Sebastian Orlac : Verteidigung der Himmelsburg
Inhaltsangabe
Kritik
Emma heißt eigentlich Marie-Antoinette Huber; auf den Namen Emma kam ein Freund: es steht für MA, die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen. Weil ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, als sie drei Jahre alt war, wuchs sie bei ihrer Großmutter auf. Nach deren Tod ging sie vorübergehend nach New York. Inzwischen arbeitet sie als Synchronsprecherin beispielsweise für Jodie Foster. Jeden Donnerstag trifft sie sich mit den anderen Mitgliedern einer Selbsterfahrungsgruppe und beteiligt sich an den Rollenspielen, in denen traumatische Beziehungen aus therapeutischen Gründen nachgestellt werden. Einmal ließ Emma sich von einer Frau Milzahn für 50 Euro die Karten legen. Die Wahrsagerin murmelte dabei:
„Herzkönig, Karodame, das Paar. Er verteidigt die Himmelsburg. Sie verwehrt die Entscheidung. Seltsam. Eine Nachricht: ein Kind kommt. Wolken ziehen. Nein. Wolken kommen und gehen. Der Tod. Ein Kind kommt, ein Kind geht.“ (Seite 86f)
Bei der Aufnahmeprüfung einer Schauspielschule lernten Emma und Fionna Schubert sich kennen. Emma fiel durch, Fionna wurde genommen, aber sie wurden Freundinnen. Als ein Herr Nebel Fionna geschwängert hatte und sie mit ihrer Tochter Julia niederkam, war Emma gerade in New York, aber danach wohnten die beiden Frauen zusammen, und Emma wurde für Julia so etwas wie eine zweite Mutter. Fionna fand in Markus Fitting einen neuen Partner, und er zog zu ihr. Emma versuchte mit allen Mitteln, ihn hinauszuekeln, aber dann erbte Markus das Haus seiner verstorbenen Großmutter und beschloss, sich dort mit Fionna und Julia einzurichten. Übergangsweise durfte auch Emma mitkommen.
Markus studierte Jura, als er einen früheren Bekannten wiedertraf. Sören stammte aus Ungarn. Früher hatte er sein Geld mit Devisenhandel auf dem Schwarzmarkt gemacht. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verhökerte er Andenken, beispielsweise eine Lenin-Statue aus Gusseisen. Nach einem Aufenthalt in Japan gründete er seine eigene Firma: Toytrans. Markus ließ sich von ihm überreden, sein Studium abzubrechen und Teilhaber des Unternehmens zu werden. Er ahnte nicht, dass Sören es nur gegründet hatte, um es mit Gewinn an einen internationalen Konzern veräußern zu können. Kurz bevor die Zahlung von Arbeitslosengeld für Markus auslief, bot Sören ihm an, eine Niederlassung des Düsseldorfer Kunststoffherstellers CDF in Irland zu übernehmen. Erst eine Woche nach seiner Ankunft fand Markus heraus, dass es sich bei dem Büro in der irischen Freihandelszone Greanmhar lediglich um eine Briefkastenadresse handelte, die man eingerichtet hatte, um Steuern zu sparen.
Eine ganze Nacht lang versucht Markus vergeblich, seine Frau anzurufen.
Am nächsten Morgen wacht Fionna verkatert im Bett eines Fremden auf und kann sich nur noch daran erinnern, dass sie am Abend zur Einweihungsparty ins „Isenstein“ ging, aber sie weiß nicht, wie sie hierher kam und ob sie mit dem Mann Sex hatte oder nicht. „Paul Handschuh“, stellt er sich vor. Fionna will nur noch weg. Im Taxi wird ihr übel und sie muss sich übergeben.
Fionna erhielt kürzlich einen Filmpreis. Hans-Gottlieb („Hagott“) Schubert, ihr geschiedener Vater, machte wegen seiner Alkoholkrankheit bereits zweimal eine Entziehungskur, wurde aber jedes Mal rückfällig . Jetzt lebt er mit einer Frau Mitte zwanzig zusammen, die ihm Halt zu geben scheint: Marietta. Aber Fionna fällt es schwer, sich daran zu gewöhnen, dass die Geliebte ihres Vaters jünger ist als sie.
Argwöhnisch hört Markus die Nachrichten auf Fionnas Anrufbeantworter per Fernabfrage ab. Das ist möglich, weil er ihr Passwort kennt. Auf diese Weise hört er, wie Hagott von einem jungen sympathischen Mann spricht, den er offenbar kürzlich mit Fionna zusammen traf. Wird Markus von seiner Frau betrogen?
Nach drei Monaten hält Markus es in Irland nicht mehr aus, denn es gibt dort nichts für ihn zu tun. Fionna holt ihn vom Flughafen ab. Aufgrund ihrer Andeutungen befürchtete er, sie sei krank, aber stattdessen eröffnet sie ihm, dass sie in der achten Woche schwanger ist. Markus war hin und wieder übers Wochenende bei ihr, aber an keine der Liebesnächte kann er sich im Einzelnen erinnern. Ist das Kind von einem anderen? Von diesem Paul, den ihr Vater erwähnte? Wurde es in der Nacht gezeugt, als sie nicht zu Hause war? Fionna erzählt ihm, sie sei damals betrunken gewesen und Paul habe auf sie aufgepasst, aber der Vater des Kindes könne er schon rein rechnerisch nicht sein.
Fionna und Markus feiern die Schwangerschaft im „Isenstein“ mit Emma, Hagott und seiner geschiedenen Frau Sibylle sowie Markus‘ Eltern Detlef und Regine. Zufällig ist an diesem Abend auch Paul mit seinen Freunden Josh und Ludger im „Isenstein“ verabredet. So lernt er Fionnas Freundin Emma kennen – und verliebt sich in Jodie Fosters Synchronstimme.
Während ihrer Schwangerschaft soll Fionna die Rolle der Hedda Gabler spielen. Bei den Proben mäkelt die Regisseurin Tina herum, und in einer Pause hört Fionna zufällig, wie sie mit dem Intendanten flüstert und dieser sagt: „Mag sein, aber die Fernsehmaus zieht Publikum.“
Paul hat den Auftrag erhalten, Moskottchen für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf anzufertigen. Ursprünglich sollten es sechzehn Figuren werden, aber zuletzt versprach er nur noch zwei und jetzt, einen Tag vor dem Wahlkampfauftakt in Gifhorn, weiß Paul nicht einmal, wie er eine einzige Figur schaffen soll. Zum Glück wird die Veranstaltung um eine Woche verschoben.
Emma geht ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er ruft Fionna an, erfährt, dass Emma bei ihr wohnt, aber gerade eine eigene Wohnung gemietet hat und hilft beim Umzug. Bald schlafen Paul und Emma miteinander.
Einige Zeit später verbringen Emma und Paul sowie Markus und Fionna mit Julia und deren kleinem Bruder Rio einige Wochen auf dem Weingut in Italien, das Markus‘ Vater gehört. Detlef und Regine halten es nur wenige Tage mit den Besuchern aus, dann fahren sie nach Deutschland, angeblich, weil Detlef an einem Klassentreffen teilnehmen will.
Als Julia vorschlägt, Versteck zu spielen, machen alle mit. Während Emma, Paul, Markus und Fionna sich möglichst gute Verstecke suchen, zieht Julia ihren gepackten Rucksack unter dem Bett hervor, küsst das Baby zum Abschied und geht fort.
Die Eltern geben bei der Polizei eine Vermisstenmeldung auf. Emma setzt sich in den Kleinbus, mit dem sie gekommen sind und fährt los, um Julia zu suchen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Um diese Zeit ist noch kaum Verkehr. Über eine Serpentinenstraße gelangt Emma ins Tal […] Ein Kind kommt, ein Kind geht. Immer wieder der Satz […] Plötzlich ist vor ihr ein Militärfahrzeug. Die Abdeckplane flattert. Emma sieht für einen kurzen Augenblick das schwere Gerät. Sie beschleunigt und überholt. Vor der Auffahrt zur Bundesstraße verengen Absperrungen die Fahrbahn. Eine Baustelle? Ein Unfall? […] Am Seitenstreifen leuchten plötzlich zwei rote Augen auf und ziehen an ihr vorbei. Es ist Tamtam, der Hamster auf ihrem Rucksack. Der Laster hinter Emma drängelt. Sie kann nicht halten. Im Rückspiegel sieht sie Julias Gesicht. Einen Moment nur. Wie sie der Morgensonne entgegenblinzelt. Und lächelt. Bis sie kleiner wird und verschwindet. (Seite 213f)
Der Roman „Verteidigung der Himmelsburg“ von Sebastian Orlac handelt von zwei Frauen und zwei Männern, die in Lebens-, Schaffens- und Vertrauenskrisen geraten sind. Was ist echt an ihnen, was selbst inszeniert und was fremdbestimmt? Authentisch ist nur eine Nebenfigur, die am Ende ihren eigenen Weg geht: Julia.
Sebastian Orlac erzählt ruhig und unspektakulär. Die Szenen folgen assoziativ aufeinander, und die Übergänge wirken wie Schnitte in einem Film. „Verteidigung der Himmelsburg“ ist ein sehr poetischer Roman.
Sebastian Orlac wurde 1970 in Bochum geboren, wuchs jedoch in München auf und lebt inzwischen in Berlin. Seit 2001 schreibt er Theaterstücke und Drehbücher. „Verteidigung der Himmelsburg“ ist sein Debütroman.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger