Fuminori Nakamura : Der Revolver

Der Revolver
Jū, 2002 Der Revolver Übersetzung: Thomas Eggenberg Diogenes Verlag, Zürich 2019 ISBN 978-3-257-07061-3, 240 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der japanische Student Tōru Nishikawa fühlt das, was man in Frankreich Ennui nennen würde. Das ändert sich, als er einen Revolver findet. Die Waffe weckt seine Lebensgeister. Aber er gerät zugleich in eine unheimliche Abhängigkeit davon; das Faszinosum wird zu einer Obsession für ihn, und er glaubt, damit schießen zu müssen ...
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Kritik

Fuminori Nakamura erzählt die einfache, ausgefallene und atemraubende Geschichte chronologisch und ohne stilistischen Schnickschnack. "Der Revolver" fesselt vor allem durch eine dichte kafkaeske Atmosphäre. Das ist Literatur auf hohem Niveau.
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Der Fund

Der 21 Jahre alte Student Tōru Nishikawa lebt in einem Ein-Zimmer-Apartment in Tokio. Obwohl es in Strömen regnet, läuft er eines Abends ziellos, durchnässt und in trostloser Stimmung herum.

Mein Verhalten ist mir selber oft ein Rätsel.

Statt seinen Weg über die Brücke am Arakawa fortzusetzen, steigt er die Böschung hinunter – und stößt dort auf die Leiche eines Mannes, der sich augenscheinlich selbst in den Kopf geschossen hat. Der Revolver liegt neben seiner rechten Hand am Boden. Nishikawa hebt den Colt auf und nimmt ihn mit nach Hause. Warum er das tut, weiß er selbst nicht, denn er trägt sich trotz seiner Depression nicht mit Selbstmordgedanken und beabsichtigt auch nicht, jemanden zu töten.

Drei Tage vergingen, seit ich den Revolver an mich genommen hatte. In meinem Leben änderte sich nichts Bemerkenswertes, zumindest äußerlich nicht. Alles, was um mich herum geschah, empfand ich als so langweilig und eintönig wie zuvor. Und doch war ich guter Laune, denn die Veränderung vollzog sich in meinem Inneren.

Seit ich den Revolver an mich genommen hatte, war ich aktiver geworden.

Vielleicht ist es der Reiz des Außergewöhnlichen. Er bewundert die schöne Waffe, in deren Trommel noch vier Patronen stecken. Stundenlang poliert er den Stahl mit einem eigens für diesen Zweck gekauften schwarzen Tuch.

Das befriedigt ihn intensiver als beispielsweise der Koitus mit einer jungen Frau, der er bei einer Party begegnet ist und von der er nicht einmal den Namen kennt.

Erregender findet er allerdings eine Kommilitonin, die es ihm nicht übelnimmt, dass er sich nicht mehr an sie erinnert, obwohl er zu Beginn des Studiums mit ihr auf einer Party war. Sie heißt Yūko Yoshikawa. Nishikawa nimmt sich vor, Intimitäten mit ihr hinauszuzögern, aber Schritt für Schritt auf das Ziel zuzusteuern. Das findet er reizvoll.

Aber was, wenn wir im Bett landeten? Würde ich mir damit nicht mein eigentliches Vergnügen, das Aufschieben und Hinauszögern, vergällen? Sex mit ihr wollte ich schon, aber ich befürchtete, schon beim zweiten oder dritten Mal würde mir die Lust darauf vergehen. Weil es bisher meistens so gewesen war.

Nishikawa kauft einen Lederbeutel, um den Revolver mit in die Universität nehmen zu können.

Eines Tages würde ich den Revolver benutzen. Daran zweifelte ich keine Sekunde mehr. […] Es war keine Wahl mehr zwischen Schießen oder Nicht-Schießen, sondern etwas schicksalhaft Vorbestimmtes, worauf ich kaum noch Einfluss hatte.

Der Revolver war wie ein unzähmbares, eigenwilliges Wesen.

Endlich findet er in einer Zeitung einen Artikel über den Toten am Arakawa. Es handelt sich um Keiichirō Ogiwara, den 51-jährigen Manager eines Bordells, dem Verbindungen zur Yakuza nachgesagt werden. Weil bei der Leiche keine Tatwaffe gefunden wurde, sei nicht von einem Suizid, sondern von einem Mord auszugehen, heißt es.

Der Vater

Tōru Nishikawas Adoptivmutter ruft an und teilt ihm mit, dass sein leiblicher Vater sehr krank sei und wohl bald sterben werde.

Vor 15 Jahren sah er ihn zum letzten Mal. Da war er sechs. Die Mutter hatte die Familie verlassen, und der Vater war ein Trinker. Deshalb brachte das Jugendamt Tôru in ein Kinderheim, und von dort kam er zu Adoptiveltern.

Herr Yamane, der inzwischen zu einem Greis geschrumpfte frühere Direktor des Kinderheims, begleitet Tōru Nishikawa ins Krankenhaus.

„Der Arzt sagt, es gehe nicht mehr lange. Mit Leberkrebs und Metastasen bis in den Halsbereich … Dein Vater weiß, wie es um ihn steht. Er ist bei Bewusstsein, aber nur gerade eben so. Und offenbar sagt er immer wieder, dass er dich sehen möchte.“

Der Todkranke, der kaum noch die Kraft zum Flüstern aufbringt, fragt seinen Sohn mit leiser Stimme: „Vergibst … du mir?“ Tōru Nishikawa antwortet, dass ihn die alten Geschichten nicht mehr interessieren würden. Damit glaubt er seine Schuldigkeit getan zu haben.

Ich hatte getan, was ich tun musste, es gab keinen Grund, noch mehr Zeit zu verschwenden. Also sagte ich: „Ich bin übrigens nicht Tōru.“ Und: „Sie haben mich verwechselt, sorry.“ Dann ging ich aus dem Zimmer.

Die Katze

In einem Park stößt Nishikawa auf eine verletzte Katze in einer Blutlache, die sich im Todeskampf windet.

Ich zog den Revolver aus der Jackentasche, hatte aber nicht das Gefühl, als würde ich es aus eigenem Antrieb tun.

Ein Knall zerriss die Stille der Nacht, und im selben Moment sah ich, wie eine violette Flamme und Rauch aus der Mündung schossen. Die Wucht des Rückstoßes jagte durch meinen Arm, so heftig, dass ich taumelte. Das schwarze Bündel zerriss in bluttriefende Fetzen von Fleisch, kippte zur Seite. Die Kugel bohrte sich nicht einfach in den Körper der Katze; sie hatte sie von innen aufgerissen, wie bei einer Explosion.

Ohne nachzudenken, schießt Nishikawa noch einmal.

Der Polizist

Bald darauf klingelt ein Polizist bei ihm. Man habe Schüsse gehört und eine zerfetzte Katze gefunden, sagt er. Nishikawa wundert sich darüber, dass die Polizei wegen einer Katze ermittelt.

„Wissen Sie, wir ermitteln ja nicht wegen der Katze“, sagte der Mann und lachte plötzlich. „Wir ermitteln wegen der Kugel, die wir in ihrem Körper gefunden haben. Da liegt das Problem. Was für ein Kaliber! 357er Magnum, hat richtig Wucht. Außerdem ist dieses Kaliber in Japan kaum verbreitet. Weil der Täter nach wie vor im Besitz der Waffe sein muss, ist das eine ernsthafte Angelegenheit.“

Ein Mitarbeiter eines 24-Stunden-Shops habe Nishikawa zur wahrscheinlichen Tatzeit in der Nähe des Parks mit der rechten Hand in der Jackentasche rennen sehen.

„Sie haben vom Mord am Arakawa gehört, oder?“
„Was?“
„Von dem Mann, der am Fluss tot aufgefunden worden ist. […] Die Kugel im Kopf des Mannes und die, die wir im Körper der Katze gefunden haben, sind vom gleichen Kaliber.“

Der Polizist überredet Nishikawa, mit ihm in ein Café zu gehen. Dort fährt er fort:

„Wir haben im Körper der toten Katze keine Kugel gefunden. Ich wollte sehen, wie Sie reagieren, deswegen die Lüge. Aber es stimmt tatsächlich, dass man Schüsse gehört hat, dass die Katze grausam zerfetzt war, dass der Verkäufer Sie gesehen hat. Wir wissen aber nicht, ob die Katze durch eine Schusswaffe umgekommen ist, leider, denn sie ist vom Gesundheitsamt bereits verbrannt.“

Im Gegensatz zu seinen Kollegen geht der Polizist davon aus, dass es sich bei dem Toten am Arakawa um einen Selbstmörder gehandelt habe und die Waffe von einer zufällig vorbei gekommenen Person mitgenommen worden sei. Als Dieb verdächtigt er Nishikawa.

„Meine Überlegung war sofort: Wenn einer die Waffe hat mitgehen lassen, dann wird er sie erst mal an einem Tier ausprobieren, bevor –“
„Falls noch Patronen übrig sind – wahrscheinlich eine oder zwei? Damit werden Sie nicht mehr auf eine Katze schießen, sondern auf einen Menschen. Und in diesem Moment habe ich Sie. Aber wie gesagt, dann ist es zu spät. Ich muss vorher etwas tun.“

Nishikawa gibt nicht zu, dass er die Tatwaffe besitzt. Zum Abschluss des Gesprächs rät ihm der Polizist, sie zu beseitigen.

Der Mordplan

Ich versuchte gar nicht erst, den Gedanken, auf einen Menschen zu schießen, abzuschütteln. Dass es passieren würde, und zwar bald, schien mir unumstößlich.

In der Nachbarwohnung lebt eine Frau Ende 20 mit ihrem Sohn im Kindergartenalter. Offenbar keift sie nicht nur mit dem Kind, sondern schlägt es auch. Tagsüber hält sie sich im Apartment auf, nachts arbeitet sie in einer Art Snack-Bar. Wenn sie ab und zu mit einem Mann nach Hause kommt, schickt sie den Sohn hinaus. Nishikawa beobachtet, dass sie in einem Supermarkt an der Grenze zur Präfektur Saitama einkauft. Auf dem Weg kommt sie an einem eingerüsteten abbruchreifen Restaurant vorbei. Dort versteckt er sich hinter Planen und wartet, bis sie die Straße auf einem Zebrastreifen davor überquert. Als sie sich nähert, verspürt er einen stechenden Schmerz und fängt zu zittern an.

In wenigen Sekunden wird diese Frau sterben, dachte ich. Ich konzentrierte mich auf den Revolver und spannte den Hahn. Das metallische Klicken widerhallte in meinem Kopf, kalt und messerscharf. Um mein Zittern in den Griff zu kriegen, packte ich mit der linken Hand das Gelenk der rechten Hand, die den Revolver hielt, doch nun begann die linke Hand ebenfalls zu zittern.

Die Frau bleibt keine zwei Meter von seinem Versteck entfernt stehen, aber er bringt es nicht fertig, zu schießen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Nishikawa schreibt fleißig Seminararbeiten und nimmt sich vor, den Revolver ins Wasser zu werfen. Eine der beiden Patronen nimmt er allerdings heraus und steckt sie in die Hosentasche, denn er möchte sie als eine Art Glücksbringer behalten. Dann steigt er in den Zug, um zu dem Ort zu fahren, wo er die Waffe beseitigen will.

Der Waggon füllt sich. Neben ihn setzt sich ein verwahrloster Mann, dessen Alter er auf 50 oder 60 schätzt. Der lässt ihm kaum Platz und fängt dann auch noch laut zu telefonieren kann.

Er lachte wiehernd, als wäre er alleine im Zug. Es war kaum auszuhalten.

Nishikawa reißt dem Kerl das Telefon aus der Hand und schleudert es fort. Als der Mann ihn nach der ersten Verblüffung auffordert, das Handy aufzuheben, schiebt er ihm den Lauf des Revolvers in den Mund – und drückt ab. Die anderen Fahrgäste kreischen und drängen sich in den Durchgang zum nächsten Waggon.

Erst jetzt begriff ich, dass ich den Revolver abgefeuert hatte. „Das kann nicht sein“, murmelte ich.

Ich sah keinen anderen Weg, als mir selbst in den Kopf zu schießen.

Er tastet nach der Patrone in seiner Jeans, aber er zittert so, dass es ihm zunächst nicht gelingt, sie in die Trommel zu schieben.

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Der japanische Student Tōru Nishikawa fühlt das, was man in Frankreich Ennui nennen würde: Langeweile und Interesselosigkeit, Ziellosigkeit, Depression und Lebensüberdruss. Das ändert sich, als er einen Revolver findet. Die Waffe gefällt ihm und weckt seine Lebensgeister. Aber er gerät zugleich in eine unheimliche Abhängigkeit davon; das Faszinosum wird zu einer Obsession für ihn, und er glaubt, damit schießen zu müssen.

In seinem Roman „Der Revolver“ erzählt Fuminori Nakamura die einfache, ausgefallene und atemraubende Geschichte chronologisch und ohne stilistischen Schnickschnack. Die bildhafte Inszenierung wirkt verblüffend realistisch. „Der Revolver“ fesselt vor allem durch eine dichte kafkaeske Atmosphäre. Das ist Literatur auf hohem Niveau.

Fuminori Nakamura wurde am 2. September 1977 in Tōkai auf der japanischen Chita-Halbinsel.geboren. 2000 schloss er sein Verwaltungs-Studium an der Universität Fukushima ab. 2002 debütierte er mit dem Roman „Der Revolver“, der zunächst in einer Literaturzeitschrift erschien und im Jahr darauf als Buch. Dafür wurde Fuminori Nakamura mit dem Shinchō-Nachwuchspreis ausgezeichnet.

Der Diogenes Verlag brachte 2015, 2018 bzw. 2019 drei Romane von Fuminori Nakamura in von Thomas Eggenberg übersetzten Ausgaben heraus: „Der Dieb“, „Die Maske“ und „Der Revolver“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Fuminori Nakamura: Die Maske

Christine Brückner - Wenn du geredet hättest, Desdemona
Die "ungehaltenen Reden" sind zwar fiktiv, aber inhaltlich und sprachlich einfühlsam zugeordnet. "Wenn du geredet hättest, Desdemona" ist ein gelungenes Beispiel ebenso engagierter wie kunstvoller Literatur. Christine Brückner beleuchtet auf diese Weise das Verhältnis von Mann und Frau in der Geschichte zwischen Antike und heutiger Zeit.
Wenn du geredet hättest, Desdemona

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.