Friedrich Dürrenmatt : Die Physiker

Die Physiker
Die Physiker Komödie Manuskript: 1961 Uraufführung:Schauspielhaus Zürich, Februar 1962 Buchausgabe: Verlag der Arche, Zürich 1962 Neufassung: 1980 Diogenes Verlag, Zürich 1998 ISBN: 978-3-257-23047-5, 95 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In dem von Frl. Dr. Mathilde von Zahnd geleiteten Privatsanatorium leben drei Physiker. Jeder von ihnen erdrosselt eine Krankenschwester, aber Kriminalinspektor Voß nimmt sie nicht fest, denn sie gelten als wahnsinnig und befinden sich ohnehin schon in einer Irrenanstalt. Möbius, einer der drei Physiker, hat die Weltformel entdeckt und täuscht seine Geisteskrankheit nur vor, weil er befürchtet, das Wissen könne die Menschheit gefährden ...
mehr erfahren

Kritik

In der grotesken Komödie "Die Physiker" beschäftigt sich Friedrich Dürrenmatt mit der Frage, ob die Forschung sich innerhalb des Machbaren Grenzen setzen müsse oder nicht.
mehr erfahren

Kriminalinspektor Richard Voß kommt mit seinem Assistenten Blocher in die etwas verlotterte Villa des Privatsanatoriums „Les Cerisiers“, wo innerhalb von drei Monaten zum zweiten Mal eine Krankenschwester erdrosselt wurde.

Bei der Gründerin und Besitzerin der Einrichtung handelt es sich um das 55 Jahre alte bucklige Fräulein Dr. h. c. Dr. med. Mathilde von Zahnd, das letzte noch lebende Mitglied einer Adelsfamilie. Die Irrenärztin gilt als Koryphäe. Ihr Briefwechsel mit C. G. Jung wurde veröffentlicht. Ihr Vater, Geheimrat August von Zahnd, hasste seine einzige Tochter ebenso wie alle anderen Menschen auch.

FRL. DOKTOR Wohl mit Recht, als Wirtschaftsführer taten sich ihm menschliche Abgründe auf, die uns Psychiatern auf ewig verschlossen sind. Wir Irrenärzte bleiben nun einmal hoffnungslos romantische Philantropen.

In der Villa sind drei Patienten untergebracht, drei Physiker. Einer von ihnen, Herbert Georg Beutler, der sich für Isaac Newton hält und seit einem Jahr in „Les Cerisiers“ lebt, tötete vor drei Monaten die für ihn zuständige Schwester Dorothea Moser. Verhaften konnte Voß ihn allerdings nicht, denn er gilt als geisteskrank und befindet sich ohnehin in einem Irrenhaus. Und nun liegt die 22-jährige Schwester Irene Straub tot am Boden. Ernst Heinrich Ernesti, der offenbar glaubt, Albert Einstein zu sein und vor zwei Jahren eingeliefert wurde, erdrosselte sie mit dem Stromkabel einer Stehlampe. Oberschwester Marta Boll korrigiert den Inspektor jedes Mal, wenn er von einem Mord spricht und weist darauf hin, dass der Täter krank sei. Voß will mit Ernesti sprechen, aber die Oberschwester erklärt ihm, das sei im Augenblick nicht möglich, denn der Patient spiele jetzt erst einmal Violine, um sich zu beruhigen.

INSPEKTOR Oberschwester Marta. Holen Sie bitte die Chefärztin.
OBERSCHWESTER Geht auch nicht. Fräulein Doktor begleitet Einstein auf dem Klavier. Einstein beruhigt sich nur, wenn Fräulein Doktor ihn begleitet.
INSPEKTOR Und vor drei Monaten musste Fräulein Doktor mit Newton Schach spielen, damit der sich beruhigen konnte […]

Schließlich kommt Newton aus seinem Zimmer und stellt den umgekippten Tisch und die Stühle auf.

NEWTON Ich ertrage Unordnung nicht. Ich bin eigentlich nur Physiker aus Ordnungsliebe geworden. Er stellt die Stehlampe auf. Um die scheinbare Unordnung in der Natur auf eine höhere Ordnung zurückzuführen.

Newton erklärt dem Inspektor, er habe Dorothea Moser töten müssen, weil sie ihn geliebt und er ihre Gefühle erwidert habe.

NEWTON Das Dilemma war nur durch eine Vorhangkordel zu lösen.
INSPEKTOR Dilemma?
NEWTON Meine Aufgabe besteht darin, über die Gravitation nachzudenken, nicht ein Weib zu lieben.
INSPEKTOR Begreife.
NEWTON Dazu kommt noch der enorme Altersunterschied.
INSPEKTOR Sicher. Sie müssen ja weit über zweihundert Jahre alt sein.
NEWTON starrt ihn verwundert an Wieso?
INSPEKTOR Nun, als Newton –
NEWTON Sind Sie nun vertrottelt, Herr Inspektor, oder tun Sie nur so?
INSPEKTOR Hören Sie –
NEWTON Sie glauben wirklich, ich sei Newton?
INSPEKTOR Sie glauben es ja.
Newton schaut sich misstrauisch um.
NEWTON Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, Herr Inspektor?
INSPEKTOR Selbstverständlich.
NEWTON Ich bin nicht Sir Isaac. Ich gebe mich nur als Newton aus.
INSPEKTOR Und weshalb?
NEWTON Um Ernesti nicht zu verwirren.
INSPEKTOR Kapiere ich nicht.
NEWTON Im Gegensatz zu mir ist Ernesti doch wirklich krank. Er bildet sich ein, Albert Einstein zu sein.
INSPEKTOR Was hat das mit Ihnen zu tun?
NEWTON Wenn Ernesti nun erführe, dass ich in Wirklichkeit Albert Einstein bin, wäre der Teufel los.
INSPEKTOR Sie wollen damit sagen –
NEWTON Jawohl. Der berühmte Physiker und Begründer der Relativitätstheorie bin ich. Geboren am 14. März 1879 in Ulm.
Der Inspektor erhebt sich etwas verwirrt.
INSPEKTOR Sehr erfreut.
Newton erhebt sich ebenfalls.
NEWTON Nennen Sie mich einfach Albert.
INSPEKTOR Und Sie mich Richard.

Endlich kommt Mathilde von Zahnd aus Einsteins Zimmer. Während Newton den Inspektor noch darauf hinwies, dass hier nur den Patienten das Rauchen erlaubt sei, zündet sich die Anstaltsleiterin eine Zigarette an und raucht, bis sie von der Oberschwester zurechtgewiesen wird. Um Voß davon zu überzeugen, dass von dem dritten Patienten keine Gefahr ausgehe, behauptet die Ärztin, bei Newton und Einstein habe wohl die Radioaktivität, der sie einige Zeit ausgesetzt waren, die Gehirne verändert. Das sei bei dem 40 Jahre alten Johann Wilhelm Möbius nicht der Fall, denn der lebe seit 15 Jahren hier und sei auch vorher keiner Strahlung ausgesetzt gewesen. Voß besteht dennoch darauf, dass die Krankenschwestern in der Villa von männlichen Pflegern abgelöst werden. Dabei weiß er, dass es sich bei den beiden Opfern nicht um schwache Mädchen handelte: Dorothea Moser war Mitglied des Damenringvereins und Irene Straub Landesmeisterin des nationalen Judoverbands.

Nachdem Voß gegangen ist, führt Oberschwester Marta Boll fünf Besucher für Johann Wilhelm Möbius herein: Seine Ex-Frau Lina Rose, die drei zwischen 16 und 14 Jahre alten Söhne Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar, Jörg-Lukas und Linas Ehemann, den Missionar Oskar Rose, der sechs eigene Söhne in die Ehe mitbrachte und in Kürze eine Missionsstation auf den Marianen übernehmen wird. Vor der Abreise sollen die Söhne ihren Vater kennenlernen. Als Lina Rosa der Anstaltsleiterin erklärt, sie könne nicht länger für die Kosten der Pflege ihres Ex-Mannes aufkommen, beruhigt Mathilde von Zahnd die Frau des Missionars und versichert ihr, sie werde sich das Geld von Stiftungen besorgen:

Der Oppelfonds für kranke Wissenschaftler, die Doktor-Steinemann-Stiftung. Geld liegt wie Heu herum, und es ist meine Pflicht als Ärztin, Ihrem Johann Wilhelmlein davon etwas zuzuschaufeln. Sie sollen mit einem guten Gewissen nach den Marianen dampfen dürfen.

Möbius ist entsetzt, als er erfährt, dass sein jüngster Sohn ebenfalls Physiker werden möchte.

MÖBIUS Das darfst du nicht, Jörg-Lukas. Keinesfalls. Das schlage dir aus dem Kopf. Ich – verbiete es dir.
JÖRG-LUKAS ist verwirrt Aber du bist doch auch ein Physiker geworden, Papi –
MÖBIUS Ich hätte es nie werden dürfen, Jörg-Lukas. Nie. Ich wäre jetzt nicht im Irrenhaus.
FRAU ROSE Aber Johann Wilhelm, das ist doch ein Irrtum. Du bist in einem Sanatorium, nicht in einem Irrenhaus. Deine Nerven sind einfach angegriffen, das ist alles.

Möbius, der behauptet, der biblische König Salomo erscheine ihm regelmäßig, deklamiert einen „Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen“. Dabei steigert er sich in einen Anfall hinein und treibt die Familie mit Beschimpfungen aus dem Salon.

Gleich darauf gesteht Möbius der 25-jährigen Krankenschwester Monika Stettler, die ihn seit zwei Jahren pflegt, er täusche die Geisteskrankheit nur vor. Davon ist sie längst überzeugt. Sie gesteht ihm ihre Liebe, und er antwortet:

Schwester Monika. Sie haben mir Ihren Glauben und Ihre Liebe gestanden. Sie zwingen mich, Ihnen nun auch die Wahrheit zu sagen. Ich liebe Sie ebenfalls, Monika.

Monika möchte den Physiker heiraten und hat bereits die Erlaubnis der Anstaltsleiterin erhalten, das Sanatorium mit ihm zusammen verlassen zu dürfen.

Fräulein Doktor von Zahnd hat schon alles geregelt. Sie hält dich zwar für krank, aber für ungefährlich. Und für erblich nicht belastet. Sie selbst sei verrückter als du, erklärte sie und lachte.

Außerdem hat Monika Geld für die gemeinsame Zukunft gespart und sich erfolgreich als Gemeindeschwester in ihrem Heimatort Blumenstein beworben, wo sie mit Möbius leben möchte. Darüber hinaus sprach sie mit Professor Scherbert, und dieser erklärte sich bereit, die in „Les Cerisiers“ verfassten Manuskripte seines früheren Studenten zu prüfen.

Mit Tränen in den Augen reißt Möbius einen Vorhang herunter und erdrosselt Monika Stettler damit.

Zum dritten Mal kommt Kriminalinspektor Richard Voß mit seinem Assistenten Blocher ins Privatsanatorium „Les Cerisiers“, um in einem Mordfall zu ermitteln. Die Krankenschwestern wurden inzwischen durch drei kräftige Pfleger ersetzt: Uwe Sievers, ehemaliger Europameister im Schwergewichtsboxen, Murillo und der Afroamerikaner McArthur, die in Süd- bzw. Nordamerika den Meistertitel holten. Diesmal korrigiert der Inspektor die Anstaltsleiterin, wenn sie statt von einem Patienten von einem Mörder spricht. Er sieht auch in diesem Fall keine Veranlassung für eine Verhaftung.

Zuerst habe ich mich ja geärgert, dass ich nicht einschreiten durfte, doch jetzt? Ich genieße es auf einmal. Ich könnte jubeln. Ich habe drei Mörder gefunden, die ich mit gutem Gewissen nicht zu verhaften brauche. Die Gerechtigkeit macht zum ersten Male Ferien, ein immenses Gefühl. Die Gerechtigkeit, mein Freund, strengt nämlich mächtig an, man ruiniert sich in ihrem Dienst, gesundheitlich und moralisch, ich brauche einfach eine Pause.

Kurz darauf gesteht Herbert Georg Beutler seinem Mitpatienten Möbius, er halte sich gar nicht für Newton, und sein Name sei auch nicht Beutler, sondern Alec Jasper Kilton. Möbius weiß sofort, um wen es sich dabei handelt: um den Begründer der Entsprechungslehre. Kilton ist Geheimagent und spielte den Verrückten, um Möbius ausspionieren zu können. Deutsch hatte er im Ausbildungslager eines (westlichen) Geheimdienstes gelernt. Als er befürchten musste, dass Dorothea Moser ihn durchschaut hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu töten.

Einstein kommt dazu und erklärt den beiden anderen Herren, er sei Agent eines (östlichen) Geheimdienstes und heiße in Wirklichkeit Joseph Eisler. Möbius weiß, dass der Entdecker des Eisler-Effekts seit 1950 als verschollen gilt. Plötzlich hat jeder der beiden gegnerischen Agenten einen Revolver in der Hand, doch weil sie gut damit umgehen können, wagt es keiner, als Erster zu schießen. Sie legen also die Waffen wieder weg.

Sowohl der östliche als auch der westliche Geheimdienst fanden heraus, dass Möbius die Weltformel entdeckt hatte und sich als angeblicher Wahnsinniger hier versteckt, um das für die Menschheit gefährliche Wissen geheim zu halten. Kilton und Eisler sollen die Manuskripte für ihren jeweiligen Geheimdienst beschaffen.

EINSTEIN Es tut mir leid, dass die Angelegenheit ein blutiges Ende findet. Aber wir müssen schießen. Aufeinander und auf die Wärter ohnehin. Im Notfall auch auf Möbius. Er mag der wichtigste Mann der Welt sein, eine Manuskripte sind wichtiger.
MÖBIUS Meine Manuskripte? Ich habe sie verbrannt.
Totenstille.
EINSTEIN Verbrannt?
MÖBIUS verlegen Vorhin. Bevor die Polizei zurückkam. Um sicherzugehen.
EINSTEIN bricht in verzweifeltes Gelächter aus Verbrannt.
NEWTON schreit wütend auf Die Arbeit von fünfzehn Jahren.
EINSTEIN Es ist zum Wahnsinnigwerden.
NEWTON Offiziell sind wir es ja schon.
EINSTEIN Damit sind wir Ihnen endgültig ausgeliefert, Möbius.
NEWTON Und dafür musste ich eine Krankenschwester erdrosseln und Deutsch lernen.
EINSTEIN Während man mir das Geigen beibrachte: eine Tortur für einen völlig unmusikalischen Menschen.

Möbius verlangt von den beiden Agenten, dass sie mit ihm in der Anstalt bleiben.

NEWTON Möbius! Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir ewig –
MÖBIUS Meine einzige Chance, doch noch unentdeckt zu bleiben. Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.

Weil Newton und Einstein sich nicht so leicht überreden lassen, spricht Möbius die drei Tötungsdelikte an.

Jeder von uns tötete seine Krankenschwester für einen bestimmten Zweck. Ihr, um eure geheime Mission nicht zu gefährden, ich, weil Schwester Monika an mich glaubte. Sie hielt mich für ein verkanntes Genie. Sie begriff nicht, dass es heute die Pflicht eines Genies ist, verkannt zu bleiben. Töten ist etwas Schreckliches. Ich habe getötet, damit nicht ein noch schrecklicheres Morden anhebe. […] Sollen unsere Morde sinnlos werden? Entweder haben wir geopfert oder gemordet. Entweder bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt wird eines.

Damit kann Möbius die beiden anderen überzeugen. Sie beschließen, in der Anstalt zu bleiben und weiterhin Wahnvorstellungen vorzutäuschen.

Aber der Pakt der Physiker kommt zu spät. Denn Sievers, McArthur und Murillo betreten den Salon. Sie tragen jetzt schwarze Uniformen und sind bewaffnet. Mathilde von Zahnd befiehlt ihnen, die Agenten zu entwaffnen und ihnen die Geheimsender wegzunehmen. Joseph Eisler und Alec Jasper Kilton sind erstaunt, als die Anstaltsleiterin sie mit ihren richtigen Namen anspricht. Sie erklärt ihnen, man habe die Gespräche abgehört. Die Villa sei von Wärtern umstellt.

Nachdem sie die drei Pfleger weggeschickt hat, gesteht sie, dass ihr König Salomo erschienen sei, weil Möbius ihn verraten habe.

FRL. DOKTOR [Möbius] versuchte zu verschweigen, was nicht verschwiegen werden konnte. Denn was ihm offenbart worden war, ist kein Geheimnis. Weil es denkbar ist. Alles Denkbare wird einmal gedacht. Jetzt oder in der Zukunft. Was Salomo gefunden hatte, kann einmal auch ein anderer finden, es sollte die Tat des goldenen Königs bleiben, das Mittel zu einer heiligen Weltherrschaft, und so suchte er mich auf, seine unwürdige Dienerin.
EINSTEIN eindringlich Sie sind verrückt. Hören Sie, Sie sind verrückt.
FRL. DOKTOR Der goldene König hat mir den Befehl gegeben, Möbius abzusetzen und an seiner Stelle zu herrschen. Ich gehorchte. Ich war Ärztin und Möbius mein Patient. Ich konnte mit ihm tun, was ich wollte. Ich betäubte ihn, jahrelang, immer wieder, und fotokopierte die Aufzeichnungen Salomos, bis ich auch die letzten Seiten besaß.

Bisher beutete sie nur einen kleinen Teil der Erkenntnisse aus, um einen gewaltigen Trust aufzubauen. Aber jetzt will sie damit die Weltherrschaft erobern, während die drei Physiker ihre Gefangenen bleiben. Mathilde von Zahnd gibt zu, die drei Krankenschwestern so manipuliert zu haben, dass sie von den drei Physikern ermordet wurden.

Ich musste euch unschädlich machen. Durch eure Morde. Ich hetzte die drei Krankenschwestern auf euch. Mit eurem Handeln konnte ich rechnen. Wir wart bestimmbar wie Automaten und habt getötet wie Henker.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

In der Komödie „Die Physiker“ beschäftigt sich Friedrich Dürrenmatt mit der Frage, ob die Forschung sich innerhalb des Machbaren Grenzen setzen müsse oder nicht. Vor dem Hintergrund ethischer Fragen geht es vor allem um die Verantwortung der Wissenschaftler und um den möglichen Missbrauch ihrer Erkenntnisse.

Das Thema hat nichts an Brisanz eingebüßt. Anfang der Sechzigerjahre dachte man dabei an die Kernspaltung, heute an Retortenbabys, Klone, Präimplantationsdiagnostik und Gerätemedizin.

In „Die Physiker“ zieht sich Johann Wilhelm Möbius freiwillig aus der Gesellschaft zurück, weil er befürchtet, dass seine wissenschaftlichen Erkenntnisse die Menschheit gefährden könnten. Ein westlicher Agent hält es für erforderlich, dass Theorien unabhängig vom praktischen Nutzen oder eventuellen Gefahren zu Ende gedacht werden. Für die Folgen seien nicht die Forscher, sondern die Allgemeinheit verantwortlich, meint er. Ein östlicher Agent ist davon überzeugt, dass es nur auf die angewandten Wissenschaften ankomme und es die Pflicht der Forscher sei, ihre Ergebnisse der Partei zur Verfügung zu stellen. Die trage dann die Verantwortung dafür, was damit geschieht.

Kriminalinspektor Richard Voß repräsentiert den Staat. Als er den Eindruck hat, die Regeln im Irrenhaus nicht ändern zu können, passt er sich ihnen an. Er lehnt es nicht zuletzt aus Bequemlichkeit ab, die drei Mörder zu verhaften und zieht sich auf die Position zurück, sie seien geisteskrank und ohnehin im Irrenhaus. Er steht damit für eine Gesellschaft, die sich mit Ungerechtigkeiten abfindet und nicht dagegen protestiert.

Die drei Physiker stellen sich am Ende noch einmal vor. Dabei steht Alec Jasper Kilton alias Isaac Newton für die Aufklärung, eine Ära, in der die Naturwissenschaftler unkritisch an das Vermögen der Vernunft glauben, alles zu erforschen und zu begreifen. Joseph Eisler alias Albert Einstein repräsentiert den innerlich zerrissenen Forscher, einen Pazifisten, der dem US-Präsidenten zum Bau der Atombombe riet und sich des ethischen Dilemmas bewusst war. Johann Wilhelm Möbius – dessen Nachname dem des Mathematikers August Ferdinand Möbius entspricht – ist ein Forscher, der zwar die Weltformel entdeckt hat, diese Erkenntnis aber streng geheim zu halten versucht, weil sie die Menschheit gefährden könnte. Allerdings gelingt ihm das nicht: Eine skrupellose Irre raubt ihm die Forschungsergebnisse in der Absicht, damit die Weltherrschaft zu erobern.

In „Die Physiker“ gibt es mehrere Anspielungen auf den Nationalsozialismus. Beispielsweise treten die Bewacher am Ende in schwarzen (SS-)Uniformen auf. „Für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich“, sagt Mathilde von Zahnd im 1. Akt. Das erinnert an einen Ausspruch, der Hermann Göring zugeschrieben wird: „Wer Jude ist, bestimme ich!“

Friedrich Dürrenmatt erfüllt in der Groteske „Die Physiker“ die von Aristoteles aufgestellte Forderung nach der Einheit von Zeit, Raum und Handlung. Und er wendet seine eigene Dramentheorie an, der zufolge „eine Geschichte […] dann zu Ende gedacht [ist], wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“.

Im Dezember 1956 rezensierte Friedrich Dürrenmatt für „Die Weltwoche“ das Buch „Heller als tausend Sonnen“ von Robert Jungk. Er schrieb: „Denken wird in Zukunft immer gefährlicher, doch es wird unmöglich sein, die Pflicht, ein Dummkopf zu bleiben, als ethisches Prinzip aufzustellen.“ Da erkennt man bereits die Thematik des Stücks „Die Physiker“, das Friedrich Dürrenmatt 1961 verfasste.

Einer Anekdote zufolge brachte die Schauspielerin Therese Giehse (der das Buch seit dem 16. Tausend gewidmet ist) Friedrich Dürrenmatt auf die Idee, die Leitung der Irrenanstalt nicht einem Mann, sondern einer Frau zu überlassen. Aber der Autor selbst stellte klar, dass dies aus dramaturgischen Gründen geschah: „Zuerst hatte ich einen Irrenarzt konzipiert. Dann begriff ich, daß der streng logischen Welt der drei Physiker nur eine verrückte Frau gegenüberstehen kann. Wie ein verrückter Gott, der sein Universum gestaltet.“ (Friedrich Dürrenmatt, zit. Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Der Klassiker auf der Bühne. Gespräche 1961 – 1970, Diogenes Verlag, Zürich 1996, S. 206)

Die Uraufführung der Komödie „Die Physiker“ im Februar 1962 am Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Kurt Horwitz mit Therese Giehse als Anstaltsleiterin und Hans Christian Blech, Gustav Knuth und Theo Lingen in den Rollen der Physiker war ein großer Erfolg. Die Buchveröffentlichung folgte noch im selben Jahr (Verlag der Arche).

In Deutschland kam „Die Physiker“ erstmals am 22. September 1962 in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne.

Fritz Umgelter verfilmte das Theaterstück 1964 fürs Fernsehen (Erstausstrahlung am 5. November 1964).

Originaltitel: Die Physiker – Regie: Fritz Umgelter – Drehbuch: Friedrich Dürrenmatt, nach seiner Komödie „Die Physiker“ – Kamera: Rolf Ammo – Musik: Charlie Mole – Darsteller: Therese Giehse, Gustav Knuth, Kurt Ehrhardt, Wolfgang Kieling, Lilo Barth, Renate Schroeter, Siegfried Lowitz, Rosemarie Fendel, Willy Semmelrogge u.a. – 1964; 125 Minuten

1980 überarbeitete Friedrich Dürrenmatt „Die Physiker“ für die Gesamtausgabe seiner Werke im Diogenes Verlag. Aber die „Neufassung“ weist keine grundsätzlichen Änderungen auf.

Der Schweizer Komponist Andreas Pflüger ließ sich von dem Bühnenstück zu der Oper „Die Physiker“ anregen (Uraufführung am 26. Oktober 2000 an der Tschechischen Staatsoper in Prag).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Friedrich Dürrenmatt (kurze Biografie)

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker
Friedrich Dürrenmatt: Grieche sucht Griechin
Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame
Friedrich Dürrenmatt: Die Panne
Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman
Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker
Friedrich Dürrenmatt: Justiz (Verfilmung)

Frauke Buchholz - Frostmond
Frauke Buchholz kennt die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Reservaten für die indigene Bevölkerung in Nordamerika aus eigener Anschauung. Auch die zahlreichen unaufgeklärten Fälle spurlosen Verschwindens von Frauen der First Nations sind eine Tatsache. Vor dem gesellschaftskritischen Hintergrund entwickelt Frauke Buchholz die farbige Handlung ihres Thrillers "Frostmond".
Frostmond

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.