Fuminori Nakamura : Die Maske
Inhaltsangabe
Kritik
Kinder
1993, als Fumihiro elf Jahre alt ist, erklärt ihm sein über 70 Jahre alter Vater Shōzō Kuki, dass er ihn nur gezeugt habe, um einer Tradition gemäß Böses – ein „Geschwür“ – in die Welt zu setzen. Die Mutter starb bei Fumihiros Geburt. Seine fünf zwischen 23 und 36 Jahre alten Geschwister leben in Tokio. Das Elternhaus bei Nagoya bewohnt Fumihiro mit dem Vater, den Dienstboten – und von jetzt an auch mit einer gleichaltrigen von Shōzō Kuki adoptierten Waise. Das Mädchen Kaori besucht sogar dieselbe Schulklasse wie Fumihiro.
Schon bald steht sie im Mittelpunkt von Fumihiros pubertären Fantasien, aber es dauert einige Zeit, bis sie sich von ihm küssen lässt.
Eineinhalb Jahre nachdem Kaori ins Haus kam, bemerkt Fumihiro, dass sie sich vor seinem Vater ausziehen und von ihm lecken lassen muss. Um den Missbrauch des geliebten Mädchens zu beenden, denkt Fumihiro über Möglichkeiten nach, den Vater zu töten.
Kurz vor seinem 14. Geburtstag folgt er ihm nachts in den Keller. Shōzō Kuki ahnt, was Fumihiro vorhat, aber er stachelt ihn noch dazu an, indem er damit droht, er werde Kaori vor den Augen seines Sohnes von einer ganzen Horde Männer deflorieren lassen.
„Und wenn ich es nicht tue?“ [fragt Fumihiro]
„Dann werde ich dich und Kaori ins Verderben stürzen, wie auch immer. Aber wenn du mich tötest, lieferst du dich selbst dem Verderben aus. So einfach ist das.“
Der 13-Jährige schlägt die Türe zu und verkeilt die Türklinke.
In dieser Nacht schlafen Kaori und Fumihiro miteinander. Es ist für sie beide das erste Mal überhaupt. Sie wiederholen es jeden Abend, drei Monate lang, bis die Medien darüber berichten, dass das Oberhaupt des mächtigen Kuki-Klans spurlos verschwunden sei. Bald darauf trifft Mikihiko Kuki ein, Shōzō Kukis ältester Sohn, und übernimmt die Geschäfte. (Erst sehr viel später wird Fumihiro erfahren, dass Mikihiko die Leiche des Vaters von der ehemaligen Haushälterin Tanabe beseitigen ließ.)
Fumihiro sieht seinem verhassten Vater immer ähnlicher. Das macht ihm schwer zu schaffen. Er spürt, wie Kaori sich bei seinen Berührungen verkrampft, weil sie bei seinem Anblick an den Missbrauch denken muss. Schließlich gehen sie getrennte Wege.
Erwachsene
Wie sehr ich mich auch bemühte, eine andere Frau zu lieben – es gelang mir nicht. Zweimal versuchte ich halbherzig, mich umzubringen.
Weil er kein „Geschwür“ sein will, nimmt Fumihiro 13 Jahre nach dem Vatermord die Identität eines Toten an und lässt sich in einem Vorort von Tokio das Gesicht operieren. Er heißt jetzt Kōichi Shintani. Um mehr über die Vergangenheit des Mannes zu erfahren, der zu sein er vorgibt, beauftragt er einen Detektiv, der schon für seinen Vater gearbeitet hatte.
„Dieser Mann Kōichi Shintani. Finden Sie heraus, wer er war. Sein Leben, seine besonderen Fähigkeiten, sein Charakter, alles.“
Als der Detektiv seinen Bericht abgegeben hat, beauftragt Fumihiro Kuki alias Kōichi Shintani ihn mit Nachforschungen über Kaori Kuki. Die 27-Jährige arbeitet in dem exklusiven Club „Je le répète“ in Tokio. Azusa Konishi, die Assistentin des Detektivs, bewirbt sich erfolgreich unter dem Namen Azumi bei dem Club und freundet sich mit Kaori Kuki an.
Auf diese Weise findet der Detektiv heraus, dass ein Kleinkrimineller auf die Millionen aus ist, die Kaori geerbt hat, nachdem ihr Adoptivvater für tot erklärt wurde. Der 34-Jährige nennt sich Takayuki Yajima, heißt jedoch in Wirklichkeit Masayuki Nishida. Kōichi Shintani ermordet den Drogensüchtigen mit Heroin, in das er Zyanid gemischt hat.
Die Ermittlungen werden von einem Kommissar namens Aida geleitet. Der kennt Kōichi Shintani von früher.
Offensichtlich kannte der Mann Shintani, den früheren Besitzer meines Gesichts.
Nach und nach begreift Fumihiro Kuki alias Kōichi Shintani, dass Sae, die Freundin des inzwischen Toten, nach dem Scheitern der Beziehung bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und ihre Mutter Yaeko dem Ex-Freund unterstellte, sie umgebracht zu haben. Aida versuchte Kōichi Shintani zu überführen, aber das gelang ihm nicht.
Ein Fremder nimmt Kontakt mit Kōichi Shintani auf. Sie verabreden sich im Nishiguchi-Park. Ryōsuke Itō, so heißt der Mann, ist überrascht, denn er erwartete Fumihiro Kuki.
Ich merkte, dass er wirklich verwirrt war. Er wusste zwar von Fumihiro, aber offenbar nicht von meiner Operation und Shintani. Meine Gedanken rotierten, dennoch wollte mir nicht in den Kopf, woher er Fumihiro Kuki kannte, woher er Kaori kannte, woher er meine Telefonnummer kannte.
Itō gehört der Terrororganisation JL an und verspricht sich von dem reichen Erben eine dringend benötigte finanzielle Unterstützung. Fumihiro Kuki alias Kōichi Shintani hält ihn hin.
Er schläft mit einer Barbekanntschaft namens Kyōko Yoshioka, die ebenso einsam ist wie er.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Der große Bruder
Mikihiko Kuki schickt seinen Sekretär, um seinen jüngsten Bruder zu holen. Von dem anderen Gesicht lässt sich das Familienoberhaupt nicht täuschen, denn er hat von der Gesichtsoperation erfahren. Er vermutet, dass Fumihiro den Vater ermordete und geht davon aus, dass er Takayuki Yajima vergiftete. Den Schwindler hatte er selbst auf Kaori angesetzt, denn er will die Adoptivschwester vernichten.
„Ich, als sein Sohn, will das Mädchen zerstören, das dein Vater zerstören wollte, aber nicht konnte. Eine interessante Wendung, oder? Wenn sie einmal abhängig ist, werde ich sie für immer mit Leib und Seele besitzen. Vielleicht setze ich jemand Neues auf sie an.“
Weil Takayuki Yajima den Auftrag nicht mehr erfüllen kann, erwartet Mikihiko Kuki nun von seinem Bruder, dass dieser Kaori drogenabhängig macht und ihm dann bringt. Er beabsichtigt, ihr das Leben zur Hölle zu machen.
Bei einem weiteren Treffen erklärt Mikihiko seinem Bruder Grundzüge des Konzerngeschäfts. Weil das Unternehmen einen Teil der Gewinne mit Rüstungsgütern erzielt, gehört verdeckte Kriegstreiberei zum Erfolgsrezept. Und nach den Kriegen verdienen andere Konzernbereiche am Wiederaufbau zerstörter Städte.
„Krieg ist das beste Geschäftsmodell, das du dir denken kannst.“
„Alles ist Teil des Systems, fügt sich zu einem Ganzen. Diese Gruppe, die jetzt von sich reden macht, JL. Sie wollen die Machthaber im Land stürzen, alles niederreißen. Aber auch ihre Attacken sind letztlich Teil unseres Systems. Dank JL steigt das Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Meine Security-Firmen laufen hervorragend, Einbruchsicherungen und Überwachungsanlagen verkaufen sich wie verrückt. Natürlich steigen auch die Aktienkurse und bescheren den Aktionären schöne Gewinne. Je mehr Angst JL schürt, desto mehr Geld verdienen reiche Leute wie ich. So funktioniert das System, verstehst du?“
Mikihiko langweilt das alles. Er ist des Lebens überdrüssig. Er hält seinem Bruder ein Messer hin und fordert ihn auf, ihn zu töten. Aber statt dem Älteren die Kehle durchzuschneiden, verrät Fumihiro ihm, dass ein Detektiv Belastungsmaterial gegen den Konzern und das Clan-Oberhaupt gesammelt habe.
„Ehrlich gesagt, es gibt eine ganze Menge Kopien davon, und um Punkt eins wird jemand alle diese Dokumente der Polizei, der Staatsanwaltschaft, den Zeitungen und Fernsehsendern zukommen lassen, aber auch den ausländischen Unternehmen, die mit der Kuki-Gruppe konkurrieren, und den Aktionären aller Firmen, die in deinem Besitz sind. Dann wird die Polizei an deine Tür klopfen. Sie werden dich verhaften, und was auch immer du ihnen erzählst – es wird mich kaltlassen. Ich hoffe, du gerätst in die Mühlen des Gesetzes, dass die Medien und die Öffentlichkeit über dich herfallen, dass du in deiner eigenen wahnwitzigen Welt untergehst.“
Fumihiro hinterlässt eine Bombe, die er für Ryōsuke Itō aufbewahren sollte, und weist seinen Bruder darauf hin, dass der Zeitzünder auf eine halbe Stunde eingestellt sei. Dann geht er.
Bald darauf wird in den Nachrichten von der Explosion berichtet, bei der Mikihiko Kuki getötet wurde. Offenbar hatte er nicht versucht, dem Tod zu entgehen.
Von Azusa Konishi lässt Kōichi Shintani sich im Club „Je le répète“ Kaori vorstellen. Ihre Nähe raubt ihm den Verstand.
Reise
Nachdem er Ryōsuke Itō Geld gegeben hat, damit der Terrorist nach dem Auffliegen von zwei Mitverschwörern untertauchen kann, beschließt Fumihiro Kuki alias Kōichi Shintani, Japan für eine Weile zu verlassen.
Am Flughafen wartet Kommissar Aida auf ihn. Der ahnt inzwischen, wer er wirklich ist und dass er alle tötete, die Kaori Kuki schaden wollten, angefangen bei seinem Vater. Ohne Beweise kann er Fumihiro Kuki jedoch nicht festhalten.
Auf der Passagierbrücke wird Fumihiro von Kyōko Yoshioka überrascht. Das Flugticket bekam sie von dem Detektiv:
„Ein anderer komischer Typ in einem speckigen Anzug klingelte an meiner Tür, drückte mir ein Flugticket in die Hand und sagte, du würdest verreisen.“
Ein ebenso mächtiger wie bösartiger Vater, ein lieb- und mutterlos aufgewachsener Sohn, skrupellose Geschäftemacher und Kriegstreiber, orientierungslose Terroristen und einsame, unglückliche Frauen sind die Figuren in dem Roman „Die Maske“. Fuminori Nakamura mischt Elemente einer Familiengeschichte und eines Entwicklungsromans mit Versatzstücken eines Noir-Thrillers. Im Zentrum steht ein Mann, der sich ein anderes Gesicht – eine Maske – machen lässt, um einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit zu ziehen. Aber die Vergangenheit des Mannes, dessen Identität er nun angenommen hat, macht ihm ebenfalls zu schaffen. Und er entgeht auch seiner eigenen nicht.
Fuminori Nakamura beschäftigt sich in dem düsteren Roman „Die Maske“ mit der Frage, ob ein Mensch sich von den Zwängen befreien kann, die Tradition, Genom, Erziehung und persönliche Vergangenheit für ihn bedeuten. Es geht aber auch um Kritik an einer Gesellschaft, in der Kriegstreiberei für Unternehmen gewinnbringend ist. Der Kapitalismus ist in Fuminori Nakamuras Augen weitaus schlimmer als ein Mann, der zum Schutz einer Frau Menschen ermordet.
„Die Maske“ beginnt, als der Protagonist – der Ich-Erzähler Fumihiro Kuki – 11 bis 14 Jahre ist. Dann springt Fuminori Nakamura gut zehn Jahre weiter und setzt nach Fumihiro Kukis Gesichtsoperation wieder ein. Das Ende bleibt offen.
Einiges in „Die Maske“ wirkt konstruiert, aber die Lektüre lohnt sich wegen der Fragen, die Fuminori Nakamura aufwirft und die zum Nachdenken anregen.
2018 soll „Die Maske“ in Japan verfilmt werden.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Fuminori Nakamura: Der Revolver