Daniel Glattauer : Alle sieben Wellen

Alle sieben Wellen
Alle sieben Wellen Originalausgabe: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009 ISBN: 978-3-552-06093-7, 222 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zwei Jahre lang pflegten Leo Leike und Emmi Rothner per E-Mails eine Freundschaft, ohne sich ein einziges Mal zu treffen. Seit Leo nach Boston ging, erhält Emmi auf E-Mails an seine alte Adresse nur noch Fehlermeldungen. Nach einem dreiviertel Jahr kommt er zurück, und obwohl er inzwischen eine Beziehung mit einer Amerikanerin hat und Emmi nach wie vor verheiratet ist, nehmen die beiden ihre E-Mail-Korrespondenz wieder auf – und verabreden sich ...
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Kritik

Daniel Glattauer komponiert in "Alle sieben Wellen" mit viel Sprachwitz einen romantischen und unterhaltsamen Briefroman ausschließlich aus E-Mails. Das Konzept ist allerdings nicht mehr neu; wir kennen es aus "Gut gegen Nordwind".
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Was bisher geschah

Leo Leike zog nach Boston, und wenn Emmi Rothner E-Mails an seine alte Adresse schickt, erhält sie jedes Mal dieselbe Antwort:

ACHTUNG. GEÄNDERTE E-MAIL-ADRESSE. DER EMPFÄNGER KANN SEINE POST UNTER DER GEWÄHLTEN ADRESSE NICHT MEHR AUFRUFEN. NEUE E-MAILS IM POSTEINGANG WERDEN AUTOMATISCH GELÖSCHT. FÜR RÜCKFRAGEN STEHT DER SYSTEMMANAGER GERNE ZUR VERFÜGUNG. (Seite 6)

Immer wieder versucht sie es. Ein dreiviertel Jahr vergeht. Plötzlich antwortet Leo und teilt ihr mit, er sei seit ein paar Tagen wieder im Land. Allerdings hat sich die Situation verändert, denn er hat in Boston eine Beziehung mit einer Amerikanerin namens Pamela begonnen. Als Emmi das erfährt, schlägt sie ihm ein Abschiedstreffen vor:

NUR EINE STUNDE, eine Stunde von Angesicht zu Angesicht. Glaube mir, ein besseres Konservierungsmittel für unser gemeinsam Erlebtes gibt es nicht. Denn das einzig vernünftige Ende einer innigen Nicht-Begegnung ist die Begegnung. Ich verlange nichts von dir, ich erwarte nichts von dir. Ich muss dich nur einmal in meinem Leben gesehen, gesprochen, gerochen haben […]
Lieber Leo, du hast Recht, es gibt keine sinnvolle Fortsetzung für uns. Aber es gibt einen würdigen Abschluss. (Seite 13)

Zwischendurch stellen Leo und Emmi das Vorhaben wieder in Frage, aber schließlich verabreden sie sich im Messecafé.

Betreff: War es …
… so schlimm?

Zwei Stunden später
RE:
Warum fragst du, Leo? Du weißt, wie es war. Du warst dabei. Du bist deiner „Illusion des Vollkommenen“ 67 Minuten leibhaftig gegenübergesessen und hast sie mindestens 54 Minuten davon angelächelt. Ich fange erst gar nicht an aufzuzählen, was du in dieses Lächeln alles hineingepackt hast, so umfangreich war das Programm. Eine anständige Portion Verlegenheit war jedenfalls auch dabei. (Seite 32)

Betreff: Der Nichtvorhandene
[…] Unser Treffen in sieben Worten: ich war scheu und du warst verschlossen. Ernüchternd? Tja, wenn ich ehrlich bin, schon ein wenig. Die zwei Jahre davor – inklusive dem Dreivierteljahr deiner inneren Emmi-Gration nach Boston – waren da schon um einiges gehaltvoller. (Seite 36)

Einen Monat lang wartet Emmi vergeblich auf eine E-Mail von Leo. Dann nimmt er die Korrespondenz mit Emmi wieder auf, und sie schreibt:

Betreff: Zweiter Anlauf
Leo, ich will dich noch einmal treffen. Noch einmal ein Kaffee. Nur ein Kaffee in einem Café. Sonst nichts. Sag ja! Wir können es besser als beim letzten Mal. (Seite 49)

Weil Leos E-Mail-Account aufgrund eines Software-Fehlers abgemeldet wurde, antwortet er nicht und meldet sich erst einige Tage später zurück. Sie verabreden sich erneut im Messecafé. Danach schreibt Leo:

Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand […] hat sich heute Nachmittag, es muss gegen 16 Uhr gewesen sein, an einem Kaffeehaustisch ein Zwischenfall ereignet. Meine Hand wollte nach einem Glas Wasser greifen. Da kamen ihr die fließenden Finger einer anderen, zarteren Hand entgegen, versuchten zu bremsen, versuchten auszuweichen, versuchten die Kollision zu verhindern. Das wäre es gelungen. Fast. Die weiche Kuppe eines vorbeischnellenden Fingers kam für einen Bruchteil einer Sekunde auf der Innenfläche meiner zum Wasserglas greifenden Hand zu liegen. Das ergab eine zarte Berührung. Ich habe sie gespeichert. Keiner nimmt sie mir. Ich spüre dich. (Seite 58f)

Leo fragt nach Emmis Ehemann Bernhard und ihren Kindern. Sie antwortet, dass Fiona siebzehn ist, seit einem halben Jahr mit jungen Männern ausgeht und in einem Jahr ihr Abitur machen wird. Ob sie dann Stewardess oder Konzertpianistin werden möchte, hat sie noch nicht entschieden. Jonas ist vierzehn.

Er hält die Familie zusammen, ganz fest, mit enormem Kraftaufwand. Die Energie fehlt im in der Schule. (Seite 63)

Bernhard ist neunundvierzig, Emmi vierzehn Jahre jünger. Die Beziehung mit Bernhard sei zu einer „reinen Kopfdisziplin“ geworden, schreibt sie.

Nach zwölf Jahren Bühnenarbeit sind wir müde geworden in unseren Rollen als perfekte Ehepartner. Bernhard ist Musiker. Er liebt die Harmonie. Er braucht die Harmonie. Er lebt die Harmonie. WIR leben sie gemeinsam. Ich hatte mich dafür entschieden, ein Teil vom Ganzen zu sein. Entziehe ich mich, bringe ich alles zum Einsturz, was wir uns aufgebaut hatten. Bernhard und die Kinder haben so einen Zusammenbruch schon einmal erlebt. Das darf kein zweites Mal passieren. Das kann ich ihnen nicht antun. Das kann ich MIR nicht antun. Das würde ich mir nie verzeihen. (Seite 64)

Einige Zeit später ist es Leo, der ein weiteres Treffen vorschlägt. Er habe ihr etwas Wichtiges zu sagen. Emmi will erst einmal wissen, was es ist, und nach einigem Zögern antwortet Leo:

Okay, Emmi: Bernhard weiß von uns. Zumindest wusste er von uns. Das war der Grund, warum ich mich zurückgezogen hatte. (Seite 73)

Emmi glaubt es nicht, bis Leo ihr gesteht, er habe Bernhard vor knapp einem Jahr versprochen, die Beziehung mit ihr zu beenden und sei deshalb nach Boston gegangen. Emmi fühlt sich verraten: Ihr Ehemann und ihr E-Mail-Partner sprachen sich hinter ihrem Rücken ab, und obwohl es auch sie betraf, erfuhr sie nichts davon.

Du hättest MICH mitentscheiden lassen müssen. Du hättest mich in die Sache mit Bernhard einweihen müssen, wenn er selbst schon zu feige dazu war. Nicht an DIR lag es damals, meine Ehe zu „retten“ oder zu beenden. Das lag an mir und meinem Mann! Dein Pakt mit ihm und deine geheimnisumwitterte Flucht nach Boston haben mir die Chance genommen, die richtigen Schritte zum richtigen Zeitpunkt zu setzen. (Seite 139f)

Zum ersten Mal besucht sie ihn und geht in ihrer Wut mit ihm ins Bett. Aber danach beendet sie die Beziehung.

Drei Monate später schickt sie Leo wieder eine E-Mail. Als dieser nicht antwortet, schreibt sie:

Betreff: Verrate mir nur …
… ob du meine E-Mails
a.) ungelesen löscht.
b.) liest und löscht.
c.) liest und aufhebst.
d.) gar nicht bekommst.

Fünf Stunden später
AW:
c (Seite 92)

Zögernd kommt der E-Mail-Wechsel wieder in Gang. Emmi teilt Leo mit, dass sie sich inzwischen eine eigene Wohnung genommen habe. Bernhard und sie redeten hätten in der letzten Zeit viel miteinander geredet, aber es sei zu spät gewesen.

Wir haben erstmals hinter die Fassade unserer Beziehung geblickt: alles modrig und desolat. Nie daran gearbeitet, nie sauber gemacht, nie gelüftet, alles verkommen, schwerer Schaden. (Seite 95)

Leo kündigt an, dass Pamela in drei Wochen zu ihm ziehen wird. Emmi fragt, ob er Pamela von seiner Beziehung mit ihr erzählt habe. Nein, lautet die Antwort. In Boston sei das kein Thema gewesen, und danach habe der den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Bald darauf teilt Emmi ihm mit, sie werde in Kürze mit Bernhard, aber ohne die Kinder, für eine Woche nach La Gomera fliegen. Offenbar wolle Bernhard versuchen, sie zurückzuerobern. Vom Strandhotel aus schickt sie Leo folgende E-Mail:

Warum ich dir schreibe? Weil mir danach ist. Und weil ich nicht wortlos auf die siebente Welle warten will. Ja, hier erzählt man sich die Geschichte von der unbeugsamen siebenten Welle. Die ersten sechs sind berechenbar und ausgewogen. Sie bedingen einander, bauen aufeinander auf, bringen keine Überraschungen. Sie halten die Kontinuität. Sechs Anläufe, so unterschiedlich sie aus der Ferne betrachtet auch wirken, sechs Anläufe – und immer das gleiche Ziel.
Aber Achtung vor der siebenten Welle! Sie ist unberechenbar. Lange Zeit ist sie unauffällig, spielt im monotonen Ablauf mit, passt sich an ihre Vorgängerinnen an. Aber manchmal bricht sie aus. Immer nur sie, immer nur die siebente Welle. Denn sie ist unbekümmert, arglos, rebellisch, wischt über alles hinweg, formt alles neu. Für sie gibt es kein Vorher, nur ein Jetzt. Und danach ist alles anders. (Seite 148)

Leo schlägt nach und findet heraus, dass Henri Carrière in „Papillon“ schrieb, er habe auf der Teufelsinsel vor der Küste Französisch-Guayanas das Meer beobachtet und festgestellt, dass jede siebte Welle höher war als die anderen.

Nach dem gemeinsamen Urlaub zieht Emmi wieder mit ihrem Mann und den Kindern zusammen.

Die E-Mail-Freunde verabreden sie sich erneut in einem Café, und Emmi bringt unangekündigt ihren Sohn Jonas mit.

Bist du sauer? Leo, es ging nicht anders. Sein Werkunterricht ist ausgefallen und er wollte unbedingt mitkommen. Er wollte dich kennenlernen. Er wollte wissen, wie jemand aussieht, der einen (nein, nicht einen, sondern seiner Mutter) zwei Jahre lang E-Mails schreibt. Er findet das nämlich einigermaßen pervers, was wir da tun, beziehungsweise was wir nicht tun. (Seite 168f)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Eine Woche später fliegt Leo mit Pamela nach Boston. Er spürte, dass sie Heimweh hatte und überraschte sie mit zwei Flugtickets. Aus Boston schreibt Leo:

Kein Betreff.
Liebe Emmi, ich habe gestern einen folgeschweren Fehler begangen. Ich habe Pamela von dir erzählt. Ich melde ich wieder, wenn es möglich ist. (Seite 179)

Schon vor seiner Rückkehr bestürmt Emmi ihn mit Fragen, aber er braucht Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, und Pamela weiß auch noch nicht, wie es weitergehen soll.

Betreff: Was genau?
Lieber Leo, was hast du „Pam“ eigentlich von uns erzählt? Hast du ihr auch etwas von den kniffligen Dingen verraten? Zum Beispiel:
a.) Dass wir seit zweieinhalb Jahren eine E-Mail-Beziehung führen.
b.) Dass du, um meine Ehe nicht zu gefährden, nach Boston geflüchtet warst.
c.) Dass wir uns nach deiner Rückkehr im Netz wiedergefunden und ohne Netz fünf Mal getroffen haben.
d.) Dass wir einmal gar Sex miteinander hatten.
e.) Wann d.) war, wie die Umsstände gewesen waren, als d.) zustande kam, und wie du d.) empfunden hast.
f.) Dass wir uns noch am Vorabend ihrer Übersiedlung für ein paar Minuten getroffen haben. (Seite 184)

Einige Wochen später schreibt Leo:

Betreff: Alles (aus)
Liebe Emmi, Pamela und ich haben Schluss gemacht. Sie fliegt am Montag alleine nach Boston. Das ist ALLES. (Seite 187)

Emmi reserviert im Restaurant „Impressione“ einen Tisch für sich und Leo. Nach dem Essen widersteht Leo dem Wunsch, sie zu fragen, ob sie mit ihm nach Hause kommen wolle. Stattdessen fragt er am nächsten Abend per E-Mail:

Würdest du dich von Bernhard trennen? Würdest du dich scheiden lassen?

20 Sekunden später
RE:
Nein.

40 Sekunden später
RE:
Na also! Vergiss es.

30 Sekunden später
RE:
Lieber Leo, sag nicht: „Na also! Vergiss es“, sondern frag mich: „Warum nicht?“

40 Sekunden später
RE:
Warum soll ich dich das fragen, Emmi?

50 Sekunden später
RE:
Frag nicht, warum du mich das fragen sollst, sondern frag mich, warum ich mich nicht scheiden lassen würde!

30 Sekunden später
RE:
[…] Also: Warum würdest du dich nicht scheiden lassen?

20 Sekunden später
RE:
Weil ich schon geschieden bin. (Seite 216f)

Erst jetzt erfährt Leo, dass Emmi und Bernhard sich vor einem halben Jahr, während der dreimonatigen E-Mail-Pause einvernehmlich scheiden ließen. Nach dem Urlaub auf La Gomera zog sie wieder zu ihm und den Kindern, aber nur aus praktischen Gründen.

20 Sekunden später
AW:
Kommst du?

15 Sekunden später
AW:
Ja. (Seite 220)

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In seinem Roman „Gut gegen Nordwind“ griff Daniel Glattauer auf das Genre des aus der Mode gekommenen Briefromans zurück und holte es in die Ära der virtuellen Kommunikation im World Wide Web. Er bewies damit die von Kulturpessimisten bezweifelte Möglichkeit, dass sich auch mit E-Mails witzig und geistreich korrespondieren lässt. Sogar emotionale Bindungen können damit aufgebaut werden.

Aufgrund des Erfolgs von „Gut gegen Nordwind“ schrieb Daniel Glattauer unter dem Titel „Alle sieben Wellen“ eine Fortsetzung. Wieder entwickelt er mit viel Sprachwitz aus E-Mails eine Geschichte mit Konflikten, Lösungen, Steigerungen, retardierenden Momenten, Höhepunkten und unerwarteten Wendungen. Und obwohl sich die Protagonisten Emmi und Leo in „Alle sieben Wellen“ – anders als in „Gut gegen Nordwind“ – mehrmals treffen, behält Daniel Glattauer das Konzept konsequent bei: Statt die Begegnungen der beiden in Szene zu setzen, beschränkt er sich auf die Wiedergabe dessen, was Emmi und Leo in ihren E-Mails darüber schreiben.

Während die Idee, einen romantischen, sehr lebendigen, tempo- und pointenreichen, spannenden und unterhaltsamen Briefroman ausschließlich aus E-Mails zu komponieren, bei „Gut gegen Nordwind“ neu und originell war, kann es sich bei der Fortsetzung „Alle sieben Wellen“ nur um einen zweiten Aufguss eines erfolgreichen Konzepts handeln.

Den Roman „Alle sieben Wellen“ gibt es auch als ungekürztes Hörbuch, gelesen von Andrea Sawatzki und Christian Berkel (Regie: Gabriele Kreis, Hamburg 2009, 4 CDs, ISBN: 978-3-89903-648-0). Ulrike Zemme, eine ehemalige Dramaturgin des Burgtheaters in Wien, bearbeitete „Gut gegen Nordwind“ für die Bühne.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.