Milena Michiko Flašar : Herr Katō spielt Familie

Herr Katō spielt Familie
Herr Katō spielt Familie Originalausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018 ISBN: 978-3-8031-3292-5, 170 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein japanischer Rentner, der seinen Lebensabend leer und langweilig findet, begegnet auf dem Friedhof einer jungen Frau, die ihm erzählt, dass sie als Stand-In tätig sei. Ihr Team übernimmt Aufträge, vorübergehend Familienmitglieder, Vorgesetzte oder andere fehlende Personen zu spielen. Sie schlägt ihm vor, dabei mitzumachen. Für seinem ersten Einsatz schlüpft er in die Rolle des 65 Jahre alten Herrn Katō, der seinen Enkel besucht ...
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Kritik

Milena Michiko Flašar entwickelt die ebenso unspektakuläre wie ungewöhnliche Geschichte feinfühlig und nachdenklich. "Herr Katō spielt Familie" ist ein tiefgründiger und anrührender Roman.
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Begegnung auf dem Friedhof

Auf Drängen seiner 57-jährigen Frau geht ein japanischer Rentner zum Arzt, um seinen Gesundheitszustand untersuchen zu lassen. Dass nichts gefunden wird, enttäuscht ihn ein wenig, denn sein Leben kommt ihm leer und langweilig vor.

Als man ihm sagt, dass alles in Ordnung ist – keine Auffälligkeiten, nichts Besorgniserregendes – für sein Alter tipptopp –, da empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung. Er hat gehofft, man würde etwas finden. Und auch wenn es ihm kaum bewusst gewesen ist, hat ihm die Hoffnung darauf ein Gefühl von Wichtigkeit gegeben: Man würde etwas finden und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Eine Diät etwa. Sport. Drei Tabletten pro Tag. Maßnahmen, auf die er sich gefreut hat und die er trotz Vorfreude darauf zuerst mit einigem Widerstand, dann, sich nach und nach fügend, am Ende eifrig befolgt haben würde. Aber so? Was soll er machen? Man händigt ihm die Befunde aus, er nimmt sie entgegen.

Auf dem Weg nach Hause durchquert er einen Friedhof. Weil die Hosentaschen noch zugenäht sind, schlenkert er beim Gehen die Arme, und weil er das mit Affen assoziiert, hüpft er plötzlich wie ein Schimpanse zwischen den Gräbern. Dabei fallen die Befunde zu Boden, und er tanzt darauf herum – bis eine 30 Jahre alte Frau hinter einem Baum hervortritt und ihm applaudiert.

Sie erzählt ihm, dass sie als Stand-In beschäftigt sei und einer Agentur mit acht Frauen und drei Männern angehöre. Das Team übernehme Aufträge, vorübergehend Familienmitglieder, Vorgesetzte oder andere fehlende Personen zu spielen. Sie selbst werde gleich Mie doubeln, die jüngere Schwester eines Auftraggebers. Die Frau gibt dem Rentner eine Geschäftskarte der Agentur und schlägt ihm vor, dabei mitzumachen.

Die Ehefrau

Nachdem sich die beiden verabschiedet haben, macht der ältere Herr sich an den beschwerlichen Aufstieg zu seinem Haus, das eine schöne Aussicht bietet, weil es sich um das höchstgelegene in der Siedlung handelt. Dass seine Frau nicht da ist, macht ihn ärgerlich. Im Kühlschrank steht für ihn ein Mittagessen zum Aufwärmen in der Mikrowelle, und am Tisch liegen Stäbchen bereit.

Aber frisch gekocht würde es besser schmecken. Vor allem die Auberginen, die vom Aufwärmen ein wenig zu weich geraten sind. Er mag nicht, wenn etwas zerfällt, noch bevor er es in den Mund geschoben hat, am wenigsten Gemüse, welches ohnehin dazu neigt zu zerfallen. Wenn sie sie auf einem Extrateller angerichtet hätte! Dann hätte er sie nicht mit dem Rest in die Mikrowelle stellen müssen. Aber daran hat sie wohl – kurz weg! – nicht gedacht […]. Offensichtlich fehlt es ihr neuerdings, das ist ihm aufgefallen, an einer gewissen Umsicht, sie lässt manches schleifen, was, wenn man es schleifen lässt, über einen längeren Zeitraum, nicht wieder in Ordnung zu bringen ist. Eine Schlampigkeit, die sie sich von irgendwem abgeguckt haben muss, so jemanden hat er jedenfalls nicht geheiratet, ganz egal, wie sich die Zeiten verändert haben mögen, manche Dinge dürfen einfach nicht passieren. Dass sie zum Beispiel die Zeitung zwar an der richtigen Stelle aufgeschlagen, dafür aber vergessen hat, seine Lesebrille dazuzulegen, er sie mühsam suchen muss, bis er sie findet, auf einem Haufen Wäsche, die sie immer noch nicht gefaltet, geschweige denn gebügelt hat, obwohl er die Unterhemden – sie weiß doch, dass er leicht friert, gerade, wenn er so viel schwitzt – dringend braucht.

Schließlich kommt seine Frau nach Hause. Sie war beim Einkaufen und nahm im Fitnessstudio erstmals an einem Tanzkurs teil. Die Bewegung tue ihr gut, meint sie und schwärmt von dem Lehrer. Als sie sich nach dem Ergebnis der medizi­nischen Untersuchung erkundigt, erfindet er leichte Herz­rhythmus­störungen, versichert aber, dass es keinen Grund gebe, sich Sorgen zu machen.

Eigentlich hatte er sich vorgenommen, sich barsch darüber zu beschweren, dass sie die Taschen seiner mehrere Wochen alten Hose noch immer nicht aufgetrennt hat. Aber statt ihr Vorwürfe zu machen, weist er sie nun freundlich darauf hin.

Wenn sie so lieb wäre? Die Hosentaschen! „Ach herrje“, seine Frau schlägt sich mit der Hand gegen die Brust, „die habe ich doch glatt vergessen.“ Und sie holt den Nähkorb. „Ich mache das gleich!“ Er solle sich derweil die Hose ausziehen. „Was, jetzt sofort?“ – „Ja, wann denn sonst?“ Er hört sie im Schrank unter der Treppe kramen. Ob das nicht Zeit habe? Nein, lieber gleich. Sie ist zurückgekommen. Er würde es bevorzugen. Aber er bringt den Satz nicht heraus. „So eilig ist es nicht“, sagt er stattdessen. Sie: Er solle nicht komisch sein. […] „Also gut.“ Er steht auf. „Wenn es sein muss.“ Er persönlich sei jedoch der Meinung, dass sie die Nähte auch später auftrennen könne, all die Wochen habe sie es verabsäumt, und nun mache sie eine Veranstaltung daraus. Manchmal müsse er sich wundern. „Ich meine: hier! Mitten im Wohnzimmer!“ Ob sie nicht wenigstens die Vorhänge? Er windet sich. Außerdem habe er sich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, nichts einzustecken, und es sei sogar besser so, die Taschen würden sich, wenn er zu viel einsteckte, ausbeulen. Und das alles, während er den Gürtel öffnet, dann den Knopf, dann den Reißverschluss, während er die Hose herunterlässt […]

Er wird Herr Katō

Ein paar Tage später ruft er die Agentur an und verabredet sich mit der jungen Frau vom Friedhof in einem Café in der Stadt.

Er ist schon lange nicht mehr mit dem Zug gefahren und schon gar nicht an einem frühen Nachmittag. So viele Sitzplätze! Er hat die Wahl. Und dennoch zieht es ihn neben eine junge Mutter, deren Baby gerade lauthals zu schreien begonnen hat. Die wiederum rückt ein Stück weit von ihm ab, legt eine riesige Tasche dazwischen, lauter Windeln und Fläschchen. Der Geruch von Milch. Er zieht eine Grimasse Richtung Baby, es hört auf zu schreien. Ein zahnloses Lächeln. Beinahe greisenhaft. Er winkt ihm zu. Die Mutter aber tut so, als ob sie das nichts anginge, macht weiterhin „Pst!“ und „Pst!“ und klopft dem Kind auf die Brust. Als es vor Vergnügen quietscht, weil er sich jetzt hinter seinen Händen versteckt und dabei die Finger spreizt, um durch sie hindurch zu grimassieren, dreht sich die Mutter mit ihm zur Seite, worauf es wieder lauthals zu schreien beginnt.

Die junge Frau ist diesmal die schwatzhafte Tante Satoko. Er wird Herr Katō Ryūsuke sein, ein 65 Jahre alter Witwer, der seinen sechsjährigen Enkel Jordan und dessen alleinerziehende Mutter Rumi besucht. Der Vater des Jungen, ein Afroamerikaner, ließ Rumi während der Schwangerschaft sitzen. Weil Jordan kraushaarig und dunkelhäutig ist, will sein Großvater nichts mit ihm zu tun haben – und der neue Stand-In soll ihn deshalb für ein paar Stunden ersetzen.

Der Rentner denkt an seine eigene Mutter, die nie mit ihm schimpfte, denn dafür fehlte es ihr an Zuneigung. Nachdem sie mit einem anderen Mann durchgebrannt war, sagte der verlassene Vater seinem Sohn, sie sei gestorben. Als Erwachsener erfuhr der Sohn die Wahrheit und besuchte seine lange Zeit totgeglaubte Mutter im Altersheim. Dort tat sie so, als könne sie sich an nichts erinnern, obwohl die Pflegekräfte dem Besucher versicherten, sie sei nicht dement und prahle ständig mit den zahlreichen Männern, die sie früher verführt habe.

Auf der Straße trifft er seinen früheren Kollegen Fujimoto. Bei der Verabschiedung in den Ruhestand hatte er angekündigt, er werde mit seiner Frau nach Paris fliegen. Als ihn Fujimoto nun danach fragt, schwärmt er von Paris – das er nur aus Reiseführern kennt. Erst nachdem Fujimoto sich verabschiedet hat, fällt ihm ein, dass seine Darstellung nicht glaubwürdig war, denn falls er tatsächlich in Paris gewesen wäre, hätte er den früheren Kollegen eine Ansichtskarte geschrieben. Als Stand-In muss er besser werden.

Während die junge Frau das Hippiemädchen Saya spielt, schlüpft der Rentner in die Rolle des Ehemanns einer etwa 65-jährigen Auftraggeberin namens Chieko, die für ein paar Stunden einen Begleiter haben möchte, der sie auch zu Wort kommen lässt und nicht ununterbrochen redet. Sie treffen sich am Eingang des öffentlichen Aquariums und schauen sich erst einmal lautlose Fische an, bevor sie sich in die Kantine der Einrichtung setzen, wo Chieko als Erstes fünf Schoko­laden­törtchen verschlingt. Sie ist spindeldürr, zeigt ihrem Gegenüber jedoch ein vor der Hochzeit aufgenommenes Foto, auf dem sie recht korpulent war. Sie werde sich von ihm scheiden lassen, erklärt sie so laut, dass auch die Bedienung und andere Gäste es hören. Mit einer dramatischen Geste legt sie ihm ein leeres Blatt Papier hin und fordert ihn auf, die Einverständniserklärung zu unterschreiben.

Die junge Frau ersetzt als Nächstes trauernden Eltern für kurze Zeit die gestorbene Tochter Sayuri. Dann gehört sie ebenso wie der Rentner zu den gemieteten Gästen einer Hochzeitsfeier. Bis auf das Hochzeitspaar – Terazwawa Hiroshi und Furui Sakura – handelt es sich bei allen Anwesenden um von zwei Agenturen gemietete Stand-Ins. Der Rentner mimt den Vorgesetzten des Bräutigams und hält eine entsprechende Ansprache. Sakura, die Braut, ist todkrank und wird nicht mehr lang leben. Für das Fest darf sie das Krankenhaus verlassen und statt eines Pyjamas ein Brautkleid tragen. Mühsam hält sie sich zunächst aufrecht, aber nach einiger Zeit muss sie sich wieder in den Rollstuhl setzen.

Für die 30-jährige Stand-In ist es der letzte Auftrag. Sie steigt aus und rät dem Rentner, sich bei der Partneragentur zu bewerben. Stattdessen wartet er auf einen Anruf der jungen Frau, der er auf dem Friedhof begegnet war. Aber er hört nie wieder von ihr.

Die eigene Familie

Unerwartet kommt die hochschwangere Tochter nach einem Streit mit ihrem Ehemann zu Besuch. Sie ist seit acht Jahren verheiratet, und der vierte Versuch einer künstlichen Befruchtung war erfolgreich. Nachdem sie eine Nacht lang bei den Eltern geschlafen hat, kehrt sie zu ihrem Mann zurück.

Der Vater möchte seinen früheren, zehn Jahre älteren Kollegen Itō besuchen, der bereits vor ihm in Rente gegangen war und dann immer wieder von seinen abenteuerlichen Motorrad-Touren erzählte. Aber das Haus steht nicht mehr. Es brannte kürzlich nieder. Die obdachlose Familie sei bei Verwandten unter­gekommen, berichtet eine Nachbarin. Von ihr erfährt der Besucher auch, dass Itō zwar ein Motorrad besessen und ständig daran herumgeschraubt hatte, es aber aus gesundheitlichen Gründen verkaufte, bevor er damit hätte fahren können. Zu Hause sagt der Rentner seiner Frau, er habe Itō besuchen wollen, aber der sei gerade wieder mit seinem Motorrad auf großer Tour.

In einem Blumenladen kauft er einen Strauß Rosen, den er seiner Frau anonym schicken lässt. Als er nach Hause kommt und sie auf die Blumen in der Vase anspricht, behauptet sie, ihre Freundin Hiroko habe sie ihr vorhin als Geschenk zum 58. Geburtstag vorbeigebracht. Den hat er vergessen. Nachdem er seiner Frau gratuliert hat, spielt er mit dem Gedanken, ihr die Quittung über den Kauf der Rosen vorzulegen, aber bevor er es tun kann, bricht er mit einem Herzanfall zusammen.

Einige Zeit später zieht das Ehepaar in eine Wohnung weiter unten in der Siedlung. Der Sohn, der beim Umzug hilft, bittet den Vater um Geld, denn er ist aufgrund teurer, bisher vergeblicher Fruchtbarkeitsbehandlungen seiner Frau und der Abzahlung des eigentlich viel zu großen Hauses in finanzielle Schwierigkeiten geraten.

Die Tochter bringt einen gesunden Jungen zur Welt.

Die Frau hört mit dem Tanzen auf und sagt, sie sei zu alt dafür und den Lehrer habe sie inzwischen als Schaumschläger durchschaut. Als sie nach dem Umzug in den Sachen ihres Mannes Material über Paris und eine Liste von Flugverbindungen findet, nimmt sie an, er habe sie mit einer Reise überraschen wollen – und beginnt, französisch zu lernen.

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Mit wenigen Ausnahmen erfahren wir die Namen der Romanfiguren nicht. Selbst der Protagonist trägt nur die Namen von ihm gespielter Personen. Der des Großvater-Doubles Katō Ryūsuke taucht auch im Buchtitel auf: „Herr Katō spielt Familie“. Er „spielt Familie“, das heißt, er nimmt Aufträge an, beispielsweise fehlende Familienmitglieder vorübergehend darzustellen. (Der von Milena Michiko Flašar verwendete Begriff Stand-In stammt aus der Filmwelt und bedeutet eine Person, die eine Hauptdarstellerin oder einen Hauptdarsteller doubelt.)

Der Rentner, der für ein paar Stunden den Namen Herr Katō trägt, langweilt sich, weiß nichts mit seiner Zeit anzufangen und hat sich auch von seiner Ehefrau längst entfremdet. Die geplante Paris-Reise tritt er nicht an, aber er beneidet einen früheren Kollegen, der von großen Motorrad-Touren berichtet – bis er erfährt, dass es sich dabei um Fantasiegeschichten handelte. Das Hineinschlüpfen in andere Rollen fällt ihm leichter als seine eigene Rolle auszufüllen, und während er als Stand-In empathisch auf andere Menschen eingeht, hat er im „richtigen Leben“ die Nähe sogar zu seiner Frau verloren. Dass sie auch für ihn den Haushalt führt, nimmt er kaum noch wahr, und als die 57-Jährige mit einem Tanzkurs gewissermaßen einen späten Neuanfang versucht, zeigt er dafür kein Verständnis.

Milena Michiko Flašar entwickelt die ebenso unspektakuläre wie ungewöhnliche Geschichte feinfühlig und nachdenklich. „Herr Katō spielt Familie“ ist ein tiefgründiger und anrührender Roman.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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