Panait Istrati : Kyra Kyralina

Kyra Kyralina
Originalausgabe: Kyra Kyralina Éditions Rieder, Paris 1924 Kyra Kyralina Übersetzung: Oskar Pastior Literaturverlag, Bukarest 1963 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016 ISBN: 978-3-8031-3278-9, 157 Seiten Nachwort: Mircea Cărtărescu
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dragomir ist elf Jahre alt, als sein Vater und sein älterer Bruder die Mutter und die 15-jährige Schwester Kyra halb tot prügeln. Die Mutter, die dabei ein Auge verloren hat, vertraut die Kinder ihren beiden Halbbrüdern an. Während diese den Schwager ver­folgen, werden die Kinder vom Besitzer einer Segelyacht entführt. Der Türke verkauft Kyra und missbraucht Dragomir als Lustknaben, bis dieser fliehen kann. Aber das ist erst der Beginn eines Lebens voller Leid und Abenteuer ...
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Kritik

Eingebettet in eine um 1900 spielende Rahmenhandlung mit seinem Alter Ego Adrian, lässt Panait Istrati in "Kyra Kyralina" einen in der Jugend von reichen Päderasten miss­brauchten Vagabunden mit orienta­lischer Fabulierlaune aus seinem ereignisreichen Leben erzählen.
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Dragomir ist das jüngste von drei Geschwistern. Die Mutter ist die Tochter der rumänischen Ehefrau eines außerdem mit zwei Griechinnen verheirateten türkischen Hotelbesitzers. Der gab sie einem herzlosen Stellmacher in der rumänischen Stadt Brăila zur Frau, und mit 16 bekam sie ihr erstes Kind, einen Sohn. Außer diesem Bruder hat Dragomir auch noch eine vier Jahre ältere Schwester. Sie heißt Kyra und ist wie die Mutter von außergewöhnlicher Schönheit. Deshalb werden sie von Männern umschwärmt. Ob die Mutter die Verehrer ermutigt, weil der Vater gewalttätig ist, oder ob dessen Schläge die Strafe für die Untreue der Mutter sind, weiß Dragomir nicht.

1853 zieht der Vater in ein anderes Haus und kommt nur noch drei- oder viermal im Monat vorbei, um Frau und Tochter zu verprügeln. Nach zwei Jahren lädt Dragomirs Mutter, die inzwischen ihren Vater beerbt hat und viel reicher als ihr Mann ist, einige Männer zu einem Fest ein und engagiert Musiker, die zum Tanz aufspielen. Auch der elfjährige Dragomir darf mit seiner von ihm vergötterten Schwester tanzen. Die Mutter ließ zwar das Tor verriegeln, aber ihr Mann und der knapp 20 Jahre alte Sohn klettern über die Mauer. Die Gäste und Musiker fliehen durchs Fenster.

Während der Vater die Mutter zu Boden wirft und auf sie einschlägt, traktiert der ältere Sohn Kyra mit Fußtritten. Als Dragomir seinem Bruder eine Wasserpfeife auf den Kopf haut, lässt dieser von Kyra ab und verprügelt Dragomir.

Unterdessen hatten sie meine Mutter buchstäblich halbtot geschlagen. Sie lag ohnmächtig da, die Kleider zerfetzt, der Körper fast entblößt, und mein Vater schlug noch immer auf sie ein. Mein Bruder war hinausgegangen, um sich das Blut vom Kopf zu waschen, und Kyra lief zu einer Schublade und kam mit einem Dolch in der Hand zurück; doch erstarrten wir vor dem entsetzlichen Anblick, der sich uns bot: Mein Vater hieb mit dem Holzabsatz einer Sandale, die ein Gast auf der Flucht verloren hatte, auf das Gesicht meiner Mutter ein, die kaum noch die Arme zu bewegen vermochte.

Kyra will den Dolch in den Rücken des Vaters rammen, aber bevor sie dazu kommt, bricht sie zusammen. Der Vater reißt sie hoch und sperrt sie in einen vergitterten Wandschrank. Dann lädt er sich seine leblose Frau auf die Schulter und wirft sie durch eine Falltür in einen längst nicht mehr benutzten Keller. Die Männer nehmen Dragomir mit und lassen Kyra und die Mutter eingesperrt zurück.

„So also, wie? Du schlägst deinem Bruder den Kopf ein, und deine Hurenschwester wollte mich umbringen! … So, nun ist’s aus mit euch allen!“

Von seinem Bruder scharf bewacht, muss Dragomir in der Werkstatt des Vaters bis zur Erschöpfung arbeiten. Aber es gelingt ihm, zu fliehen. Er befreit Kyra, und gemeinsam helfen sie der schwer verletzten Mutter aus dem Keller. Ihr linkes Auge ist wahrscheinlich nicht mehr zu retten.

Das ist für mich schlimmer als der Tod. Gott hat mich für die Sinnenfreuden geschaffen, so wie er den Maulwurf geschaffen hat für ein Leben ohne Sonnenlicht. […] Ich habe mir oft geschworen, mich zu töten, wenn menschliche Gewalt mich zu einem anderen Leben zwingen sollte als zu dem, welches ich in meinem Blut pulsen fühle. Heute ist es soweit, an diesen Schwur zu denken.

Bevor die Mutter ihre beiden Halbbrüder aufsucht, führt sie die Kinder in ein Versteck und schärft ihnen ein, auf die Onkel zu warten. Mitnehmen kann sie Kyra und Dragomir nicht, denn die beiden Männer sind Schmuggler, und die Kinder könnten sie verraten.

Einige Stunden später kommen die beiden Onkel geritten. Kyra fordert sie entschlossen auf, den Vater und seinen ältesten Sohn zu töten. Cosma und sein Bruder sind bereit, ihre Halbschwester zu rächen. Sie bringen Kyra und Dragomir als Lockvögel ins Haus ihrer Mutter und zünden Kerzen an. Als der Vater und der ältere Bruder der Kinder nachsehen, fallen zwei Schüsse. Der Vater springt aus dem Fenster, aber sein Erstgeborener wird tödlich getroffen. Nachdem Cosma und sein Bruder die Nichte und den Neffen dem Wirt Abu-Hassan anvertraut haben, nehmen sie die Verfolgung auf. Aber nach einigen Tagen erfahren Kyra und Dragomir von dem Krebsfischer Ibrahim, dass ihr Vater auf seine Schwäger schoss. Cosma ist tot, sein Bruder schwer verletzt.

Die Kinder müssen befürchten, dass der Vater es auch auf sie abgesehen hat. Während des Wartens hat Dragomir den türkischen Besitzer einer Segelyacht kennengelernt. Nazim-Effendi, so heißt er, bietet Kyra und Dragomir an, sie nach Konstantinopel zu bringen. Dort seien sie vor ihrem Vater sicher, sagt er, und würden ihre Mutter in einem Krankenhaus finden. Tatsächlich entführt er die Kinder, um das schöne Mädchen verkaufen und den Jungen als Lustknaben missbrauchen zu können.

Im Alter von 15 Jahren gelingt Dragomir am Bosporus die Flucht von der Segelyacht. Aber durch seine Gutgläubigkeit fällt er gleich darauf dem pädophilen Bey Mustafa in die Hände, der ihm angeblich helfen will, seine Mutter zu finden, den Jungen aber auch nur einsperrt und missbraucht. Nach einem Jahr entkommt Dragomir dem goldenen Käfig und setzt dabei auch die Villa des Bey Mustafa in Brand.

Über Smyrna und Beirut gelangt der teuer gekleidete Jüngling nach Damaskus. Weil er unterwegs in einem Nobelhotel von einem Ehepaar ausgenutzt wurde, hält er es für geschickter, in einer einfachen Herberge abzusteigen. Der Mann, mit dem er sich ein Zimmer teilt, verhilft ihm zu falschen türkischen Papieren auf den Namen Stavru – und raubt ihn dann aus.

Mittellos irrt Stavru in Damaskus auf der Suche nach seiner Mutter und seiner Schwester umher, bis er eines Tages Kyra mit einem Eunuchen in einem Zweispänner zu sehen glaubt. Er rennt dem Gefährt bis zu einer von hohen Mauern umgebenen Villa nach, aber dort wird er verprügelt und hinausgeworfen.

Zum Glück trifft er endlich auf einen ehrlichen Menschen: den Salep-Verkäufer Barba Jani. Der nimmt ihn mit in seine Hütte und lässt ihn auf seinem Strohsack ausruhen. Barba Jani war Lehrer in Griechenland, wurde dann aber wegen eines Fehltritts entlassen und verbüßte eine zweijährige Gefängnisstrafe.

Gegen den Rat des erfahrenen Mannes klettert Stavru über die Mauer der Villa, in der er Kyra vermutet, um einen Blick in den Harem zu werfen. Aber er wird ertappt und ins Gefängnis geworfen. Barba Jani erreicht zwar nicht die Freilassung seines jungen Freundes, aber dessen Ausweisung, und er begleitet Stavru nach Kleinasien. Dort ziehen sie miteinander als Salep-Verkäufer von Ort zu Ort.

Stavru ist 22, als Barba Jani wegen seines Alters nicht länger als fliegender Händler herumziehen kann. Sie mieten sich in der libanesischen Stadt Ghazir bei der arabischen Christin Set Amra ein. Deren Ehemann wanderte mit der einzigen Tochter nach Venezuela aus, starb jedoch dort. Nun kommt Selina zurück, und ihre Mutter möchte sie mit Stavru verheiraten, aber die junge Frau zeigt unverhohlen ihre Verachtung sowohl für ihre Mutter als auch für die beiden Männer.

Barba Jani stirbt schließlich im Libanon.

1867 kehrt der Salep-Verkäufer Stavru nach Rumänien zurück. Der Vater verbrannte inzwischen in seinem Haus, und zwar in einem von seinem überlebenden Schwager gelegten Feuer. Nach der langen Abwesenheit wird der inzwischen 25-jährige Dragomir von niemand mehr erkannt. Er beschafft sich rumänische Papiere auf den Namen Isvoranu und gibt sich als Händler von Damaszener Waren aus. Ein verwitweter Gastwirt will den Fremden, den er für geschäftstüchtig hält, mit seiner Tochter Tincuţa verheiraten. Isvoranu und Tincuţa verlieben sich, aber der junge Mann, der noch nie mit einer Frau zusammen war, kann die Ehe nicht vollziehen, weil er in der Hochzeitsnacht erkrankt. Die Verwandtschaft der Braut hält das für eine Schande. Aber es kommt noch schlimmer: Ein Grieche erkennt und denunziert ihn. Der angebliche Händler heiße nicht Isvoranu, erklärt er, sondern Stavru, und es handele sich um einen Päderasten. Daraufhin wird der Beschuldigte von seinen beiden Schwägern aus dem Haus geprügelt. Tincuţa ertränkt sich in der Donau.

35 Jahre später ist Stavru mit zwei Begleitern von Brăila nach Slobozia unterwegs, um dort Limonade zu verkaufen und zwar neben dem Stand des Krapfensieders Kyr Nikola, denn das Gebäck macht die Leute durstig. Weil Kyr Nikola sein Geschäft in Brăila nicht verlassen kann, schickt er seinen Bediensteten Mihail, und der hat den 18 Jahre alten, unehelich geborenen Häuseranstreicher Adrian Zograffi überredet, ihm zu helfen. Adrians Mutter befürchtet, dass ihr Sohn durch den Ausflug nach Slobozia Gefallen am Herumziehen finden könnte, und sie hält weder von Mihail noch von ihrem Vetter Stavru viel, aber sie möchte Adrian auch nicht verbieten, eigene Erfahrungen zu machen.

Auf dem Weg nach Slobozia übernachten die drei Männer auf einem Heuboden. Dort macht Stavru sich an den schlafenden Adrian heran. Mihail bemerkt es und beschimpft Stavru als pervers. Um sein Verhalten zu erklären, erzählt der Limonadenmann, wie er als Junge missbraucht wurde.

Vier Jahre später trifft Adrian Stavru zufällig in Kairo wieder, und der erzählt ihm nun auch den Rest der Geschichte.

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Panait Istrati wurde am 22. August 1884 in einem Dorf bei Brăila als Sohn einer rumänischen Wäscherin und eines griechischen Schmugglers geboren. In der Dorfschule musste der Junge, der den Familiennamen seiner Mutter trug, zwei Klassen wiederholen. Während Panait Istrati sich dann mit Hilfsarbeiten durchschlug, entdeckte er seine Freude am Lesen. Trotz seiner Mittellosigkeit reiste er viel und kam bis Kairo, Neapel und Paris. In der Nähe von Nizza versuchte er 1921, sich die Kehle durchzuschneiden und kam schwer verletzt in ein Krankenhaus. Der französische Schriftsteller Romain Rolland beantwortete einen Brief von Panait Istrati und verfasste ein Vorwort zu dem 1924 in Paris veröffentlichten Roman „Kyra Kyralina“, in dem er den Autor als „Gorki des Balkans“ pries. Panait Istrati freundete sich auch mit dem griechischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis an, mit dem er 1927 nach Moskau und Kiew reiste. 1935 starb Panait Istrati in Bukarest an Tuberkulose.

Adrian Zograffi fungiert in einer Reihe von Werken als Alter Ego des Schriftstellers Panait Istrati, so auch in „Kyra Kyralina“. Da ist Adrian der 18- bzw. 22-jährige Protagonist der um die Jahrhundertwende spielenden Rahmenhandlung. Ihm erzählt der Limonadenmann Stavru, die eigentliche Hauptfigur von „Kyra Kyralina“, seine abenteuerliche Lebensgeschichte.

Panait Istrati entwickelt auch die Haupthandlung nicht chronologisch, sondern lässt sie von Stavru in der Ich-Form in drei Teilen erzählen. Er beginnt mit seiner Rückkehr nach Rumänien im Jahr 1867. Im zweiten Abschnitt erfahren die Zuhörer Adrian und Mihail ebenso wie die Leser, unter welchen Umständen der elfjährige Stavru, der damals noch Dragomir hieß, von seiner Mutter und seiner Schwester Kyra getrennt wurde. Was Stavru dann bis zu seiner Rückkehr nach Rumänien erlebte, erzählt er zuletzt.

Abgesehen von dieser zeitlichen Verschachtelung benutzt Panait Istrati in „Kyra Kyralina“ keine stilistischen Ausschmückungen. Mit orientalischer Fabulierlaune und auf der Grundlage eigener Reiseerfahrungen erzählt er vom abenteuerlichen Leben eines in der Jugend von reichen Päderasten missbrauchten Vagabunden.

O. R. Sylvester (Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt/M 1926), Oskar Pastior (Literatur-Verlag, Bukarest 1963), Elisabeth Eichholtz und Karin Rohde (Rütten & Loening, Berlin 1966) übertrugen den Roman „Kyra Kyralina“ von Panait Istrati ins Deutsche.

Das Nachwort der 2016 vom Verlag Klaus Wagenbach herausgebrachten fadengehefteten Neuausgabe des Romans „Kyra Kyralina“ in der Übersetzung des Georg-Büchner-Preisträgers Oskar Pastior stammt von dem rumänischen Schriftsteller Mircea Cărtărescu.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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