T. C. Boyle : San Miguel

San Miguel
Originalausgabe: San Miguel Viking, New York 2012 San Miguel Übersetzung: Dirk van Gunsteren Carl Hanser Verlag, München 2013 ISBN: 978-3-446-24323-1, 447 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

T. C. Boyle erzählt in seinem auf Tatsachen basierenden Roman "San Miguel" von zwei Familien, die zerbrechen, weil die Männer mit ihren Illusionen scheitern. Da die 1888 nach San Miguel ziehende Familie Waters und die 1930 dort die Schafzucht übernehmende Familie Lester außer ihrem Leben auf der einsamen Insel nichts verbindet und Tom Caraghessan Boyle die beiden Geschichten auch getrennt voneinander erzählt, hätte er auch zwei Romane daraus machen können. Aber dann wären die Parallelen und Spiegelungen verloren gegangen ...
mehr erfahren

Kritik

Die Darstellung entspricht der Eintönigkeit des Insellebens. Bedächtig und ohne Effekthascherei führt uns T. C. Boyle in "San Miguel" durch die Kapitel, die keinen Spannungsbogen aufbauen, sondern sich wie Episoden aneinanderreihen.
mehr erfahren

1888 ziehen Will und Marantha Waters mit der 14 Jahre alten Adoptivtochter Edith, der Köchin Ida und den Hilfskräften Adolph und Jimmie auf die sonst unbewohnte Insel San Miguel, eine der acht kalifornischen Kanalinseln. Will arbeitete bisher in Druckereien. Auf San Miguel will der Fünfzigjährige Schafe züchten, und mit dem Geld, das Marantha von ihrem ersten Mann geerbt hatte, erwarb er die Anteile des Mannes, der das bisher tat und die einsame Insel jetzt mit seiner Familie verlässt. Marantha ist 38 Jahre alt und schwindsüchtig. Sie hofft, dass ihr die Luft auf der Insel guttun werde, aber zunächst ist sie entsetzt über die Bretterbude, die sie und Will von der Familie Mills übernehmen.

Die Möbel waren mit Schimmel gesprenkelt, Kleider fühlten sich einen Tag nach dem Waschen schmutzig an, das Papier ihrer Bücher war fleckig und schmutzig, sie wurden von innen zerfressen, verrotteten und zerfielen.

Als Marantha über das undichte Dach und andere Unannehmlichkeiten klagt, meint Will, ein Veteran des Sezessionskriegs:

„Wenn du meinst, das hier ist schlimm, hättest du im Krieg dabei sein sollen.“

Marantha fehlt die Zivilisation; ihr macht die Eintönigkeit auf der 13 Kilometer langen und sechs Kilometer breiten Insel San Miguel schwer zu schaffen.

[…] die Spanier hatten schon vor hundert Jahren den letzten Baum der Insel gefällt und in der Zwischenzeit hatten die Schafe dafür gesorgt, dass alles, was länger als zehn Zentimeter war, bis auf die Erde abgefressen wurde. Oder vielmehr bis auf den Schlamm.

Ihren Ehemann, mit dem sie schon seit längerer Zeit keinen Sex mehr hatte, fordert sie auf, das Schlafzimmer zu verlassen, und er richtet sich in einer Kammer ein. Einige Zeit später hört sie, wie er im Morgengrauen aus Idas Zimmer schleicht. Als die Situation unerträglich geworden ist, besteht Marantha darauf, dass Will einen Verwalter einsetzt, damit sie aufs Festland zurückkehren können.

Edith wird in ein Internat geschickt.

Durch ein Telegramm erfährt sie, dass ihre Adoptivmutter schwer erkrankt ist. Zwei Tage dauert die Schiffsreise nach San Francisco zu den Adoptiveltern. Als Edith ankommt, ist Marantha bereits tot.

Gegen ihren Willen lässt Will sie nicht wieder ins Internat zurückkehren, sondern zieht mit ihr erneut nach San Miguel und verlangt von ihr Gehorsam. Ihre Fluchtversuche scheitern. Als Ida schwanger wird und die Insel verlässt, bleibt Edith als einzige Frau auf der Insel zurück und muss das Kochen für ihren Adoptivvater, Adolph und Jimmie übernehmen.

Als Kind spielte sie mit Jimmie Herrin und Sklavin. Nach wie vor verhält er sich unterwürfig. Der Junge liebt sie, aber sie lässt sich von ihm allenfalls durch die Kleider hindurch berühren. Andererseits bringt sie ihn dazu, sich vor ihr auszuziehen, und sie befriedigt ihn mit der Hand. Er soll ihr bei der Flucht von San Miguel helfen, aber er schreckt vor dem Zorn seines Dienstherrn zurück.

Unter den von Insel zu Insel ziehenden Schafscherern entdeckt Edith einen neuen Mann. Sie ermutigt den 26-jährigen Rafael mit Blicken, und in der Nacht vor der Abreise der Gruppe trifft sie sich mit ihm hinter dem Plumpsklo. Rafael wirft sie auf den Boden und vergewaltigt sie, aber am nächsten Morgen verlässt er die Insel ohne sie.

Erst der junge Robbenjäger Robert Ord, der regelmäßig auf die Insel kommt, um Guano zu sammeln, ist bereit, sie in seinem Boot mitzunehmen.

Unter dem Namen Inez Deane wird Edith Scott Waters in San Francisco Schauspielerin. Ein Jahr nach der Flucht von San Miguel heiratet sie einen Schauspieler, zieht mit ihm nach Los Angeles und bringt dort eine Tochter zur Welt. Als die Ehe kurz darauf geschieden wird, überlässt sie die kleine Dorothy Walker einer Bekannten und kehrt nach San Francisco zurück. Dorothy wird von einem Ölmillionär adoptiert, der zwei Jahre später stirbt. Weil er sich kurz zuvor scheiden ließ, erbt Dorothy das ganze Vermögen. Als Edith das mitbekommt, klagt sie gegen die geschiedene Ehefrau des Toten und erhält vom Gericht das alleinige Sorgerecht für ihre reiche Tochter zugesprochen. Das Kind wird keine 20 Jahre alt: Dorothy stirbt an Grippe. Edith heiratet dreimal und wird ebenso oft geschieden.

Im März 1930 zieht das frisch verheiratete Paar Herbert („Herbie“) und Elizabeth („Elise“) Edith Lester nach San Miguel. Herbie ist 42 Jahre alt, Elise vier Jahre jünger. Anders als damals Marantha Waters freut sich die aus New York stammende Bibliothekarin auf das Inselleben. Das Paar bezieht ein 25 Jahre altes, von Will Waters gebautes Blockhaus. (Das erste Haus musste aufgegeben werden.)

Eigentlich rechnete Elise wegen ihres Alters nicht mehr damit, noch Mutter zu werden, aber sie bringt im Abstand von zwei Jahren zwei Töchter zur Welt: Marianne und Betsy.

Seit 1917 hat Bob Brooks die Insel gepachtet. Er ist ebenso alt wie Herbie, der die Schafzucht für ihn verwaltet. Auf der Insel lebt außer den Lesters niemand, aber das macht ihnen nichts aus.

Erst als Herbie der Splitter einer Granate, der seit dem Ersten Weltkrieg in seinem Körper wandert, so schmerzt, dass er sich kaum noch bewegen kann, bedauert Elise, nicht auf dem Festland zu sein. Die Lesters verfügen nicht einmal über ein Boot. Wie durch ein Wunder entdeckt Elise dann aber eine Motoryacht in der Bucht. Sie läuft hinunter und macht sich bemerkbar. Das Schiff gehört Dick Graffy, dem Vorstandsvorsitzenden der Ventura Savings and Loan, und seiner Frau Margot. Während Herbie von Dick in ein Krankenhaus auf dem Festland gebracht wird, leistet Margot seiner Frau auf San Miguel Gesellschaft.

Statt mit Herbie kommt Dick Graffy mit Jimmie zurück, dem Mann, der als Junge für Will Waters gearbeitet hatte. Herbie muss operiert werden und bleibt über einen Monat weg.

Schließlich schaffen sich die Lesters ein Radiogerät und einen Generator an, um Nachrichten und Musik hören zu können.

Richard Blakely, ein Reporter der Santa Barbara News-Press, besucht sie für ein paar Tage und schreibt dann einen Artikel über die Familie, die den amerikanischen Siedlermythos realisiert. Der Beitrag wird bundesweit von anderen Zeitungen und Zeitschriften aufgegriffen. Sogar „Life“ schickt einen Reporter und einen Fotografen nach San Miguel.

Dadurch wird aber auch die Schulbehörde in Santa Barbara auf die Familie aufmerksam und weist darauf hin, dass Kinder vom fünften Lebensjahr an schulpflichtig sind. Betsy ist noch nicht ganz fünf Jahre alt, aber Marianne ist bereits sieben. Elise erhält schließlich die Erlaubnis, ihre Töchter selbst zu unterrichten. Dazu gehört übrigens auch, ihnen zu erklären, was zum Beispiel eine Münze, ein Auto oder ein Schwein ist, denn all das gibt es auf San Miguel nicht.

Eines Tages tauchen zwei Fremde auf – John Ayers und Leonard Thompson –, die vom Innenministerium den Auftrag bekamen, eine Bestandsaufnahme der Fauna und Flora von San Miguel vorzunehmen. Die Behörde hält die Insel für überweidet und prüft die Möglichkeit einer Wiederaufforstung. Bald darauf schickt die Navy, die inzwischen die Verwaltung der Inselgruppe übernommen hat, den Landvermesser Frank Furlong nach San Miguel. Aber die Schafzucht wird erst einmal nicht verboten.

Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA werden die beiden Matrosen Reg Bauer und Frederick Frederickson nach San Miguel abkommandiert. Ihr Befehl lautet, die Insel zu bewachen und gegebenenfalls feindliche Kombattanten abzuwehren.

Dass es einem japanischen U-Boot am 23. Februar 1942 gelang, das Ellwood-Ölfeld westlich von Santa Barbara zu beschießen, erfahren die beiden Matrosen jedoch ebenso wie die Lesters erst aus den Radionachrichten. Herbie, der ohnehin schon darunter leidet, nicht mehr allein das Sagen auf San Miguel zu haben, wird durch den japanischen Angriff ganz in der Nähe stark verunsichert.

Kurz darauf trennt er sich beim Holzhacken versehentlich den Zeige- und den Mittelfinger der linken Hand ab. Über das Funkgerät ruft Elise Hilfe herbei, und eine Stunde später wird Herbie mit einem Flugzeug weggebracht. Wieder bleibt er mehr als einen Monat im Krankenhaus.

Völlig verändert kommt er zurück. Wegen der fehlenden Finger kann er einige Arbeiten nicht mehr verrichten, und das macht ihm zu schaffen. Eines Abends geht er zum Hügel bei Harris Point und erschießt sich. Seinem letzten Wunsch entsprechend wird er dort begraben.

Elise verbrennt alles, bevor sie San Miguel für immer verlässt, denn sie will nichts mitnehmen.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Für seinen Roman „Als das Schlachten vorbei war“ hatte Tom Coraghessan Boyle viel Material über die kalifornischen Kanalinseln zusammengetragen, darunter Tagebuchaufzeichnungen von Marantha Waters und Memoiren von Elise und Betsy Lester: Marla Daily (Hg.): Mrs Waters‘ Diary of Her Life on San Miguel Island; Elizabeth Sherman Lester: The Legendary King of San Miguel; Betsy Lester Roberti: San Miguel Island. My Childhood Memoir. Aus diesen zwei Familiengeschichten machte T. C. Boyle den auf der Titel gebenden Insel spielenden Roman „San Miguel“.

„San Miguel“ dreht sich um den amerikanischen Traum von Freiheit und Abenteuer. Tom Coraghessan Boyle erzählt von zwei Familien, die nacheinander allein auf der Insel vor Santa Barbara leben. Will Waters und Herbie Lester versprechen sich gewissermaßen paradiesische Zustände, als sie 1888 bzw. 1930 mit ihren Familien auf die ansonsten unbewohnte Insel kommen. Marantha Waters vermisst von Anfang an die Zivilisation, aber Elise Lester ist zu Beginn erwartungsvoll. Beide Familien zerbrechen, weil die Männer mit ihren Träumen scheitern. In „San Miguel“ geht es zum einen um Desillusionierung, zum anderen um Emanzipation.

Da die Familien Waters und Lester außer ihrem Leben auf San Miguel nichts verbindet und Tom Caraghessan Boyle die beiden Geschichten auch getrennt voneinander erzählt, hätte er auch zwei Romane daraus machen können. Aber dann wären die Parallelen und Spiegelungen verloren gegangen.

Missglückt ist dagegen der Einschub eines dritten Teils, der von Maranthas Adoptivtochter Edith handelt. Der ist im Vergleich zu den anderen beiden Teilen zu kurz, oberflächlich und trivial geraten. Offenbar fehlte es Tom Caraghessan Boyle an Material über Edith. Während er die Erlebnisse Maranthas und Elises ganz aus deren Sicht schildert und die Charaktere dabei auch ausleuchtet, nimmt er im mittleren Teil die Position eines unbeteiligten Autors ein, bevor er dann im eigentlich Elise gewidmeten dritten Teil die Romanfigur Jimmie noch einmal kurz von Edith berichten lässt.

Die Darstellung entspricht der Eintönigkeit des Insellebens. Bedächtig und ohne Effekthascherei führt uns T. Caraghessan Boyle durch die Kapitel, die keinen Spannungsbogen aufbauen, sondern sich wie Episoden aneinanderreihen, nicht auf einen Kulminationspunkt hinstreben, sondern ein gleichförmiges Auf und Ab ergeben.

Den Roman „San Miguel“ von T. Coraghessan Boyle gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Jan Josef Liefers (Lesefassung: Anke Albrecht, Regie: Hannes Hametner, München 2013, ISBN 978-3-8445-1167-3).

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Tom Coraghessan Boyle (kurze Biografie / Bibliografie)

Tom Coraghessan Boyle: Wassermusik
Tom Coraghessan Boyle: World’s End
Tom Coraghessan Boyle: Grün ist die Hoffnung
Tom Coraghessan Boyle: Willkommen in Wellville (Verfilmung)
Tom Coraghessan Boyle: América
Tom Coraghessan Boyle: Riven Rock
Tom Coraghessan Boyle: Schluss mit cool
Tom Coraghessan Boyle: Zähne und Klauen
Tom Coraghessan Boyle: Talk Talk
Tom Coraghessan Boyle: Die Frauen
Tom Coraghessan Boyle: Das wilde Kind
Tom Coraghessan Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist
Tom Coraghessan Boyle: Hart auf hart
Tom Coraghessan Boyle: Die Terranauten
Tom Coraghessan Boyle: Das Licht
Tom Coraghessan Boyle: Sprich mit mir
Tom Coraghessan Boyle: Blue Skies

Juli Zeh - Unterleuten
Juli Zeh wechselt in "Unterleuten" von Kapitel zu Kapitel die Perspek­tive. So erleben wir, wie sich facet­ten­reich dargestellte Personen auf­grund von Fehl­ein­schätzungen ver­galoppieren. Gruppendynamische Vorgänge könnten nicht besser veranschaulicht werden.
Unterleuten