Judith Kuckart : Wahl der Waffen
Inhaltsangabe
Kritik
Die junge Journalistin Katia arbeitet für Radio France in Paris. Aus den Nachrichten erfährt sie 1982, dass die neununddreißigjährige deutsche Terroristin Jette Kindermann alias Hedwig Dünn bei einem Angriff auf das Flüchtlingslager Ein-il-Hiuwe am Rand der libanesischen Stadt Sidon ums Leben gekommen sein soll.
Jette war Katias Kindermädchen in Wallerfang. Katia hat lange nichts mehr von ihr gehört. Nun fährt sie mit dem Zug nach Berlin, um Nachforschungen über Jette einzuholen, denn sie möchte nachvollziehen, wie die streng protestantisch erzogene Apothekertochter zur Terroristin wurde. Dabei will Katia zugleich auch mehr über sich selbst herausfinden.
Wenn Jette mit Jungen herummachen wollte, schickte sie Katia zum Spielen. Sie war gerade einmal siebzehn, als darüber getuschelt wurde, dass sie mit dem Sohn des Uhrmachers Kindermann ging. Eigentlich wollte sie Psychologie studieren, aber im Sommer nach dem Abitur jobbte sie erst einmal bei der Post, ließ sich auf eine Affäre mit dem Briefträger Jacob ein und wurde schwanger. Das Kind bekam sie in Paris, wo sie bei ihrer verheirateten Schwester wohnen konnte. Es war ein Sohn, der den Namen Konrad bekam.
Jette heiratete Kindermann und lebte mit ihm in Tübingen. Als Kindermann mit elf anderen eine Kommune bildete, blieb Jette mit Konrad allein zurück. Dann lernte sie Neumann kennen. Sie brachte Konrad zu ihrer Mutter nach Wallerfang, zog nach Berlin und verabredete sich 1969 mit Neumann im Flughafen Tempelhof. Sie fuhr mit einem Taxi hin, tat aber so, als sei sie mit einem Flugzeug angekommen. In der Abfertigungshalle wurden sie von zwei Polizeibeamten in Zivil festgenommen. Jette kam nach ein paar Stunden wieder frei, aber man observierte sie, entdeckte auf diese Weise Neumanns Unterschlupf und in der Wohnung ein Tagebuch, das vor Gericht benutzt wurde, um ihm den Bombenanschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus nachzuweisen.
Um Neumann in der Justizvollzugsanstalt Moabit besuchen zu können, färbte Jette sich die Haare und zeigte einen geliehenen Ausweis vor, denn die Polizei ging inzwischen davon aus, dass von ihr das Tonband besprochen worden war, mit dem sich die Terroristen zum Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus bekannt hatten. Bei einem ihrer Besuche wurde Jette im Februar 1971 verhaftet.
– Jette wird Schauspielerin, sagte Katias Mutter, behauptete es noch lange, nachdem alles anders gekommen war.
Jette, schwanger, mit Abitur, verließ die Stadt mit einem Mann, der nicht der Kindesvater war. Solange man nichts von ihr hörte, glaubten alle sie in Vorbereitung großer Taten. Dann stand sie wirklich in der Zeitung; ein mehrspaltiges Foto, Jette im weißen Hosenanzug, die Haare hinter die Ohren geklemmt, ein Bein lässig vorgestellt, auf dem Weg, die meistgesuchte Frau Deutschlands zu werden. Von da an sprach jeder leiser, fiel ihr Name, als könnten sie und andere hinter einer Hausecke versteckt mithören, als mache jeder sich verdächtig, der sie nur erwähnte.
Jette wurde berühmt, verhaftet, verschwand. Wurde verhaftet und verschwand wieder. Wurde immer berühmter und verschwand endgültig. (Seite 15f)
Ein Pulk von Journalisten umlagerte die Apotheke in Wallerfang, und als Jettes Vater fort war, drangen ein paar Reporter ins Haus ein und brachten die Mutter dazu, Fotos und Briefe von ihrer Tochter aus dem Schlafzimmer zu holen.
Jette wurde bald freigelassen. Sofort schloss sie sich der Untergrundgruppe wieder an und beteiligte sich an einem Überfall auf die Sparkassenfiliale in Schöneberg zur Finanzierung weiterer Anschläge. Im November 1971 zog sie mit Philipp, ihrem neuen Geliebten, dem Sprengstoffexperten der Stadtguerilla, nach Hamburg, wo sie zusammen mit einem Mann namens Ali einen weiteren Bankraub durchführten.
Als Ali und Philipp der Autoschlüssel in einen Gully gefallen war, wurde die Besatzung eines Streifenwagens auf sie aufmerksam. Sie flohen in verschiedene Richtungen. Philipp spurtete zu einem bunt bemalten VW-Bus. Die Fahrerin, eine Studentin, nahm ihn mit in ihre Wohnung und ging gleich mit ihm ins Bett. Danach wollte Philipp seine Retterin in die Gruppe holen und überredete Jette zu einem Treffen mit ihr.
– Sie studiert? Suchen wir unsere Leute jetzt an der Uni? bohrt sie weiter.
[…]
– Los, sagt Jette, und sie laufen um die Wette die letzten hundert Meter zur Kneipe.
– Jetzt willst du sie gleich in die Gruppe nehmen, da sie sich zweifach bewährt. Jette spitzt das letzte Wort zwischen den Lippen an.
– Schau sie dir an, sagt Philipp.
– Vögeln macht blind, sagt Jette.
[…]
– Da, sagt Philipp und nickt zur Tür hin. Jette drückt sich tiefer in den Stuhl, greift nach ihrem Ohr. Eine dunkelhaarige Frau mit Pferdeschwanz und Strickhose steht suchend am Eingang. Sie sieht Philipp an. Zu lange.
– Schon falsch, sagt Jette. (Seite 96)
Ali wollte sich nach einem Urlaub mit seiner Verlobten im Tessin aus Gewissensgründen stellen, doch am Bahnhof Baden-Baden kam ihm die Polizei zuvor: Zwei Beamte in Zivil erkannten ihn und nahmen ihn fest. Jette hatte ihm schon vorher zu Bedenken gegeben, dass es keinen Urlaub vom Untergrund geben könne.
Weitere Verhaftungen folgten. Als Jette eines Morgens zum Bäcker ging, um Frühstücksbrötchen zu holen, nahmen zwei Polizisten in Zivil sie fest. Und ein Gericht verurteilte sie wegen schweren Raubes in sechs Fällen zu zwölf Jahren Gefängnis.
1974 traten die zur Stadtguerilla gehörenden Häftlinge in einen Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Nachdem einer von ihnen dabei gestorben war, erschoss ein als Blumenbote verkleideter Terrorist den Präsidenten des Berliner Kammergerichts.
Jette ließ sich im Gefängnis von Kindermann scheiden. Ihren bei ihrer Mutter aufgewachsenen Sohn hatte sie seit seinem dritten Lebensjahr nicht mehr gesehen.
Drei Tage vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 2. März 1975 entführten Terroristen den Rechtsanwalt Peter Oswald, den Spitzenkandidaten der konservativen Oppositionspartei für das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Die Deutsche Presse-Agentur erhielt ein Polaroid-Foto, auf dem der gut Fünfzigjährige mit einem Schild um den Hals zu sehen war: „Peter Oswald, Gefangener der Bewegung 2. Juni“. (Das Datum bezog sich auf die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967.) Mit der Entführung gelang es den Terroristen, einige ihrer Gesinnungsgenossen – darunter Jette – freizupressen. Pastor Heinrich Albertz, der Mitte der Sechzigerjahre Regierender Bürgermeister gewesen war, stellte sich als Geisel zur Verfügung und begleitete die Befreiten auf dem Flug von Frankfurt am Main über Rom, Tripolis und Addis Abeba nach Aden. Dort sprach er die zuvor vereinbarte Losung in die Fernsehkameras – „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ –, worauf die Terroristen in Berlin Peter Oswald freiließen.
Jette blieb im Nahen Osten. Zuletzt soll sie sich im Flüchtlingslager Ein-il-Hiuwe am Stadtrand von Sidon aufgehalten haben. Nach einem Angriff auf das Lager, bei dem alle Bewohner ums Leben gekommen waren, stellte die Polizei die Fahndung nach Jette ein, obwohl ihre Leiche nicht identifiziert wurde und durchaus die Möglichkeit besteht, dass sie noch lebt.
Katia trifft am 28. November 1982 in Berlin ein und quartiert sich bei einer Freundin ein.
Um mehr über Jette herauszufinden, trifft sie sich mit Kindermann, der inzwischen als Museumsdirektor tätig ist, und mit Neumann, der bis 1975 im Gefängnis war und nun für das Amt des Innensenators kandidiert. Von Jettes früherem Verteidiger leiht Katia sich Kopien der Protokolle von Alis Vernehmungen (er lebt jetzt unter dem Namen Wilhelm F. unverheiratet in Süddeutschland), und sie besucht Philipp im Gefängnis.
Dann fährt sie mit dem Zug erstmals nach sieben Jahren wieder nach Wallerfang zum Weihnachtsbesuch ihrer Eltern.
Der Morgen in vertrauter Umgebung, über die Zeit ging, brachte, was gewesen, auf manchen Punkt. Sieben Jahre, in denen Katia nichts gemacht, aber etwas gehabt hatte, Liebschaften vor allem.
Zwei Schriftsteller, ein junger und ein älterer, ein Kneipenwirt, zwei Architekten gleichzeitig – eine anstrengende Zeit –, ein Maler, ein Schuster, ein Analytiker kurz nur, der Leiter eines europäischen Kulturfestivals und ein Buchhändler, der ihr Freund, ihr ständiger Begleiter blieb. Sie verließ Paris, begann mal dieses, mal jenes Studium wegen des Stipendiums, das sie nicht loswurde, arbeitete bei einem neuen Radio für magere Zeiten, in denen sie nicht zum Essen ausgeführt wurde. (Seite 129f)
In Wallerfang spricht Katia auch mit Konrad und dessen Vater Jacob über Jette.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Der halbe Satz, der übrig?
Etwas auslösen, das größer als man selbst.
Da draußen, irgendwo, wartet ein Tisch. Er ist noch feucht. An ihn werde ich mich setzen, noch mal beginnen. Morgen. (Seite 173)
– Jette, hast du Angst gehabt?
– Nicht soviel wie Wut. (Seite 167)
Judith Kuckart erzählt in ihrem Roman „Wahl der Waffen“ keine Geschichte im herkömmlichen Sinn, sondern sie hat das Buch und die trostlose Atmosphäre wortkarg aus zersplitterten Impressionen komponiert. Als Leser ist man nicht in der Lage, alle diese Bruchstücke zeitlich und inhaltlich einzuordnen. Einige Passagen entsprechen Ereignissen aus der Zeitgeschichte, so zum Beispiel die Ermordung des Berliner Kammergerichts-Präsidenten Günter von Drenkmann am 10. November 1974. Die Entführung der Romanfigur Peter Oswald durch die Bewegung „2. Juni“ stimmt bis in die Einzelheiten mit der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz (1922 – 1987) überein, und Pastor Heinrich Albertz wird mit seinem richtigen Namen erwähnt. Jette weist einige Züge von Gudrun Ensslin auf; dementsprechend assoziiert man Kindermann mit Bernward Vesper und Neumann mit Andreas Baader. Marie springt aus einem Fenster in den Untergrund, wie es Ulrike Meinhof tat. – Aber es bringt nicht viel, über Parallelitäten zu grübeln, denn es geht Judith Kuckart in „Wahl der Waffen“ offenbar nicht darum, Faktenwissen über die RAF zu vermitteln. Stattdessen will sie zum Nachdenken anregen.
Judith Kuckart, dieser Generation nachgeboren, nicht verstrickt in die politischen und emotionalen Entscheidungen jener Jahre, ertastet, was sie wissen will, an den Innenseiten des Phänomens. Das hitzige politische Klima wird nicht erörtert, es findet sich in der Hast und Härte der Sprache, die hoch ansetzt, manchmal zu hoch, sodass sie abstürzt, bis ins Banale. Ein Tribut an den riskanten Versuch, der Größe des Themas und dem radikalen Pathos seiner Helden gerecht zu werden.
Kuckart erzählt assoziativ, eröffnet so verschiedene Möglichkeiten des Weiterdenkens, läßt Deutungen zu, die sie selbst in Betracht zieht, aber nicht suggeriert. So könnte es gewesen sein, im Spiegel ihrer Fantasie.
(Monika Maron: Die Knarre löst die Starre, in „Der Spiegel“, 3. Dezember 1990)
„Wahl der Waffen“ ist keine leichte oder gar unterhaltsame Lektüre. Lesenswert ist der Roman von Judith Kuckart nicht wegen des Inhalts, sondern aus formalen Gründen, denn es handelt sich um eine ambitionierte Komposition, die wie ein überdimensionales Gedicht wirkt.
Bemerkenswert ist, dass Judith Kuckart eine Szene aus ihrem Roman „Kaiserstraße“ in „Wahl der Waffen“ übernahm. Nur heißt das Kindermädchen, das zur Terroristin wird, hier nicht Mandel, sondern Jette.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © S. Fischer
Judith Kuckart (Kurzbiografie / Bibliografie)
Judith Kuckart: Kaiserstraße