Friedrich Dürrenmatt : Der Richter und sein Henker
Inhaltsangabe
Kritik
Dem Schweizer Dorfpolizist Alphons Clenin fällt am 3. November 1948 außerhalb von Twann ein am Straßenrand stehender blauer Mercedes auf, dessen Fahrer über dem Lenkrad eingeschlafen zu sein scheint. Als Clenin den Mann aufwecken will, stellt er fest, dass er erschossen wurde. Es handelt sich um Ulrich Schmied, einen Polizeileutnant der Stadt Bern; das geht aus den Ausweispapieren in seiner Brieftasche hervor.
Schmieds Vorgesetzter, Kriminalkommissar Hans Bärlach, übernimmt die Leitung der Ermittlungen, erbittet sich jedoch wegen seines Alters – er ist über sechzig – und seines schmerzhaften Magenleidens von dem Untersuchungsrichter Dr. Lucius Lutz einen Mitarbeiter, der allerdings aus dem Urlaub in Grindelwald geholt werden muss. Sein Name ist Tschanz.
Bärlach war lang im Ausland gewesen, als junger Polizist beispielsweise in Istanbul, wo die Schweizer den Türken bei der Ausbildung ihrer Polizei geholfen hatten. Zuletzt war er in Frankfurt am Main; weil er dort jedoch einen hohen deutschen Regierungsbeamten geohrfeigt hatte, musste er 1933 vorzeitig in seine Heimatstadt Bern zurück. Dr. Lutz zählt den ungeschliffenen Kommissar zum „rostigen alten Eisen“, klagt über die Rückständigkeit der Schweizer Polizei und schwärmt von den wissenschaftliche Methoden in der Verbrechensbekämpfung, über die er sich soeben in New York und Chicago informierte. Er lehrt Kriminalistik an der Universität.
Als Erstes fährt Bärlach zu Frau Schönler, der Vermieterin des Ermordeten, gibt vor, der Kollege sei dienstlich verreist und habe ihn gebeten, dringend benötigte Unterlagen nachzuschicken. Eine Schreibmappe nimmt er mit.
In Schmieds Taschenkalender ist am Mordtag ein „G“ eingetragen. Dieser Buchstabe taucht mehrmals an vergangenen und zukünftigen Tagen auf, und weil man den Toten in einem guten Anzug auffand, lässt sich vermuten, dass es sich bei den Terminen um vornehme Gesellschaften handelt. Am nächsten mit einem „G“ markierten Abend warten Tschanz und Bärlach an der Straße, an der die Leiche gefunden wurde, und tatsächlich tauchen mehrere Limousinen auf, in denen gut angezogene Leute sitzen. Die Kriminalisten folgen ihnen und gelangen zu der abgelegenen Villa eines gewissen Herrn Gastmann. Daher also das „G“. Getrennt gehen sie um das Anwesen herum. Unmittelbar bevor sie zusammentreffen, wird Bärlach von einem riesigen Hund angefallen, aber Tschanz erschießt das Tier. Abrupt endet im Haus das Klavierspiel. Fenster werden aufgerissen. Gäste wollen wissen, warum geschossen wurde. Oskar von Schwendi – Oberst, Nationalrat und Anwalt des Gastgebers – entrüstet sich über das Vorgehen der Polizei:
„Man erschießt nun einmal keinen Hund, wenn Bach gespielt wird.“ (Seite 53)
Am nächsten Morgen sucht er seinen Parteifreund Dr. Lutz auf und beschwert sich darüber, dass man Ulrich Schmied auf seinen Mandanten Gastmann angesetzt habe. Davon weiß der Untersuchungsrichter gar nichts. Von Schwendi verlangt, dass die Polizei Herrn Gastmann in Ruhe lässt und deutet an, dass hinter dem Mord eine bestimmte ausländische Macht stehen könnte. Bei den Abendgesellschaften in der Villa Gastmanns habe es sich nämlich um geheime, durch die Anwesenheit von Künstlern getarnte Treffen zwischen Schweizer Industriellen und diplomatischen Vertretern einer ausländischen Regierung gehandelt.
Als Bärlach nach Hause kommt, sitzt Gastmann am Schreibtisch und blättert in der Mappe, die der Kommissar aus Schmieds Wohnung mitnahm. Die beiden kennen sich. Vor vierzig Jahren waren sie in einer Kneipe in Istanbul ins Gespräch gekommen. Als sie schon einiges getrunken hatten, diskutierten sie darüber, ob der Zufall die Verbrecher eher begünstige oder nicht. Gastmann erinnert sich:
„Deine These war, dass die menschliche Unvollkommenheit, die Tatsache, dass wir die Handlungsweise anderer nie mit Sicherheit vorauszusagen, und dass wir ferner den Zufall, der in alles hineinspielt, nicht in unsere Überlegung einzubauen vermögen, der Grund sei, der die meisten Verbrechen zwangsläufig zutage fördern müsse. Ein Verbrechen zu begehen nanntest du eine Dummheit, weil es unmöglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren. Ich dagegen stellte die These auf, mehr um zu widersprechen als überzeugt, dass gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen es möglich mache, Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt werden könnten […]“ (Seite 61)
Drei Tage später stieß Gastmann einen deutschen Kaufmann von der Mahmud-Brücke. Bärlach sprang zwar hinterher, konnte aber den Ertrinkenden nicht retten und geriet stattdessen selbst in Not. Er ließ Gastmann festnehmen und verhören, aber der hatte sich sein Opfer sorgfältig ausgesucht: Es handelte sich um einen Unternehmer, der den finanziellen Ruin durch einen Betrug verhindern wollte und nun doch vor dem Konkurs stand. Also deutete alles auf einen Selbstmord hin, und Gastmann kam frei.
„Ich wurde ein immer besserer Verbrecher und du ein immer besserer Kriminalist: Den Schritt jedoch, den ich dir voraus hatte, konntest du nie einholen.“ (Seite 63)
Gastmann nimmt die Mappe an sich, in der Polizeileutnant Schmied aufgrung eines vertraulichen Auftrags seines Vorgesetzten Beweise gegen den Geschäftsmann gesammelt hatte und verlässt Bärlach, der keine Kopien davon besitzt.
Ohne von Gastmanns Besuch bei Bärlach erfahren zu haben, fährt Tschanz mit seinem Vorgesetzten zu einem Schriftsteller, der häufig in Gastmanns Villa gewesen sein soll. Der erzählt ihnen, Ulrich Schmied habe sich als Geschichtsprofessor Dr. Prantl aus München ausgegeben und bei bei den Abendgesellschaften Gastmanns eingeschlichen. Den Geschäftsmann hält er zu allem fähig und bezeichnet ihn als Nihilisten:
„Vielleicht hat Gastmann mehr Gutes getan, als wir drei zusammen, die wir hier in diesem schiefen Zimmer sitzen. Wenn ich ihn schlecht nenne, so darum, weil er das Gute ebenso aus einer Laune, aus einem Einfall tut wie das Schlechte, welches ich ihm zutraue. Er wird nie das Böse tun, um etwas zu erreichen, wie andere ihre Verbrechen begehen, um Geld zu besitzen, eine Frau zu erobern oder Macht zu gewinnen, er wird es tun, weil es sinnlos ist, vielleicht, denn bei ihm sind immer zwei Dinge möglich, das Schlechte und das Gute, und der Zufall entscheidet.“ (Seite 74)
Nachts um 2 Uhr wacht Bärlach auf und hört Geräusche. Jemand schleicht in seiner Wohnung herum. Er greift nach seinem Revolver und steht auf, aber der Einbrecher wirft im Dunkeln ein Messer nach ihm und entkommt.
Am Morgen packt Bärlach seine Sachen und ruft ein Taxi, das ihn zum Bahnhof bringen soll, denn er will nach Grindelwald fahren. In dem Wagen sitzt Gastmann, und der Chauffeur ist einer seiner beiden Diener. Gastmann verhöhnt den todkranken Bärlach, aber der droht ihm:
„Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.“ (Seite 89)
„Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen. Er wird dich töten, denn das muss nun eben einmal in Gottes Namen getan werden.“ (Seite 89)
Während Bärlach sich in Grindelwald nach Tschanz umhört, nähert dieer sich der Villa Gastmanns. Die Tür steht offen. Er geht hinein – und steht plötzlich vor dem Hausherrn, zwei Dienern und einem Stapel gepackter Koffer. Die drei Männer sind reisefertig. „Sie sind es also“, sagt Gastmann etwas verwundert. (Seite 93) Ein Diener zieht einen Revolver heraus und feuert auf den Eindringling. Der Polizeibeamte schießt zurück und tötet Gastmann und die beiden Diener. Er selbst wurde nur leicht am Arm verletzt.
Die Unterlagen, die bei der Durchsuchung der Villa sichergestellt werden – darunter Ulrich Schmieds Mappe –, beweisen, dass es sich bei Gastmann um einen Verbrecher handelte. Dr. Lutz nimmt an, dass damit auch der Mordfall Ulrich Schmied gelöst ist: Offenbar war der Polizeileutnant dem Großkriminellen auf der Spur, und der ließ ihn deshalb aus dem Weg räumen.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Angeblich um den Erfolg zu feiern, lädt Bärlach seinen jungen Mitarbeiter Tschanz zum Essen ein. Während er selbst isst und trinkt, als sei er gar nicht magenkrank, bringt Tschanz kaum einen Bissen hinunter. Er begreift, dass der erfahrene Kommissar ihn längst durchschaut hat. Tschanz stand immer im Schatten anderer und wurde bei Beförderungen übergangen. Als er auf Schmieds Schreibtisch die Mappe mit dem Belastungsmaterial gegen Gastmann entdeckte, beschloss er, seinen Kollegen zu töten, um endlich selbst einen großen Ermittlungserfolg vorweisen zu können. Zaghaft weist Tschanz seinen Gastgeber darauf hin, dass Schmied mit der Waffe eines der beiden Diener erschossen wurde. Das ergaben die polizeilichen Untersuchungen. Bärlach entgegnet verächtlich, natürlich habe Tschanz nach dem Schusswechsel in Gastmanns Villa seinen Revolver mit dem des Dieners vertauscht. Bärlach verrät seinem Besucher, er habe bei dem Angriff von Gastmanns Hund einen Armschutz wie ein Hundetrainer getragen und den Vorfall absichtlich herbeigeführt, um an ein Projektil aus der Waffe des Untergebenen heranzukommen, das er mit dem am Tatort gefundenen vergleichen konnte. Bärlach weiß auch, dass Tschanz der nächtliche Einbrecher in seiner Wohnung war. Dem wird bewusst, dass der Kommissar mit ihm gespielt hat.
„Ich habe mit dir gespielt“, antwortete Bärlach mit furchtbarem Ernst. „Ich konnte nicht anders. Du hast mir Schmied getötet, und nun musste ich dich nehmen.“
„Um Gastmann zu töten“, ergänzte Tschanz, der mit einem Male die ganze Wahrheit begriff.
„Du sagst es. Mein halbes Leben habe ich hingegeben, Gastmann zu stellen, und Schmied war meine letzte Hoffnung. Ich hatte ihn auf den Teufel in Menschengestalt gehetzt, ein edles Tier auf eine wilde Bestie. Aber dann bist du gekommen, Tschanz, mit deinem lächerlichen, verbrecherischen Ehrgeiz, und hast mir meine einzige Chance vernichtet. Da habe ich dich genommen, dich, den Mörder, und habe dich in meine furchtbarste Waffe verwandelt, denn dich trieb die Verzweiflung, der Mörder musste einen anderen Mörder finden. Ich machte mein Ziel zu deinem Ziel.“ (Seite 102)„Da haben Sie mich und Gastmann aufeinander gehetzt wie Tiere!“
„Bestie gegen Bestie“, kam es unerbittlich vom anderen Lehnstuhl her.
„Dann waren Sie der Richter, und ich der Henker“, keuchte der andere.
„Es ist so“, antwortete der Alte. (Seite 103)
Bärlach hat nicht vor, Tschanz festzunehmen oder zu verraten. Er will ihn nur nicht mehr sehen und schickt ihn fort.
Am anderen Morgen erfährt er von Dr. Lutz, dass Tschanz zwischen Ligerz und Twann mit seinem Wagen von einem Zug erfasst wurde und tot ist.
Endlich folgt Bärlach dem Ratschlag seines Hausarztes Dr. Samuel Hungertobel, mit dem er schon zur Schule ging, und lässt sich operieren. Ein Jahr gibt ihm der Arzt noch zu leben, wenn die Operation erfolgreich verläuft.
In „Der Richter und sein Henker“, seinem ersten Kriminalroman, verstößt Friedrich Dürrenmatt bewusst gegen die in dem Genre geltenden Regeln: Normalerweise funktionieren Kriminalromane, weil das menschliche Handeln berechenbar ist, aber Friedrich Dürrenmatts Kommissar Hans Bärlach will seit vierzig Jahren beweisen, dass unkalkulierbare Zufälle das perfekte Verbrechen unmöglich machen und zur Überführung der Täter beitragen.
Da auf der ersten Seite ein Mordopfer entdeckt wird, glaubt der Leser, dass es in „Der Richter und sein Henker“ um die Aufklärung der Tat und die Überführung des Verbrechers geht. Aber der leitende Ermittlungsbeamte weiß von Anfang an, wer der Mörder ist und verfolgt ein ganz anderes Ziel. Hans Bärlach ist kein Held, sondern ein todkranker älterer Mann, der hilflos wirkt und doch die Fäden zieht. Anders als man es in einem Kriminalroman erwarten würde, stellt sich dieser moralisch ambivalente Kommissar außerhalb des Gesetzes, indem er einen kleinen auf einen großen Verbrecher ansetzt, sich selbst zum Richter aufschwingt und einen ahnungslosen Mörder als Henker missbraucht.
Mit kurzen, sachlich-trockenen Sätzen und lapidaren Dialogen führt Friedrich Dürrenmatt seine Leser mehrmals in die Irre und erzählt eine originelle, raffinierte und spannende Kriminalgeschichte ohne simple Schwarz-Weiß-Muster.
Nach zwei Theaterstücken und zwei Erzählungen veröffentlichte Friedrich Dürrenmatt 1950/51 den Kriminalroman „Der Richter und sein Henker“ als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung „Der Schweizerische Beobachter“. 1952 erschien die Buchausgabe. Damit schaffte er den Durchbruch.
Maximilian Schell verfilmte den Roman: „Der Richter und sein Henker“.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Diogenes Verlag, Zürich
Die Seitenangaben beziehen sich auf einen Band der von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki
herausgegebenen Buchreihe „Bibliothek des 20. Jahrhunderts“ (Deutscher Bücherbund, Stuttgart / München o. J.)
Maximilian Schell: Der Richter und sein Henker
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