Charlotte Link : Der fremde Gast

Der fremde Gast
Der fremde Gast Originalausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München 2005 ISBN: 978-3-442-45769-4, 480 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach dem Tod ihres Ehemanns will sich Rebecca Brandt in ihrem Ferienhaus am Cap Sicié das Leben nehmen, doch als ein Freund des Toten sie unerwartet besucht, schiebt sie den Suizid auf. Maximilian Kemper hat unterwegs das junge Ehepaar Hagenau im Auto mitgenommen, das nun auf dem verwilderten Nachbargrundstück sein Zelt aufschlägt. Zwei Tage später kommt Inga Hagenau von einem Segeltörn allein zurück. Marius ging über Bord. In München fahndet ein Kommissar wegen eines Doppelmords nach ihm ...
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Kritik

Souverän führt Charlotte Link durch den ideenreichen Plot und verknüpft die verschiedenen Handlungsstränge immer enger. Ebenso eindrucksvoll wie die Konstruktion des spannenden Thrillers "Der fremde Gast" ist die Art und Weise, in der Charlotte Link die Charaktere herausarbeitet.
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Am 18. Juli um 2 Uhr nachts klingelt es bei dem Münchner Rentnerehepaar Lenowsky an der Haustür. Greta schreckt aus dem Schlaf hoch, aber sie wagt zunächst nicht, Fred zu wecken, denn wenn sich herausstellen sollte, dass es unnötig war, wird er tagelang nicht mehr mit ihr sprechen. Das Klingeln wiederholt sich, bis Greta ihren Mann dann doch weckt. Wie befürchtet, beschwert er sich darüber. Erst als er das Klingeln selbst hört, geht er hinunter und fragt durch die Tür, wer da sei.

Zwei Tage später: Karen Steinhoff kann wieder einmal nicht schlafen. Seit sie vor drei Monaten mit ihrem Mann und den beiden Kindern in dieses Haus am Rand von München gezogen ist, hat sich ihre Depression verschlimmert. Ohne ihren Mann Wolf zu wecken, mit dem sie seit elf Jahren verheiratet ist, steht sie um halb fünf Uhr auf und geht mit dem Hund spazieren. Der hebt am Hinterrad eines BMW das Bein. Ein gut gekleideter Herr stößt zornig die Wagentür auf und beschimpft Karen. Sie wundert sich darüber, wieso der Fremde im Morgengrauen in seinem Wagen sitzt, denkt jedoch nicht weiter darüber nach. Sie hat andere Sorgen: Wolf zeigt keinerlei Verständnis für ihre Niedergeschlagenheit, geht nicht mehr auf sie ein, gibt ihr das Gefühl, hysterisch zu sein, zwingt sie ständig in die Defensive und demonstriert ihr bei jeder Gelegenheit seine Überlegenheit. Sie muss ihre Selbstachtung wiederfinden.

In gut zwei Wochen wollen sie mit den Kindern in die Türkei fliegen, um dort Urlaub zu machen. Karen versucht bereits seit zwei Tagen, die Nachbarn zu erreichen, denn sie möchte sie bitten, während ihrer Abwesenheit die Post aus dem Briefkasten zu nehmen und die Blumen zu gießen. (Den Hund wird sie zu ihrer Mutter bringen.) Obwohl die Nachbarn die Stuhlkissen nicht hereingeholt haben und Karen deshalb vermutet, dass sie zu Hause sind, reagieren sie nicht aufs Klingeln.

Seit zwei Tagen bellt ihr Hund das Nachbarhaus an, sobald sie ihn in den Garten lässt. Eine andere Nachbarin beschwerte sich bereits darüber. Das Ehepaar Lenowsky habe auch bis vor zwei Jahren einen Hund gehabt, sagte sie, aber der sei still gewesen und habe aufs Wort gehorcht.

„Lieber Gott, Karen, mach doch nicht so einen Zirkus! Es sind noch über zwei Wochen, bis wir abreisen. Bis dahin tauchen sie schon wieder auf! Außerdem – hat er nicht noch am Samstag mit dir telefoniert?“
Das stimmte. Der Nachbar hatte angerufen und sich beschwert, weil Karen ihren Wagen so ungeschickt vor ihrer Garage geparkt hatte, dass angeblich auch die benachbarte Garage teilweise blockiert war […]
„Warum hast du da denn nicht gleich wegen der Ferien gefragt?“, wollte Wolf wissen.
„Weil er so unfreundlich war und ich …“
„Weil er so unfreundlich war! Fällt dir eigentlich auf, dass du das inzwischen über fast alle Menschen sagst, mit denen du in irgendeiner Weise verkehrst? Alle behandeln sie dich unfreundlich! Alle sind sie gemein zu dir! Keiner liebt dich! Warum, beispielsweise, fragst du jetzt nicht einfach die Alte auf unserer anderen Seite, ob sie sich um unsere Post kümmern könnte? Ich kann es dir sagen: Weil sie bei deinem Antrittsbesuch so unfreundlich zu dir war!“ Die letzten Worte hatte er auf affektierte Weise betont. „Du läufst herum mit der Miene eines ständig verheulten Opferlammes, Karen, und vielleicht ist es ganz einfach das, was die Menschen herausfordert, schlecht mit dir umzugehen!“ (Seite 24f)

Die ebenfalls in München lebenden Studenten Inga und Marius Hagenau kennen sich seit zweieinhalb Jahren. Obwohl Inga, die aus einem norddeutschen Dorf stammt, bis heute kaum etwas von Marius‘ Vergangenheit weiß und auch seine Eltern nicht kennt, ließ sie sich bereits nach einem halben Jahr von ihm zur Eheschließung überreden. Die Sechsundzwanzigjährige studiert Germanstik und Geschichte. Ihr zwei Jahre jüngerer Ehemann will Rechtsanwalt werden. Am 21. Juli stranden sie mit ihrer Campingausrüstung in einem ausgestorbenen südfranzösischen Dorf. Es war Marius‘ Idee, per Anhalter an die Riviera zu reisen. Sie haben nichts mehr zu trinken, und Inga hat sich Blasen gelaufen. Wie durch ein Wunder fährt ein BMW mit einem Münchner Kennzeichen durch die abgelegene Ortschaft und hält. Der Fahrer Maximilian Kemper, ein Arzt Mitte vierzig, ist unterwegs zum Cap Sicié. Wegen eines Staus auf der Autobahn, erklärt er, sei er auf Landstraßen ausgewichen. Er bietet ihnen an, sie mitzunehmen.

In Le Brusc am Cap Sicié kauften sich der Münchner Herzchirurg Felix Brandt und seine Ehefrau Rebecca vor acht Jahren ein traumhaftes Ferienhaus. Vor neun Monaten starb der Vierundvierzigjährige bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Geisterfahrer. Seine ein Jahr jüngere Witwe, eine bis dahin sozial sehr engagierte Diplompsychologin, die vor fünfzehn Jahren den Verein „Kinderruf“ gegründet hatte, zog sich nach seinem Tod in das Ferienhaus zurück. Am 21. Juli beschließt sie, sich mit noch zu Lebzeiten ihres Mannes gehorteten Morphium-Tabletten das Leben zu nehmen. Da läutet nach langer Zeit wieder einmal das Telefon. Widerstrebend hebt Rebecca ab. Es ist Maximilian, der beste Freund des Toten. Er kündigt seinen Besuch an. Mit dem Suizid wird sie noch ein wenig warten müssen.

Maximilian zeigt Inga und Marius ein verwildertes Grundstück neben dem der Brandts. Dort können sie ihr Zelt aufschlagen.

Am 22. Juli klingelt mitten in der Nacht bei Steinhoffs das Telefon. Da Wolf liegen bleibt, steht Karen auf und hebt ab. Sie hört ein gepresstes Atmen. Es hört sich nicht an wie das Stöhnen eines Perversen an, sondern klingt, als ringe jemand um Atem. Mehrmals fragt Karen, wer am Apparat sei, und als sich niemand meldet, legt sie auf.

An diesem Tag erzählt Maximilian Rebecca, dass es sich bei Marius um einen erfahrenen Segler handele und fragt sie, ob sie bereit sei, dem Studenten-Paar das Segelboot ihres Mannes zur Verfügung zu stellen. Gleichgültig sagt sie zu.

Maximilian hilft den beiden am 23. Juli, die im Hafen von Le Brusc liegende „Libelle“ für den Segeltörn startklar zu machen. Dann kehrt er zu Rebecca zurück und drängt sie, sich wieder aktiv am Leben zu beteiligen. Sie fordert ihn jedoch auf, sie in Ruhe zu lassen. Aufgebracht erklärt er ihr daraufhin, er werde auf der Stelle nach München zurückfahren und sich nicht mehr bei ihr melden.

Am Nachmittag schickt Marius sich an, die Bucht von Le Brusc trotz des aufziehenden Mistrals zu verlassen, statt in den Hafen zurückzukehren. Inga glaubt zunächst, er mache Spaß, aber dann begreift sie, dass es ihm ernst ist: Er will das Boot nicht zurückbringen, sondern es in einem anderen Hafen verkaufen und mit dem Geld nach Kalifornien. Vergeblich versucht Inga, ihn davon abzubringen. Er wird grob und stößt sie in die Kajüte hinunter. Sie schlägt mit dem Kopf auf und verliert das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kommt, wird das Boot von den Wellen hin- und hergeworfen. Marius ist nicht mehr an Bord. Obwohl Inga sich nicht mit Schiffen auskennt, gelingt es ihr, das Segel einzuholen und den Motor zu starten.

Einige Zeit später entdeckt der Hafenmeister von Le Brusc die „Libelle“, fährt mit einem Motorboot hinaus und holt das Segelschiff herein. Marius ging offenbar über Bord. Vielleicht wurde er vom Baum getroffen und ins Meer geschleudert. Immerhin trug er eine Schwimmweste und ist ein guter Schwimmer. Der Hafenmeister verständigt die Küstenwacht, damit nach dem Schiffbrüchigen gesucht wird.

Rebecca nimmt Inga im Haus auf. Die junge Frau erzählt ihr freimütig, was Marius vorhatte und verschweigt auch nicht, dass er hasserfüllt wirkte, wenn er von Rebecca sprach. Die Witwe kann sich das nicht erklären, denn sie ist sicher, Marius noch nie zuvor gesehen zu haben.

Clara Weyler betreute bis vor einigen Jahren als Sozialpädagogin beim Jugendamt Problemfamilien. Die Einundvierzigjährige wohnt mit ihrem Ehemann und ihrer knapp ein Jahr alten Tochter Marie in einem kleinen Haus in München, das Bert von seinen Eltern erbte. Am 26. Juli erhält sie Besuch von ihrer früheren Kollegin Agneta, die seit einiger Zeit mit einem Vorstandsmitglied einer großen Warenhauskette verheiratet ist. Grund des Besuches sind mehrere anonyme Briefe mit Morddrohungen, die sie beide bis vor zwei Wochen bekamen. Auf den ersten Blick erkennt Clara, dass die Schrifttype übereinstimmt.

Am 27. Juli holt Karen ihre Sachen aus dem Schlafzimmer und richtet sich im Gästezimmer ein. Außerdem beschließt sie, nicht mit ihrem Mann und den Kindern in den Urlaub zu fliegen, obwohl die Tickets bereits gekauft sind.

Der Gärtner Pit Becker, der sie vor vier Tagen nach den Lenowskys fragte, die ihn bestellt hatten, ruft an und erkundigt sich erneut nach ihren Nachbarn. Als Karen ihm mitteilt, noch immer nichts von ihnen gehört zu haben, kommt er mit einer Leiter vorbei und klettert durch ein Fenster. Seine Befürchtung, dass dem Renterehepaar etwas zugestoßen sein könnte, erfüllt sich in schrecklicher Weise: Fred Lenowsky sitzt nackt auf dem WC. Jemand hat ihn mit den Füßen an den Sockel gebunden, die Hände auf den Rücken gefesselt und mit einer an der Zimmerdecke befestigten Wäscheleine dafür gesorgt, dass der Kopf nicht nach vorn kippen konnte. In dieser entwürdigenden Lage ist Fred Lenowsky verdurstet. Seine Frau trägt ein Hundehalsband, liegt bäuchlings auf einem Teppich und hät das Telefon umklammert. Der Mörder stach offenbar mehrmals auf sie ein, achtete jedoch darauf, keine lebenswichtigen Organe zu treffen. Deshalb verblutete Greta Lenowsky allmählich.

Kommissar Kronborg, der die Ermittlungen leitet, erklärt Karen, dass die Nachbarin versucht habe, sie anzurufen. Sie scheint nicht mehr in der Lage gewesen zu sein, eine Nummer einzugeben. Deshalb drückte sie die Wahlwiederholung und erreichte auf diese Weise die Steinhoffs, weil ihr Mann als letztes wegen des falsch geparkten Autos angerufen hatte. Karen ist entsetzt, als sie begreift, wen sie vor fünf Tagen nachts am Telefon atmen hörte.

„Was die Nachbarn betrifft“, erklärte sie [ihrem Mann], „so musst du zumindest jetzt zugeben, dass ich so falsch nicht lag. Auch wenn ich dich offenbar entsetzlich mit meinen bösen Ahnungen genervt habe.“
„Darum geht es doch gar nicht“, sagte Wolf […] „Es geht nicht darum, ob du Recht hattest oder nicht. Es geht um die Art, wie du damit umgegangen bist. In erster Linie ging es uns nichts an, was mit den Lenowskys passiert war […]
„Aber …“
„Nichts aber. Wer sich derart zurückhält, kann nicht erwarten, dass sich die Menschen der näheren Umgebung engagiert um ihn kümmern, wenn irgendwelche Unstimmigkeiten auftreten. Du meintest, es trotzdem tun zu müssen. Gut. Du bist ein freier Mensch und siehst derlei Dinge offenbar anders als ich. Was ich nicht verstehe, ist, weshalb du mich dauernd mit hineinzuziehen versucht hast. Was könnte man tun? Muss man nicht etwas tun? Wolf, lass uns doch etwas tun!“ Er hatte sie […] nachgeäfft. „Kannst du nicht begreifen, dass mich das rasend macht? Du möchtest etwas bestimmtes tun, aber aus irgendeinem Grund bist du zu unsicher oder traust dich nicht recht, und nun soll ich dazu gebracht werden, das Gleiche zu wollen wie du, um es dann mit dir zusammen durchzuziehen. Warum, verdammt noch mal, wenn du so überzeugt warst, im Fall Lenowsky handeln zu müssen, hast du es dann nicht einfach getan? […] Warum hast du nur ständig und unablässig an mir herumgezerrt und genörgelt?“
Sie starrte ihn an. Sie hatte alles erwartet, aber nicht diesen Vorwurf.
„Aber“, sagte sie, „du hast mir doch völlig den Mut genommen. Du hast mir ständig erklärt, wie unmöglich es ist, was ich vorhabe. Dass ich spinne, hysterisch bin […]“
Wolf probierte einen Schluck Kaffee, verzog aber angewidert das Gesicht und setzte seine Tasse rasch wieder ab. „Eiskalt“, sagte er. Er stand auf. (Seite 257f)

Die Suche nach Marius wird eingestellt. Inga sagt Rebecca, sie werde am nächsten Tag nach Marseille fahren und zurück nach Deutschland fliegen.

Nachts wacht sie auf. Weil sie nicht wieder einschlafen kann, geht sie ins Wohnzimmer und schaltet das Fernsehgerät leise ein. Sie spürt Zugluft. Ein Einbrecher! Im nächsten Augenblick steht Marius in der Tür. Er wurde tatsächlich vom Baum ins Wasser geschleudert, konnte jedoch bis zum Strand schwimmen. Nun fesselt er Inga auf einen Stuhl und geht dann wieder hinauf zu Rebecca, die bereits gefesselt im Schlafzimmer sitzt. Ihm geht es darum, dass Rebecca sich anhört, was er zu sagen hat.

Seine Eltern waren beide alkoholkrank, und wenn sie betrunken herumlagen, musste er selbst zusehen, wo er etwas zu essen bekam. Als er fünf Jahre alt war, verdächtigte ihn sein Vater zu Unrecht, Geld gestohlen zu haben und brach ihm in seiner Wut den Arm über einer Stuhllehne. Auf dem Weg zum Krankenhaus schärfte ihm die Mutter ein, er müsse sagen, es sei beim Fußballspielen passiert, denn sonst würde man ihn in ein Heim sperren. Ein Jahr später verschwand die Mutter, und bevor der Vater sie suchen ging, kettete er seinen Sohn in die fensterlose Toilette, ohne das Licht anzulassen. Marius hatte Todesangst und wäre verdurstet, wenn nicht eine Lehrerin und eine Mitarbeiterin vom Sozialdienst Alarm geschlagen hätten. – Stunde um Stunde redet Marius auf Rebecca ein, die allmählich ahnt, dass die Angelegenheit etwas mit dem „Kinderruf“ zu tun hat.

Agneta ruft Clara an. Sie hat inzwischen herausgefunden, dass auch Sabrina Baldini anonyme Briefe erhalten hat. Die Morddrohungen scheinen also etwas mit der Jugendarbeit zu tun zu haben, die alle drei Frauen vor Jahren ausübten, Clara beim Jugendamt, Agneta beim Sozialamt und Sabrina beim Verein „Kinderruf“. Als sie aus den Medien von dem Doppelmord an dem Rentnerehepaar Lenowsky erfahren, ahnen sie, wer die Briefe geschrieben haben könnte: Marius Peters. Er war noch ein Kind, da wurde die Problemfamilie regelmäßig von Stella Wiegand besucht, einer Beauftragten des Sozialamts. Nachdem der Junge angekettet, halb verdurstet und in seinen Exkrementen liegend aufgefunden worden war, suchte man Pflegeeltern für ihn. Fred Lenowsky war ein renommierter Rechtsanwalt mit guten Beziehungen, und der mit ihm befreundete Bürgermeister sorgte dafür, dass sein Wunsch nach einem Pflegekind erfüllt wurde. Deshalb bekam Clara, die damals dreiundzwanzig Jahre alt war, die Anweisung, Marius bei den Lenowskys unterzubringen. Sie mochte den überheblichen, erzkonservativen Anwalt zwar nicht und äußerte Bedenken, aber ihre Abteilungsleiterin warf ihr daraufhin unprofessionelle Voreingenommenheit vor. Eigentlich hätte die Sozialarbeiterin Stella Wiegand vor einer Entscheidung gehört werden müssen, aber sie war damals wegen einer Krebserkrankung ausgefallen und starb nach einem dreiviertel Jahr. Agneta vertrat sie vorübergehend.

Während Clara, Agneta und Sabrina sich an die Vorgänge erinnern, erzählt Marius Rebecca weiter seine Geschichte: Der Pflegevater verlangte absoluten Gehorsam von ihm und bestrafte ihn für die geringsten Übertretungen seiner Gebote beispielsweise durch Nahrungsentzug von Freitag nach der Schule bis Montagmorgen. Als Marius einmal aus der Schulbank kippte, bat die Lehrerin seinen Pflegevater zu einem Gespräch. Lenowsky log ihr vor, der Junge mache ihm und seiner Frau große Sorgen, weil er ein schlechter Esser sei. Marius sagte der Lehrerin, er bekomme oft überhaupt nichts zu essen, aber sie glaubte nicht ihm, sondern seinem Pflegevater.

Zum 10. Geburtstag bekam Marius einen Hund. Den richtete Lenowsky so ab, dass er aufs Wort gehorchte. Sein Fressen bekam er grundsätzlich erst, wenn die Familie gegessen hatte. Nachdem der Hund begriffen hatte, dass er in der Rangordnung der Unterste war, änderte Lenowsky sie und stellte fortan Marius ganz nach unten: Wenn er spätabends heimkam, ließ er den hungrigen Jungen zusehen, wie er sich Spiegeleier briet. Nachdem er sie aufgegessen hatte, fütterte er den Hund, und erst wenn der Napf ausgeleckt war, bekam Marius ein Stück Brot. „Du bist der Letzte!“, schärfte Lenowsky ihm ein.

Marius war zwölf, als er ein Gespräch seiner Pflegeeltern mit Gästen belauschte. Die Fremden, die nur ein einziges Mal kamen, hießen Richard und Nellie. Lenowsky erklärte ihnen, er würde niemals ein Kind adoptieren, denn das würde seinen Namen tragen und ihn beerben. Den Besuchern konnte nicht verborgen bleiben, dass in der Beziehung Lenowskys zu seinem Pflegekind etwas nicht stimmte, aber sie wollten sich nicht einmischen.

Seit Marius den Pflegeeltern zugeteilt worden war schaute Clara als Betreuerin nach dem Rechten. Sie hatte nach wie vor ein ungutes Gefühl, aber es gab keinerlei Anzeichen, dass Marius nicht korrekt behandelt wurde – bis sie ihn eines Tages auf dem Heimweg von der Schule traf und er sie um Hilfe bat. Er bekome zu wenig zu essen und werde mitunter mit Hundefutter abgespeist, klagte er. Clara hielt das zwar für die Hirngespinste eines in den ersten sechs Lebensjahren traumatisierten Kindes, aber sie meldete den Vorfall ihrer Abteilungsleiterin. Die sprach daraufhin mit dem Sozialdezernenten und übernahm den Fall selbst. Clara warf sie vor, gegenüber den Pflegeeltern voreingenommen zu sein.

Einige Zeit später nahm Sabrina zwei Notrufe des Jungen am Sorgentelefon des Vereins „Kinderruf“ entgegen. Sie wandte sich beide Male ans Jugendamt. Die zuständige Abteilungsleiterin erklärte ihr jedoch, man habe den Fall überprüft und es sei alles in Ordnung.

Bis zum 18. Lebensjahr musste Marius Peters bei seinen Pflegeeltern bleiben. Vier Jahre später heiratete er Inga Hagenau und nahm ihren Nachnamen an.

Sabrina verständigt die Polizei. Clara befürchtet, dass die Medien Nachforschungen anstellen werden. Das Jugendamt entschied damals nicht auf korrekte Weise, und Clara macht sich auch selbst Vorwürfe, weil sie nichts für Marius tat. Die Medienberichte werden einen Skandal auslösen.

Die Polizei sucht nach Marius Hagenau. In seiner Wohnung ist er nicht. Die Nachbarn haben das junge Ehepaar mit Rucksäcken weggehen sehen. Ingas Eltern kommen am 29. Juli von einem Urlaub in Dänemark zurück, aber sie wissen auch nur, dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn nach Südfrankreich trampen wollten.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Inga gelingt es in der Nacht auf den 30. Juli, sich von den Fesseln zu befreien. Im Nachthemd schleicht sie sich aus dem Haus. Sie will ins Dorf und Hilfe für Rebecca holen. Obwohl es mitten in der Nacht ist, begegnet ihr ein Auto. Aufgeregt hält sie es an. Als es bereits zu spät ist, befürchtet sie, Marius könne Rebeccas Wagen genommen haben. Doch zu ihrer Verblüffung steigt Maximilian Kemper aus. Ihrem Gestammel entnimmt er, was geschehen ist.

Sie schlägt vor, die Polizei zu alarmieren, aber er behauptet, der Akku seines Handys sei leer und es dauere zu lang, das Polizeirevier zu suchen. Stattdessen fährt er mit ihr zu Rebeccas Haus. Er geht los. Inga soll im Auto sitzen bleiben.

Auf der Suche nach etwas Trinkbarem findet Inga Maximilians Handy. Es ist eingeschaltet, der Akku voll geladen. Verwundert steckt Inga es unter dem Nachthemd in den Bund ihres Slips. Nach einer Weile hält sie die Ungewissheit nicht länger aus und klettert durch ein Fenster ins Haus. In Rebeccas Schlafzimmer liegt Marius in einer Blutlache. Er atmet noch. Im Wohnzimmer sitzen Rebecca und Maximilian. Erstaunt starrt Inga sie an. Dann bemerkt sie die Pistole in Maximilians Hand. Sie muss sich zu Rebecca setzen.

Sabrina, die erfahren hat, dass Marius in Südfrankreich gesucht wird, findet an diesem Morgen einen Brief, den Rebecca Brandt ihr vor längerer Zeit aus der Provence schrieb. Weil sich die Drohungen nicht nur gegen sie, sondern auch gegen die frühere Geschäftsführerin des Vereins „Kinderruf“ richteten, teilt sie Kommissar Kronborg den Absender mit: Ein Ferienhaus in Le Brusc. Sabrina gesteht ihm, dass sie bis November letzten Jahres ein Jahr lang eine Affäre mit einem Mann hatte, der sie wie besessen nach Rebecca ausfragte, bis er sie dazu brachte, ihm von dem Fall Marius Peters zu erzählen, in den Rebecca allerdings gar nicht selbst involviert gewesen war. Der Liebhaber hieß Maximilian Kemper. Wegen der Affäre reichte Sabrinas Mann die Scheidung ein.

Maximilian verliebte sich als Student in Rebecca, aber sie heiratete nicht ihn, sondern seinen Freund Felix Brandt. Den hasste er dafür, doch er täuschte weiter Freundschaft vor, denn sonst hätte er nicht mehr in Rebeccas Nähe sein können. Seine Gefühle konnten dem Ehepaar nicht verborgen bleiben, aber die beiden nahmen ihn offenbar nicht ernst. Aus Liebeskummer begann er zu trinken – und brachte sich dadurch um die Chefarztstelle, die er sonst bekommen hätte. Um endlich von Rebecca loszukommen und sein Leben wieder in die Reihe zu kriegen, beschloss Maximilian vor eineinhalb Jahren, sie umzubringen. Er machte sich an Sabrina Baldini heran, spielte ihr leidenschaftliche Liebe vor und fragte sie über Rebecca aus, bis er von dem Fall Marius Peters erfuhr. Daraufhin setzte er sich mit dem Studenten in Verbindung und redete ihm ein, er könne sich von seinen traumatischen Erlebnissen nur durch ein Gespräch mit der Hauptverantwortlichen befreien, mit Rebecca Brandt, der Geschäftsführerin des Vereins „Kinderruf“. Er verriet ihm auch, wie er das anstellen könne, kaufte ihm eine Campingausrüstung, brachte ihn dazu, mit seiner Frau in den Süden zu trampen und fand die beiden in dem Dorf, das Marius ihm kurz zuvor am Handy genannt hatte. Inga ließen sie glauben, es habe sich um einen Zufall gehandelt. Zuvor hatte Maximilian noch in München das Ehepaar Fred und und Greta Lenowsky überfallen und die beiden tagelang gefoltert, damit es nach einem Racheakt aussah. Auch die Drohbriefe sollten den Verdacht auf Marius lenken. Maximilian wollte zuerst Inga und Rebecca erschießen und am Ende Marius Tod wie einen Suizid inszenieren. Dann hätte man den traumatisierten Studenten für den Mörder gehalten.

Statt nach München zurückzufahren, blieb Maximilian unter falschem Namen in einer Pension in Le Brusc. Als Marius unerwartet über Bord ging und es so aussah, als sei er ertrunken, befürchtete Maximilian, sein Plan sei gescheitert. Marius konnte sich retten, aber Maximilian machte einen Fehler, als er ihn niederschoss. (Inga hörte den Schuss nicht, weil Maximilian den Lauf der Pistole in ein Kissen drückte.) Dem Gerichtsmediziner wird nicht verborgen bleiben, dass Marius vor den Frauen starb, zumal er Rebecca erst noch seinen genialen Plan erläutern will, damit sie endlich Respekt vor ihm bekommt.

Maximilian möchte mit Rebecca allein sein. Deshalb fesselt er sie und zerrt Inga ins Schlafzimmer zu ihrem leblos am Boden liegenden Mann. Die Tür sperrt er ab.

Nachdem Inga sich vergewissert hat, dass Marius noch lebt, ruft sie mit Maximilians Handy ihre Eltern an und bittet sie, die Polizei zu alarmieren.

Kurz darauf ist aus dem Wohnzimmer ein Schuss zu hören.

Am 2. August sitzen Inga und Rebecca im Garten. Marius hat zwar viel Blut verloren, wird die Schussverletzung jedoch überleben. Welche juristischen Folgen seine Taten haben werden, hängt von Ingas und Rebeccas Aussagen ab. Keine von ihnen hat ein Interesse, ihn für längere Zeit ins Gefängnis zu bringen.

Maximilian erschoss sich vor Rebeccas Augen. Er brachte es offenbar nicht fertig, sie zu töten. Rebecca findet est paradox, dass sie ohne den Mann, der sie ermorden wollte, seit zwölf Tagen tot wäre.

Karen Steinhoff bringt Wolf und die Kinder am 6. August zum Flughafen. Dann fährt sie nach Hause und lässt sich von einer Anwaltskanzlei einen Termin geben. Sie wird die Scheidung einreichen.

Im September erhält Clara einen Brief von Sabrina: Inga lässt sich scheiden. Marius unterzieht sich einer Psychotherapie. Rebecca kehrt nach München zurück, um den Verein „Kinderruf“ neu aufleben zu lassen, und Sabrina wird sie dabei unterstützen. Das Engagement für Kinder in Not soll helfen, die Schuld von damals abzutragen.

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In ihrem Thriller „Der fremde Gast“ greift Charlotte Link ein brisantes Thema auf: Was können Sozialhelfer und Jugendämter tun, wenn ein Verdacht auf Kindesmisshandlung besteht? Charlotte Link beschäftigt sich mit der Problematik und dem gravierenden Unterschied zwischen der Adoption eines den Eltern entzogenen Kindes und seiner Unterbringung in einer Pflegefamilie. Zugleich prangert sie Behördenentscheidungen an, die nicht ordnungsgemäß getroffen, sondern aus unterschiedlichen Gründen von „oben“ vorgegeben werden, in diesem Beispiel, weil der Bürgermeister einem befreundeten Rechtsanwalt einen Gefallen tun möchte. Der Thriller weist also auch gesellschaftskritische Elemente auf und geht weit über das Schema des Genres (Kommissar jagt Verbrecher) hinaus.

Mit einem anonymen Drohbrief baut Charlotte Link im Prolog des Romans „Der fremde Gast“ Spannung auf. Dann entwickelt sie chronologisch die Handlung, und die Kapitel sind dementsprechend mit Daten vom 18. Juli bis 6. August überschrieben. (Das Jahr wird nicht erwähnt.) Obwohl der Plot komplex ist, führt Charlotte Link souverän durch das Geschehen und verknüpft die verschiedenen Handlungsstränge immer enger, bis sie alle dicht miteinander verwoben sind. Dabei lässt sie keinen Faden fallen. Gekonnt steigert sie durch den häufigen Wechsel zwischen den Schauplätzen die Spannung. Ebenso eindrucksvoll wie die Konstruktion des Thrillers ist die Art und Weise, in der Charlotte Link die Charaktere vor allem in Dialogen differenziert herausarbeitet.

Den Roman „Der fremde Gast“ von Charlotte Link gibt es auch als Hörbuch in einer gekürzten Fassung von Susanne Lux-Meister, gelesen von Gudrun Landgrebe (Regie: Sabine Buß, Köln / Hamburg 2005, 4 CDs, ISBN: 978-3-86604-047-2).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

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