Carlo Emilio Gadda : Die grässliche Bescherung in der Via Merulana

Die grässliche Bescherung in der Via Merulana
Originaltitel: Quer pasticciaccio brutto de via Merulana Aldo Garzanti Editore, Mailand 1957 Die grässliche Bescherung in der Via Merulana Übersetzung: Toni Kienlechner R. Piper Verlag, München 1961 Neuausgabe mit einem Nachwort von Anna Vollmer Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023 ISBN 978-3-8031-3356-4, 352 Seiten ISBN 978-3-8031-4366-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Polizist versucht einen Mord und einen Raubüberfall aufzuklären. Die Ermittlungen bringen immer neue Verwicklungen zu Tage, aber es gelingt nicht, den oder die Täter zu überführen. Bei "Die grässliche Bescherung in der Via Merulana" handelt es sich allenfalls oberflächlich um einen Kriminalroman.
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Kritik

Klare Handlungsstrukturen vermeidet Carlo Emilio Gadda in "Die grässliche Bescherung in der Via Merulana"; er löst das Geschehen in Fragmente auf, die er mit pikaresker Erzählfreude schildert. Seine virtuose Sprache ist wie ein "labyrinthisches Geweb" (Hans Magnus Enzensberger).
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Rom 1927. Der fünfunddreißigjährige Bereitschaftspolizist Dr. Francesco Ingravallo („Don Ciccio“) ist am 20. Februar bei Remo Eleuterio Balducci und seiner Frau Liliana eingeladen. Das Ehepaar wohnt in dem gutbürgerlichen Mehrfamilienhaus Via Merulana 219.

Das Dienstmädchen ist neu. Wieder sitzt eine „Nichte“ mit am Tisch, aber es ist ein anderes Mädchen als beim letzten Mal. Vor der dreizehnjährigen Gina gab es bereits drei andere „Nichten“, aber sie verschwanden plötzlich, „wie ein Konsul oder der Präsident einer Republik, wenn die Amtszeit abgelaufen ist“: Milena wurde zu ihren Pflegeeltern zurückgeschickt, weil sie log und stahl, Ines heiratete einen Studenten, Virginia küsste Liliana auf den Mund und biss ihr „in einem Anfall töchterlicher Liebe“ ins Ohr. Tatsächlich ist die einunddreißigjährige Liliana Balducci verzweifelt, weil sie und ihr Mann nach zehn Jahren Ehe noch kein Kind bekommen haben. Die Mädchen sind ein Ausgleich dafür.

Etwas später erscheint auch noch ein Cousin Lilianas, der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Giuliana Valdarena, der im Begriff ist, nach Genua zu ziehen, wo seine Verlobte Renata Lantini lebt.

Ein paar Tage danach wird Francesco Ingravallo dienstlich in die Via Merulana 219 gerufen. Ein Raubüberfall. Ein junger Mann hatte zuerst bei Balducci geläutet. Als niemand öffnete, ging er zur benachbarten Wohnungstür der neunundvierzigjährigen Witwe Teresina Menegazzi.

Die Menegazzi verbrachte, wie alle Frauen, die allein wohnen, ihre Stunden einem Zustand der Bedrängnis oder zumindest zweifelvoller und angstvoller Erwartung.

Der Mann im Monteuranzug gab vor, im Auftrag der Hausverwaltung die Heizkörper zu überprüfen. Er habe sie regelrecht hypnotisiert, sagt Teresina Menegazzi aus. Als sie beobachtete, wie er Pretiosen einsteckte und sie ihn fragte: „Was machen Sie denn da?“, hielt er ihr mit den Worten „Halt’s Maul, alte Hexe, sonst verbrenn ich dich!“ eine Pistole vors Gesicht, räumte Geld und Schmuck aus den Schubladen und verließ dann die Wohnung. Im Treppenhaus fielen zwei Schüsse, aber niemand weiß darüber etwas Genaueres. Auch die Portiersfrau Manuela Pettacchioni hat nichts gesehen, weil sie weiter oben die Treppe putzte bzw. sich mit einer Bewohnerin des Hauses unterhielt.

Am 17. März muss Francesco Ingravallo erneut in die Via Merulana 219. Diesmal handelt es sich um einen Mord: Als Giuliana Valdarena sich vor dem Umzug nach Genua von Liliana Balducci verabschieden wollte, hat er sie mit durchschnittener Kehle vorgefunden. Remo Balducci ist verreist und kehrt erst am nächsten Morgen zurück. Er stellt sofort fest, dass Geld und Schmuck fehlen.

Der Pfarrer Don Lorenzo Corpi bringt das ihm anvertraute „Eigenhändige Testament von Liliana Balducci“ vom 12. Januar zur Polizei. Der Witwer erbt nur den Pflichtteil, aber die „Nichte“ Gina – sie heißt mit richtigem Namen Luigia Zanchetti – und den Cousin Giuliana Valdarena hat sie mit hübschen Summen bedacht.

Die Polizei verhört Giuliana Valdarena und findet in seinem Haus Schmuck, viel Geld und ein Foto von Liliana Balducci. Liliana habe ihm das alles aufgedrängt, behauptet er.

„Wenn es an ihr gelegen hätte, wenn sie frei gewesen wäre … Aber ihr Gewissen, und außerdem … die Religion. Nein, nein, sie war nicht mannstoll.“

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Ein Polizist versucht einen Mord und einen Raubüberfall aufzuklären. Die Ermittlungen bringen immer neue Verwicklungen zu Tage, aber es gelingt nicht, den oder die Täter zu überführen. Bei „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ handelt es sich allenfalls oberflächlich um einen Kriminalroman. Der Polizeibeamte Dr. Francesco Ingravallo äußert seine Überzeugung, dass Katastrophen nicht durch einen einzigen Anlass hervorgerufen werden, es müssten immer mehrere Ursachen zusammentreffen und sich bündeln. Darüber hinaus zeigen seine Ermittlungen, dass nicht die Ordnung, sondern das Chaos in der Gesellschaft vorherrscht.

Klare Handlungsstrukturen vermeidet Carlo Emilio Gadda; er löst das Geschehen in realistische, satirische und sozialkritische Fragmente auf, die er mit pikaresker Erzählfreude schildert.

… als Liliana das Messer schon in der Gurgel steckte und ihr die Luftröhre zerriss, zerfetzte, und das Blut beim Einschnaufen ihr in die Lungen hineinrann – und beim Ausatmen so herausgurgelte, mit Husten und Keuchen, dass es jetzt aussah wie lauter rote Seifenblasen; und die Halsschlagader und die Vene spuckten es aus wie zwei Pumphähne, pluff, pluff, einen halben Meter weit. …

Gaddas virtuose Sprache ist wie ein „labyrinthisches Gewebe“ (Hans Magnus Enzensberger). Dieses ausufernde Plaudern ist nichts für Leserinnen und Leser, die kurze Memoranden gewohnt sind.

Leseprobe:

Die ruhmvolle Geschichte unserer Malerei ist zu einem Teil ihrer Glorie den Zehen verpflichtet. Das Licht und die Zehen sind die wichtigsten und unfasslichsten Ingredienzien jeder Malerei, die sich lebendig behaupten will, die ihren Ausdruck sucht, erzählen, überzeugen, formen möchte – die danach strebt, unsere Sinne zu unterjochen, die Herzen dem Bösen abzuringen: die achthundert Jahre lang auf ihren Lieblingsdarstellungen beharrt. Und die Heiligen, die so beladen sind mit den Gaben des Herrn, auch sie könnten nicht der unentbehrlichen Gabe der Füße ermangeln: um so weniger diese beiden, die einst auf der Appia bis nach Babylon wanderten, um dort enthauptet oder mit dem Kopf nach unten ans Kreuz geschlagen zu werden. Bei ihnen waren, ganz im Gegenteil, eben diese Füße das physische Instrument ihres wallenden Apostolats: bis sie zwischen die Füße des Nero gerieten. Der sich aber nicht überzeugen ließ. Nein, die Heiligen können nicht auf das Rüstzeug der großen Zehen verzichten: ebensowenig wie die Soldaten auf die Zuteilung ihrer Büchsenfleischration. Schon gar nicht damals, wenn so ein italienischer Maler des sechzehnten oder siebzehnten Jahrhunderts, oder des achtzehnten oder gar noch schlimmer, sich vor sie hinkniete und sich anschickte, sie von unten her abzukonterfeien mit der Hingabe eines Pedikeurs.
In Italien ist das Licht die Mutter der großen Zehen: und wer ein echter italienischer Maler ist, der lässt sich da nicht lumpen, bewahre, wie auch der Manieroni von den Due Santi sich nicht hat lumpen lassen, weder das was Licht noch was die Zehen betrifft. …

Der Roman „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ geht auf Episoden zurück, die Carlo Emilio Gadda (1893 – 1973) Mitte der Vierzigerjahre schrieb. Fünf davon wurden 1946 in der Zeitschrift „Letterature“ veröffentlicht. Aus den 1947 bereits überarbeiteten Texten komponierte Gadda zehn Jahre später diesen Roman. Er plante einen zweiten Band mit der Aufklärung des Mordfalls und soll auch bereits einige Seiten davon zu Papier gebracht haben, aber das fragmentarische Manuskript ist verschollen. Aus einem Brief, den Carlo Emilio Gadda an seinen Verleger Livio Garzanti schrieb, geht hervor, dass Liliana Balducci von Virgina ermordet wurde.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Monika Helfer - Löwenherz
Monika Helfer stellt den Sonderling "Löwenherz" nicht in einem von Anfang an klar umrissenen Bild dar, sondern nähert sich seinem Charakter aus verschiedenen Richtungen, fügt Erinnerungen wie in einem Kaleidoskop aneinander, denkt darüber nach, hinterfragt ihre Vorstellung und reflektiert zwischendurch über den Schreibprozess.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.