Marie NDiaye : Drei starke Frauen

Drei starke Frauen
Originalausgabe: Trois femmes puissantes Éditions Gallimard, Paris 2009 Drei starke Frauen Übersetzung: Claudia Kalscheuer Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 ISBN: 978-3-518-42165-9, 342 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2011 ISBN: 978-3-518-46258-4, 342 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

I: Die französische Anwältin Norah wird von ihrem herrschsüchtigen, gefühllosen Vater nach Dakar gerufen: Sie soll ihren wegen Mordes angeklagten Bruder verteidigen. – II: Rudy bemitleidet sich wegen seines beruflichen Scheiterns und befürchtet, dass ihn seine aus Afrika stammende Ehefrau Fanta verlassen wird. – III: Nach dem Tod ihres Ehemanns wird die 25-jährige Khady von ihrer Schwiegermutter in Dakar gezwungen, sich Flüchtlingen nach Europa anzuschließen. Von dort soll sie Geld schicken.
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Kritik

Unter dem Titel "Drei starke Frauen" sind drei miteinander verknüpfte deprimierende Erzählungen von Marie NDiaye zusammengefasst. Sie kreisen um Verlust, Gewalt und Verrat. Besonders heftig sind die erste und die letzten Geschichte.
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1

Die achtunddreißigjährige in Paris lebende Rechtsanwältin Norah wird durch einen Brief ihres Vaters nach Dakar gerufen.

Sie war acht Jahre alt, als der afrikanische Vater die französische Mutter, Norah und ihre ein Jahr ältere Schwester in Frankreich zurückließ, wo er studiert hatte, und mit dem fünfjährigen Sohn Sony aus der Ehe in den Senegal zurückkehrte. In Dara Salam kaufte er ein Feriendorf, das gerade gebaut wurde. Norahs Mutter, die über den Verlust des Sohnes verzweifelt war und in Paris in einem Frisörsalon arbeitete, musste aus finanziellen Gründen mit den beiden Töchtern in eine kleinere Wohnung umziehen, aber ihr Mann schickte ihr nur unregelmäßig Geld, obwohl er mit dem Feriendorf viel Geld verdiente.

Er kannte weder Mitleid noch Reue, und da ihn der Hunger an jedem Tag seiner Kindheit gequält hatte, war er nun fest entschlossen, sich satt zu essen und seine lebhafte Intelligenz zum alleinigen Nutzen seiner Behaglichkeit und seiner Macht arbeiten zu lassen, ohne dass er das Bedürfnis verspürte, sich zu sagen: Das habe ich mir verdient, denn niemals streifte ihn auch nur der geringste Zweifel an der Berechtigung seiner Privilegien, seines schnell erworbenen Reichtums.

In ihrer Not kündigte Norahs Mutter schließlich ihre Stelle und prostituierte sich.

Norah und ihre Schwester waren zwölf beziehungsweise dreizehn Jahre alt, als sie den inzwischen mit einer anderen Frau verheirateten Vater und den Bruder erstmals besuchen durften und drei Wochen im Senegal verbrachten. Sieben Jahre später lud Norahs Vater seine Ex-Frau und die Töchter noch einmal ein und übernahm die Kosten, aber Norahs Mutter drängte nach einer einzigen Begegnung mit ihrem Sohn zum vorzeitigen Aufbruch und sprach danach nie wieder von Sony.

Vor einem Jahr nahm Norah ihren parasitären Lebensgefährten Jakob Ganzer in ihrer Wohnung in Paris auf. Norah hat eine siebenjährige Tochter, Lucie, und Jakob brachte seine ebenfalls sieben Jahre alte Tochter Grete mit.

Sie [Norah] wusste inzwischen, dass Jakob nie Anwalt oder sonst irgendetwas werden würde, dass er nie wirklich etwas zu den Haushaltskosten beitragen würde, auch wenn er von Zeit zu Zeit, von seinen Eltern, wie er sagte, ein paar hundert Euro bekam, mit denen er sofort und demonstrativ kostspielige Lebensmittel und überflüssige Kleidung für die Kinder kaufte, und sie wusste auch, sie gestand es sich endlich ein, dass sie sich schlicht und einfach einen Mann und ein kleines Mädchen ins Haus geholt hatte, die sie nun unterhalten musste, die sie nicht wieder loswerden konnte, die sie in die Enge getrieben hatten.

In Dakar geht Jakob mit den Kindern in ein Hotel, während Norah zu ihrem Vater fährt. Statt des in ihrer Erinnerung herrschüchtigen, auf gute Kleidung bedachten Mannes findet sie einen gebrochenen, verwahrlosten Greis vor. Körperliche Berührungen verabscheut er nach wie vor. Seine Frau sei verreist, behauptet er, als Norah nach ihr fragt. Sein Sohn ebenfalls.

Und dass ihr Vater, der so viele Frauen und so viele Kinder gehabt hatte, dass dieser nicht besonders gutaussehende, aber brillante, raffinierte, unbarmherzige und entschlossene Mann, der, nach Überwindung der größten Not, zu Wohlstand gelangt, immer eine ergebene, denkbare kleine Gesellschaft um sich geschart hatte, dass dieser verwöhnte Mann nun allein und vielleicht verlassen dastand, besänftigte in Norah, wenn auch gegen ihren Willen, einen alten, undeutlichen Groll.

Als Norah sich nach seinen zwei oder drei Jahre alten Töchtern erkundigt, führt er sie zu einem anderen Zimmer, das die Zwillinge sich mit einer Achtzehnjährigen namens Khady Demba teilen. Norah glaubt zu wissen, dass die Mutter der Kinder im Alter ihres Bruders ist, Mitte dreißig, aber sie wundert sich darüber, dass ihr alter Vater noch zeugungsfähig war. Bezug hat er keinen zu ihnen, und er erinnert sich nicht einmal an ihre Namen.

Am nächsten Tag fährt der Diener Masseck die Besucherin zum Reubeuss-Gefängnis in Dakar. Erst jetzt erfährt sie, warum ihr Vater sie nach Afrika rief: Sony, der eine renommierte Privatschule besucht und in London Politikwissenschaften studiert hatte, sitzt in Haft. Zu ihrer Verwunderung wurde Norah nicht als Schwester, sondern als Anwältin des Häftlings angekündigt. In dem Geschrei im Besucherzimmer gelingt es ihr nicht, herauszufinden, warum Sony eingesperrt wurde.

Sie lässt sich von Masseck zum Hotel bringen, und während sie auf Jakob und die Mädchen wartet, surft sie in der Halle im Internet. Einem alten Zeitungsartikel entnimmt sie, dass Sony vor vier Wochen seine Stiefmutter mit einer Wäscheleine erdrosselt haben soll.

Wegen der Kosten lehnt Jakob es ab, weiter im Hotel zu wohnen. Er und die Kinder begleiten Norah zu deren Vater. Der nimmt die unerwarteten Besucher nur auf, weil Norah lügt, sie sei mit Jakob verheiratet.

Während Norahs Abwesenheit hat der alte Mann die Zwillinge zur Familie seiner toten Frau geschickt.

Mit seinem Feriendorf war er in Konkurs gegangen. Er verlor sein Vermögen und kann sich keinen Anwalt für Sony leisten. Deshalb muss Norah die Verteidigung übernehmen.

Norah fügt sich und nimmt die Trennung von ihrer Tochter hin, die mit Jakob und Grete nach Paris zurückkehrt.

Sony gesteht seiner Schwester, er habe drei Jahre lang heimlich ein Verhältnis mit der Stiefmutter gehabt. Die Zwillinge seien von ihm. Und er versichert Norah, nicht er, sondern der Vater habe die Frau getötet. Aus Eifersucht. Aber vor Gericht nimmt Sony die Schuld auf sich, um dem alten Mann den Gefängnisaufenthalt zu ersparen.

2

Rudy Descas war acht oder neun Jahre alt, als sein Vater, der mit dem Bau eines Feriendorfs in Dara Salam bei Dakar viel Geld verdient hatte, seinen angeblich betrügerischen Geschäftspartner Salif totfuhr. Im Gefängnis erschoss sich der Vater mit einer eingeschmuggelten Pistole [Suizid]. Kurz darauf kehrte die Mutter mit Rudy nach Frankreich zurück. Drei Jahre hatten sie im Senegal verbracht. Rudy besuchte ein Internat, und nach dem Studium in Bordeaux begann er am Lycée Mermoz in Dakar französische Literatur zu unterrichten. Er heiratete seine afrikanische Kollegin Fanta, und sie bekamen einen Sohn: Djibril.

Zwei Jahre nach Djibrils Geburt konnte Rudy damit rechnen, von einer Universität als Professor für klassische Philologie berufen zu werden. Aber da geriet er mit drei Schülern aneinander. Als einer der Jungen ihn als „Sohn eines Mörders“ beschimpfte, rastete er aus. Rudy packte den Schüler und würgte ihn, bis ihn die beiden anderen überwältigten. Wegen der Prügelei verlor er nicht nur seine Anstellung am Lycée Mermoz, sondern zugleich die Aussicht auf eine Universitätskarriere. Dem Achtunddreißigjährigen blieb nichts anderes übrig, als den Senegal zu verlassen. Fanta musste ihm ins französische Département Gironde folgen. Das war vor fünf Jahren.

Während Fanta inzwischen trotz ihrer Entwurzelung wieder als Lehrerin tätig ist, arbeitet Rudy seit vier Jahren als Verkäufer für den mittelständischen Möbelhändler Manille. Die Stelle hatte ihm seine Mutter vermittelt.

Freunde hat Rudy keine mehr. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn aufgrund seines beruflichen Scheiterns leidet er unter Minderwertigkeitskomplexen und kann weder sich noch andere Menschen ausstehen. Rudy suhlt sich in seinem Selbstmitleid.

Heute Morgen geriet er mit Fanta in Streit und schimpfte: „Du kannst ja dahin zurückgehen, wo du herkommst.“ Nun macht er sich Sorgen, dass Fanta ihn verlassen könnte.

Kaum im Büro eingetroffen, muss er zu Madame Menotti, einer Kundin, der er eine Einbauküche verkauft hat. Die kleine Bankangestellte gab dafür viel Geld aus. Nun muss sie die Einweihungsparty verschieben, denn der Dunstabzug befindet sich aufgrund eines Planungsfehlers, für den Rudy verantwortlich ist, nicht über dem Kochfeld.

Szenenwechsel:

Und die junge Frau auf der anderen Seite der Hecke, diese eigenartige Nachbarin, die Fanta hieß und Pulmaire immer nur mit Blicken bedacht hatte, die von jedem ausdruck reingewaschen waren, hob ihrerseits die Hand. Sie grüßte Pulmaire, sanft, mit Absicht und Willen, sie grüßte sie.

3

Khady Demba wuchs bei ihrer Großmutter auf, die inzwischen schon lange tot ist. Ob ihre Eltern noch leben, weiß sie nicht.

Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt, als ihr Mann nach drei Jahren Ehe stirbt. Der Besitzer des Getränkekiosks in Dakar, den Khady und ihr Mann betrieben, wirft die Witwe hinaus und stellt ein anderes Paar ein. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als Zuflucht bei ihren Schwiegereltern zu suchen, die mit ihren beiden Töchtern und den Enkeln in einer Drei-Zimmer-Wohnung leben. Aber weder der Platz noch das Geld reichen für eine weitere Person. Deshalb muss Khady fort.

Die Schwiegermutter gibt ihr einen Zettel mit der Adresse ihrer Cousine Fanta in Frankreich mit. Die sei dort Lehrerin und müsse deshalb reich sein, erklärt sie und beschwört Khady, nach ihrer Ankunft regelmäßig Geld zu schicken.

Ein Mann, dem die Schwiegermutter Banknoten zusteckt, bringt Khady zu einer Stelle, an der bereits andere Menschen warten, die den Senegal verlassen wollen oder müssen. Mit mehreren Flüchtlingen zusammen wird Khady in ein Auto gepfercht und ans Meer gebracht. Dort soll sie mit vielen anderen ein Boot besteigen, aber als Khady merkt, dass der Boden bereits voll Wasser gelaufen ist, springt sie wieder über Bord – und reißt sich dabei an einem vorstehenden Nagel die Wade auf.

Die Nacht verbringt sie am Strand. Als sie die Augen aufschlägt, kauert ein etwa fünf Jahre jüngerer Mann vor ihr. Er heißt Lamine und war auch nicht bereit, sein Leben auf dem schrottreifen Boot zu riskieren. Er führt Khady zu einer Wasserpumpe in der Stadt, wo sie trinken und ihre klaffende Wunde säubern kann. Dann gesellen sie sich zu anderen Flüchtlingen, die in einem Hof auf eine Transportmöglichkeit warten.

An einem der nächsten Tage bringt Lamine seine neue Freundin in einen Frisörsalon, wo sie fotografiert wird, denn er hat einen gefälschten Pass für sie in Auftrag gegeben. Khady hat zwar ein Bündel Geldscheine von ihrer Schwiegermutter in die Unterhose gesteckt bekommen, aber sie erwähnt nichts davon, und Lamine bezahlt, ohne darüber mit ihr zu reden.

Im Hof schlafen sie miteinander.

Schließlich nimmt ein Lastwagenfahrer einige der Flüchtlinge, darunter auch Khady und Lamine, auf der offenen Ladefläche mit. Auch in diesem Fall bezahlt Lamine für Khady mit.

An der Grenze hält er einem der Kontrolleure seinen Pass und einige Banknoten hin. Offenbar ist es zu wenig, denn der Soldat wirft die Scheine verächtlich auf den Boden und schlägt Lamine in den Bauch. Der junge Mann fällt auf die Knie und krümmt sich vor Schmerzen. Mitleidslos zerschneidet ihm der Soldat mit einem Messer die Fußsohlen durch die billigen Stoffschuhe hindurch. Khady holt alles Geld aus der Unterhose, bietet es dem Soldaten an und bedeutet ihm, dass Lamine zu ihr gehört. Sie dürfen die Grenze überqueren.

Bald darauf stranden sie in einer Wüstenstadt.

Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, was sie noch nicht die Möglichkeit hatte, sich vorzustellen, und was sich ihrem Verstand nach und nach offenbaren würde, war, dass der Junge tief und doppelt gedemütigt war, zugleich von dem, was sich am Tag zuvor zugetragen hatte, und im Voraus von etwas, das noch nicht geschehen war und das Khadys zwar nicht naiver, doch unerfahrener Geist noch nicht erahnte, wovon der Junge seinerseits jedoch wusste, dass es geschehen würde, und das war der Grund, so würde Khady später verstehen, warum er sich vor ihr geschämt hatte, es war die Scham zu wissen, was sie nicht wusste, und die Scham für die Sache selbst, das war der Grund, warum der Junge sich weit von ihr zurückgezogen hatte, vor Grauen verhärtet, und mit Khadys Unschuld nichts zu tun haben wollte.

Weil sie nicht wissen, wie sie sonst wieder zu Geld kommen sollen, prostituiert Khady sich im Auftrag der Betreiberin einer Garküche. Auf einer Schaumstoffmatratze in einer winzigen Kammer hinter der Garküche erwartet sie die von der Frau angelockten Freier.

Denn was konnte sie der heillosen Scham des Jungen entgegensetzen außer der etwas müden Selbstverständlichkeit ihrer eigenen, für immer unantastbaren Ehre, außer dem etwas müden Bewusstsein ihrer unwiderruflichen Würde?


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Eines Morgens stellt sie beim Aufwachen fest, dass Lamine mit ihren gesamten Ersparnissen fort ist. Sie muss von vorne anfangen. Khady magert ab, und die Verletzung will nicht heilen. Es dauert über ein Jahr, bis sie wieder so viel gespart hat, dass sie weiterreisen kann.

Irgendwo bricht sie zusammen. In einem zu einem Flüchtlingslager gehörenden Zelt liegend kommt sie zu sich. Wo sie den Pass und das Geld eingebüßt hat? Sie erinnert sich nicht mehr daran. Ein Mann und eine Frau kümmern sich um sie.

Kurz nach Tagesanbruch erklangen im Lager Schreie, Gebell, Gerenne.
Soldaten zerstörten die Hütten, rissen die Planen herunter, verstreuten die Steine der Kochstellen.
Einer von ihnen packte Khady, riss ihr das Wickeltuch vom Leib.
Sie sah ihn zögern und begriff, dass er abgestoßen war vom Anblick ihres Körpers, von ihrer Magerkeit, von den schwärzlichen Flecken auf ihrer Haut.
Er schlug sie ins Gesicht und warf sie zu Boden, den Mund verzerrt vor Zorn, vor Ekel.

Mit behelfsmäßigen Leitern versuchen die Flüchtlinge, über den Grenzzaun zu klettern.

Und sie [Khady] hörte um sich herum die Kugeln knallen und Schreie vor Schmerz und Schrecken, ohne zu wissen, ob sie ebenfalls schrie oder ob es das Hämmern des Blutes in ihrem Schädel war, was sie in diese anhaltende Klage einhüllte, und sie wollte noch höher klettern und erinnerte sich, dass ein Junge ihr gesagt hatte, man dürfe niemals, niemals aufhören höher zu steigen, ehe man ganz oben am Zaun angelangt war, doch der Stacheldraht zerfetzte die Haut ihrer Hände und Füße, und sie konnte sich jetzt schreien hören und das Blut über ihre Arme, ihre Schultern laufen fühlen, während sie sich weiter sagte, niemals aufhören höher zu steigen, niemals, sie sagte sich die Worte weiter vor, ohne sie zu verstehen, und dann gab sie auf, ließ los, fiel sanft nach hinten und dachte dabei, es sei sicher das Wesen von Khady Demba, weniger als ein Hauch, eine winzige Luftbewegung, nicht auf der Erde zu landen, sondern in der Schwebe zu bleiben, ewig, kostbar, zu flüchtig, um je zu zerschellen in der blendenden, eisigen Helle der Scheinwerfer.
Das bin ich, Khady Demba, dachte sie noch in dem Augenblick, da ihr Schädel auf dem Boden aufschlug und sie mit weit geöffneten Augen hoch über dem Zaun einen Vogel mit langen, grauen Flügeln ruhig kreisen sah – das bin ich, Khady Demba, dachte sie im Schwindel dieser Offenbarung, wissend, dass sie dieser Vogel war und dass der Vogel es wusste.

Lamine schafft es nach Europa. Wenn er in einer Spülküche, im Lager eines Supermarktes oder auf einer Baustelle arbeitet, denkt er immerzu an das Mädchen, das er ausraubte.

[…] er flehte es stumm an, ihm zu verzeihen und ihn nicht mit Verwünschungen oder vergifteten Träumen zu verfolgen.

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Unter dem Titel „Drei starke Frauen“ sind drei eigenständige, lose miteinander verknüpfte Erzählungen von Marie NDiaye zusammengefasst. Die Frage, ob es richtig ist, das Buch als Roman zu bezeichnen, oder ob das nur im Hinblick auf die Verkaufszahlen behauptet wird, lassen wir offen.

In der ersten und in der dritten Geschichte steht jeweils eine Frau im Zentrum: eine französische Rechtsanwältin mit afrikanischen Wurzeln, die von Paris nach Dakar reist, und eine mittellose junge Afrikanerin, die gezwungen wird, sich Flüchtlingen nach Europa anzuschließen. In der mittleren, mit über 160 Seiten längsten Erzählung erfahren wir über die weibliche Hauptfigur nur, was ihr Mann über sie denkt. Alle drei Plots enden deprimierend. Verlust, Gewalt und Verrat sind die Themen. Keiner der männlichen Protagonisten, die wohl nicht zufällig drei verschiedene Generationen repräsentieren, ist charakterlich besonders stark. Norahs Vater versucht seine Schwäche durch Herrschsucht, Egomanie und Gefühllosigkeit zu kompensieren. Rudy gibt sich seinem Selbstmitleid hin. Die drei Frauen Norah, Fanta und Khady ertragen dagegen klaglos die Belastungen, und selbst wenn sie sich in der Not prostituieren, bewahren sie ihre Würde.

Atmosphärische Dichte erzielt Marie NDiaye in „Drei starke Frauen“ nicht zuletzt durch Symbole und Elemente des magischen Realismus. In der ersten Geschichte ist es ein Flammenbaum, in der zweiten ein Bussard.

Jede der drei Erzählungen beschließt Marie NDiaye mit einem kurzen „Kontrapunkt“.

Sprachlich neigt Marie NDiaye zu einem ambitionierten hypotaktischen Stil.

Die zweite Geschichte hängt etwas durch, obwohl es formal wegen der Beschränkung der Handlung auf ein paar Stunden und der rigoros subjektiven Perspektive sowie des Wechsels zwischen szenischer Darstellung und innerem Monolog die interessanteste ist. Einfacher strukturiert sind die beiden anderen Erzählungen, aber sie reißen die Leser durch ihre eindrucksvolle Heftigkeit mit.

Für ihr anspruchsvolles Buch „Drei starke Frauen“ wurde Marie NDiaye mit dem „Prix Goncourt“ ausgezeichnet.

Marie NDiaye (auch Marie N’Diaye) wurde am 4. Juni 1967 in Pithiviers im Département Loiret als Tochter einer Französin und eines Senegalesen geboren. Sie war ein Jahr alt, als der Vater seine Frau, Marie und deren zwei Jahre älteren Bruder Pap verließ. Die Mutter arbeitete als Französisch-Lehrerin. Bereits als Schülerin an der École Normale Supérieure nahm Marie NDiaye sich vor, Schriftstellerin zu werden. Ihr Debütroman erschien 1985: „Quant au riche avenir“ („Was die reiche Zukunft betrifft“). Später verfasste sie auch Bühnenstücke, und von ihr stammt außerdem das Drehbuch für den von Claire Denis mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle inszenierten Kinofilm „White Material“ (2009).

Seit 2007 lebt Marie NDiaye mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Jean-Yves Cendrey (* 1957), und ihren drei Kindern in Berlin.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Marie NDiaye: Ladivine

Romy Hausmann - Liebes Kind
"Liebes Kind" ist ein packender Psychothriller, in dem wir das abgründige Geschehen ausschließlich aus der subjektiven Perspektive der Protagonisten erleben. Es ist verblüffend, wie intensiv sich Romy Hausmann in die Figuren hineinversetzt und uns das dann auch eindringlich nacherleben lässt.
Liebes Kind