veilchen als auch Veilchen-Samen besorgt hat. Eine befreundete Ärztin schreibt sie für eine Woche krank.

Am Flughafen von Bagdad wird sie von einem Fahrer namens Jassir abgeholt.

Währenddessen erhält Amal Post vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Ihr Asylantrag wurde angenommen. Sie darf in Deutschland bleiben.

Tarun teilt Clara in einer langen E-Mail mit, dass er mindestens zweieinhalb Jahre in Indien bleiben müsse, um die Bauarbeiten zu beaufsichtigen. Sonst wäre zu befürchten, dass man das Projekt weder rechtzeitig noch zu den budgetierten Kosten fertigstellen würde. Er habe die Entscheidung allein getroffen, schreibt er, weil er die Verantwortung trage und es für ihn keine Alternative gebe. Was das für ihre Beziehung bedeuten wird? Er weiß es nicht. Vielleicht schließt Clara sich den Ärzten ohne Grenzen in Indien an, oder sie besuchen sich gegenseitig in Berlin bzw. Kolkata.

Clara trifft Amals Mutter nicht mehr lebend an. Rauya hat sich erhängt. Als Ärztin erkennt Clara, dass die Frau seit zwei oder drei Tagen tot ist. Sie findet ein arabisch beschriftetes Kuvert, auf dem in lateinischen Buchstaben „Amal“ steht. Augenscheinlich handelt es sich um Rauyas Abschiedsbrief an die Tochter, den Clara nach Berlin mitnehmen soll.

Vorsichtig nahm ich den Umschlag in die Hände, betrachtete die schwarze Tintenschrift und fühlte innen gefaltete Blätter, mindestens zwei. Ich meinte, auch etwas sehr Feines, Schmales und langes fühlen zu können, ein paar Haare vielleicht? Vielleicht täusche ich mich. Ich stand da, den Brief in meinen Händen, und wollte nicht, wollte erst später, draußen daran denken, was wohl in dem Brief geschrieben steht, ich fürchtete mich davor und konnte doch nicht nicht daran denken, stellte mir vor, was Rauya auf den Blättern schreibt, von einem Leben in Freiheit und Frieden, und vermutlich auch von deiner Zukunft, Amal … Aber wer weiß, vielleicht steht in dem Brief auch etwas ganz anderes, nichts Abgeklärtes, sondern etwas Wütendes, Verzweifeltes? Eine Anklage an alle, die Rauyas geliebtes Land so unbewohnbar gemacht haben?

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Hannah Dübgen erzählt die vorwiegend in Berlin, aber auch in Bagdad und Kolkata bzw. Hoara spielende Geschichte abwechselnd aus der Sicht der beiden Haupt­figuren, der 31-jährigen deutschen Ärztin Clara Hobrecht und der zehn Jahre jüngeren Asylbewerberin Amal Al-Sharhany aus dem Irak. Claras Lebensgefährte, der indische Architekt Tarun Sarkar, sagt an einer Stelle über das Bauen:

„Alles hängt mit allem zusammen, das am Ende Sichtbare mit dem Unsichtbaren […]“

Das gilt auch für Hannah Dübgens Roman „Über Land“, der ebenso wie ihr Debüt „Strom“ kosmopolitisch angelegt ist. „Über Land“ dreht sich um Verantwortung, nicht nur für Mitmenschen und Beziehungen, sondern auch für sich selbst und die eigenen Projekte. Es geht um Mitmenschlichkeit und Solidarität, unterschiedliche Lebensarten, Migration und Globalisierung. Im Zentrum steht die Möglichkeit zur Freiheit und Selbstbestimmung, die es beispielsweise im Irak nicht gibt. Deshalb prangert Hannah Dübgen die politischen Verhältnisse im Irak sowohl unter Saddam Hussein als auch nach seinem Sturz an.

„Über Land“ ist ein leiser, ruhiger und unspektakulärer Roman mit Tiefgang. Hannah Dübgen leuchtet die Charaktere ebenso wie ihr Verhalten mit großer Empathie aus.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © dtv Verlagsgesellschaft

Hannah Dübgen: Strom

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