Harry Mulisch : Die Prozedur

Die Prozedur
Originalausgabe: De Procedure, Amsterdam 1998 Die Prozedur Übersetzung: Gregor Seferens Carl Hanser Verlag, München / Wien 1999 Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek 2000 ISBN 978-3-499-22710-3, 267 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dem Bio-Chemiker Victor Werker ist es gelungen, Leben in der Retorte zu erzeugen. Ausgerechnet dieser "Pygmalion, der die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben hat" muss hilflos zusehen, wie seine Geliebte von einem toten Kind entbunden wird ...
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Kritik

Harry Mulisch präsentiert in "Die Prozedur" Verwicklungen, Anspielungen, Doppeldeutigkeiten, Symbole, Zufälle und Exkurse in Kunst, Religion und Wissenschaft – nicht als trockene Materie, sondern er versteht es, dem Buch Leben einzuhauchen.
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Ein Buch über Buchstaben und deren vielfältige Möglichkeiten: Mit einem Wort wurde zum Beispiel die Welt erschaffen; mit der richtigen Buchstabenkombination kann aus Lehm ein Golem zum Leben erweckt werden, aber auch der DNS-Code lässt sich mit Buchstaben darstellen. Der Protagonist dieses Romans, Victor Werker hat als Bio-Chemiker DNS-Codes entschlüsselt. Ihm ist es auch gelungen, Leben in der Retorte zu erzeugen. Der Wissenschaftler ist weltweit anerkannt und erfolgreich. Insgeheim hofft er, den Nobelpreis zu erhalten, also in das „schwedische Stadium der Heiligkeit“ befördert zu werden. Das Produkt seiner „Prozedur“ nennt er Eobionten, so bezeichnet nach Eos, der griechischen Göttin der Morgenröte.

Ausgerechnet „der Fabrikant des Eobionten, der weltberühmte Lebenmacher“, ist nicht fähig, seinem auf natürlichem Wege gezeugten Kind zum Leben zu verhelfen. Die Tochter, die den Namen Aurora (die römische Bezeichnung für die Göttin der Morgenröte) erhalten sollte, ist durch die Nabelschnur im Mutterleib erstickt. Es muss ein künstlicher Abgang eingeleitet werden. Victor verspricht seiner Geliebten Clara, der Mutter des Kindes, während der Geburt des toten Fetus dabei zu sein. Er sitzt auch tapfer bei ihr am Bett, aber im letzten Moment versagen ihm die Nerven — er fürchtet mit einem von ihm gezeugten Monster konfrontiert zu werden. In Panik rennt er aus dem Kreißsaal: Er, der selbst Leben erschafft, „ergreift die Flucht, wenn der Tod auf dem Programm steht“. Als er in das Krankenzimmer zurückgeht, zeigt ihm Clara das tote Kind. „Und was ich sah, war kein Monster, sondern eine erhabene Erscheinung aus einer anderen Welt.“

Seine Freundin kann ihm nicht verzeihen, dass er sein Versprechen nicht gehalten und sie im wichtigsten Augenblick im Stich gelassen hat. Nach einer Weile verlässt sie ihn und verlangt, dass er sie niemals anruft.

Victor hat sie an einen anderen Mann verloren. Um mit sich ins Reine zu kommen, und mit der uneingestandenen Hoffnung, Clara zurückzugewinnen, schreibt er seiner toten Tochter Briefe, die er an Clara schickt — also indirekt an sie richtet. In diesen Briefen beschreibt er seine Befindlichkeit, Anschauungen und die Arbeitsweise seiner beruflichen Tätigkeit:

… aus einer Reihe von Gründen bin ich davon überzeugt, dass es nur auf der Erde Leben gibt, das man zu Recht als solches bezeichnet: Es ist nicht irgendwoher gekommen, aber es wird von hier aus irgendwohin gebracht werden.

Ich habe mit modernsten Mitteln einen primitiven Organismus aus anorganischer Materie hergestellt …

… ich habe gezeigt, dass es im Prinzip auch ohne Gott möglich ist. Die Gläubigen waren natürlich gezwungen, … das nicht zu glauben und mein perverses Werk unter der Rubrik „Hybris“ einzuordnen.

Der Eobiont, auf den ich abzielte, sollte die allereinfachste unabhängige Lebensform darstellen, die möglich ist. Die kleinsten Wesen, die uns zur Zeit bekannt sind, gehören zu den extremophilen Archaea … selbst ihre DNS besteht noch aus ungefähr sechshunderttausend Buchstaben, verteilt auf ungefähr fünfhundert Gene, die Eiweiß codieren. Das ist immer noch ein Roman von dreihundert Seiten, aber mir schwebte eher eine Novelle vor, etwas von der Größe eines Virus — aber Viren sind Parasiten, die andere Zellen benötigen, um sich zu vermehren: folglich sind sie Wesen späteren Datums.

Clara kehrt nicht zu Victor zurück. Der von ihm geschätzte Spruch Nietzsches „Die meisten Beziehungen zerbrechen nicht aus einem Mangel an Liebe, sondern aus einem Mangel an Freundschaft“ scheint sich zu bewahrheiten. Seine frühere Freundin bleibt bei ihrem neuen Liebhaber in Wien, dem Bariton Dietrich Jäger-Jena. Da dieses Buch auch vom Ver- und Entschlüsseln handelt, hat der niederländische Autor den deutschen Ausdruck für einen in alle Schlösser passenden Nachschlüssel, mit dem sich auch unberechtigt Türen öffnen lassen, als Vornamen für Claras neuen Lebensgefährten gewählt.

Bei einem Telefongespräch gerät Victor Werker zufällig in eine Unterhaltung, die sich wie eine Wegbeschreibung anhört. Er will die Verbindung gerade unterbrechen, als er begreift, dass zwei Englisch sprechende Männer soeben einen Auftragsmord besprachen. Er sieht sich verpflichtet, die Polizei zu verständigen. Die kann (und will) nicht helfen. Auch bei der Mobiltelefongesellschaft, an die er sich dann wendet, um den Ausgangspunkt des Gesprächs zu orten, kommt er nicht weiter. Seine Bemühungen stellen sich als nahezu kafkaesk unerquicklich und erfolglos heraus.

Zu Hause lässt er sich erschöpft in einen Sessel fallen. Um sich zu entspannen, holt er sich die Metamorphosen von Ovid aus dem Regal und vertieft sich in die Passagen über Pgymalion. (Bei einem Wettbewerb für die bekanntesten Künstler bzw. Wissenschaftler des Jahrhunderts wurde er kürzlich vorgeschlagen als „der zweite Pygmalion, der die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben hat“.) Dann klingelt es an der Tür. Er erwartet eigentlich niemand. Als er öffnet, sieht er die Umrisse von zwei Gestalten vor sich. „Nach dem Rätsel des Lebens hat er am Ende auch das Rätsel des Todes gelöst.“

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Nietzsches Zarathustra hatte die Vision, dass Gott tot ist — hatte er, Victor Werker, hundert Jahre später Gott vielleicht tatsächlich ausgelöscht, indem er Leben schuf? Ist der Kern des Gebots „Du sollst nicht morden“ vielleicht das Gebot „Du sollst kein Leben schaffen“?

Trotz des teilweise spröden Stoffes ist „Die Prozedur“ unterhaltsam. Der Text ist durchgängig geistvoll, witzig und originell. So nehmen wir zum Beispiel an einer kompliziert verlaufenden Geburt teil, der von Victor Werker nämlich, die dramatischer nicht beschrieben werden könnte. Die Schilderung des dieser Geburt vorausgegangenen, von Victors Mutter gegen den eigentlichen Willen ihres Mannes herbeigeführten Zeugungsaktes ist ebenfalls nicht gerade zurückhaltend.

Es gibt viele Verwicklungen, Anspielungen, Doppeldeutigkeiten, Verschlüsselungen, Symbole, Zufälle und etliche Exkurse über Religion, Literatur, Kunst, Architektur, Archäologie, Philosophie und natürlich Chemie und Genetik. Selbst die komplizierten Prozeduren bleiben keine trockene Materie. Harry Mulisch hat es verstanden, seinem Buch „Die Prozedur“ Leben einzuhauchen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.