Jung & Schön

Jung & Schön

Jung & Schön

Jung & Schön – Originaltitel: Jeune & Jolie – Regie: François Ozon – Drehbuch: François Ozon – Kamera: Pascal Marti – Schnitt: Laure Gardette – Musik: Philippe Rombi – Darsteller: Marine Vacth, Charlotte Rampling, Frédéric Pierrot, Géraldine Pailhas, Nathalie Richard, Akéla Sari, Fantin Ravat, Lucas Prisor, Johan Leysen u.a. – 2013; 90 Minuten

Inhaltsangabe

Isabelle ist die Tochter einer gutbürgerlichen Pariser Familie. Am Tag vor ihrem 17. Ge­burtstag lässt sie sich von einem deutschen Touristen deflorieren. Nach dem ent­täuschenden Erlebnis beginnt sie sich heimlich nach der Schule zu prostituieren, obwohl sie das Geld nicht benötigt. Ihre ahnungslose Mutter Sylvie erfährt davon erst, als sie von der Polizei kontaktiert wird, weil einer der Freier ihrer Tochter während des Geschlechtsverkehrs im Hotel einem Herzanfall erlag. Über Isabelles Motive kann Sylvie nur rätseln ...
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Kritik

François Ozon porträtiert eine 17-Jährige, die sich ohne Not prosti­tuiert. Das hat mit der Erforschung der Sexualität, Selbsterfahrung und dem Versuch der Selbstfindung zu tun. "Jung & Schön" ist ein leiser Film über das Erwachsenwerden.
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Sommer

Isabelle (Marine Vacth) verbringt die Ferien mit ihrer Mutter Sylvie (Géraldine Pailhas), ihrem Stiefvater Patrick (Frédéric Pierrot) und ihrem jüngeren Bruder Victor (Fantin Ravat) am Meer. Ihre Mutter und ihr biologischer Vater trennten sich vor sieben Jahren. Er ist wieder verheiratet und schickt seiner Tochter jeweils zum Geburtstag und an Weihnachten 500 Euro. Sonst hört Isabelle kaum etwas von ihm.

In diesem Sommer lernt Isabelle den jungen Touristen Felix (Lucas Prisor) aus Deutschland kennen. Am Abend vor ihrem 17. Geburtstag schleicht sie sich aus dem Ferienhaus, um ihn zu treffen und sich von ihm am Strand deflorieren zu lassen. Dabei liegt sie apathisch unter ihm und glaubt sich selbst zuzusehen.

Die große Liebe ist Felix ohnehin nicht, und nach dem desillusionierenden Erlebnis hat Isabelle auch keine Lust, ihn wiederzusehen.

Kurz darauf kehrt die Familie nach Paris zurück.

Herbst

In Paris werden Isabelle und ihre Schulfreundin Claire (Jeanne Ruff) von einem Mann angesprochen, der bereit ist, für Sex zu bezahlen. Ohne Claire oder jemand anderem etwas davon zu erzählen, ruft Isabelle ihn nach einer Woche an und verabredet sich mit ihm in einem Hotelzimmer.

Beim Sex empfindet sie zwar keine Lust, aber wenn sie danach allein ist und sich daran erinnert, erwacht in ihr der Wunsch, es mit einem anderen Mann erneut auszuprobieren. Sie bietet ihre Dienste im Internet an und verabredet sich übers Handy mit Freiern. Dabei nennt sie sich Léa und gibt vor, eine 20-jährige Literaturstudentin an der Sorbonne zu sein. Zu Hause lügt Isabelle, sie treffe sich mit Mitschülerinnen, um gemeinsam mit ihnen zu lernen. Auf dem Weg zum Hotel vertauscht sie Turnschuhe, Jeans und Pullover gegen eine der Mutter gestohlene Bluse, einen eleganten Rock und High Heels. Bei ihren ersten Dates ist sie schüchtern und unsicher. Einer der Freier weigert sich am Ende, die volle vereinbarte Summe zu bezahlen. Von da an verlangt sie nicht nur 500 statt 300 Euro, sondern besteht auch auf Vorauskasse.

Georges (Johan Leysen), der ihr Großvater sein könnte, findet Gefallen an ihr. Weil sie jedoch nur während der Woche und auch nur nachmittags zur Verfügung steht, bleibt es erst einmal bei der einen Verabredung.

Sylvie sorgt sich, dass Isabelle zu viel lerne und rät ihr ahnungslos, zwischendurch mal auszuspannen. Isabelle hält ihre Mutter ohnehin auf Distanz. Nahe kommt ihr nur der jüngere Bruder. Mit ihm hat sie bisher viele Geheimnisse geteilt, aber dass sie sich prostituiert, verheimlicht sie auch ihm. Victor beobachtete seine Schwester zwar in den Ferien mit einem Feldstecher, als sie am Strand ihr Bikini-Oberteil ablegte, und er sah ihr auch durch einen Türspalt beim Masturbieren zu, aber es entgeht ihm, dass sie gegen Geld mit Männern schläft.

Als die Eltern mit ihr und dem befreundeten Paar Véro und Peter (Nathalie Richard, Djedje Apali) ins Theater gehen, sieht Isabelle dort zufällig Georges wieder. Er ist in Begleitung seiner Tochter (Caroline Breton). Gegen Ende der Pause fällt Isabelle auf, dass ihre Mutter mit Peter in der Nähe der Toiletten steht, während Véro und Patrick bereits wieder Platz genommen haben.

Kurz nach dem Theaterabend verabreden sich Isabelle und Georges erneut im Hotel, und von da an treffen sie sich regelmäßig – bis Georges beim Geschlechtsverkehr mit einem Herzinfarkt zusammenbricht und Isabelle erschrocken davonläuft.

Nach diesem Schock nimmt sie die SIM-Karte aus ihrem zweiten, für die Anrufe der Freier benutzten Handy und hört auf, sich zu prostituieren.

Winter

Sylvie wird in dem Krankenhaus, in dem sie als Ärztin arbeitet, von zwei Polizisten (Carole Franck, Olivier Desautel) aufgesucht. Ihre Tochter habe sich unter dem Namen Léa prostituiert, sagen die Beamten, und einer ihrer Freier sei in ihrem Beisein gestorben. Das mag Sylvie zunächst nicht glauben, aber dann begreift sie, dass keine Verwechslung vorliegt. Der Polizei geht es darum, die Umstände des Todesfalls zu klären und zu überprüfen, ob Isabelle Opfer zum Beispiel eines Zuhälters geworden ist. Zu diesem Zweck muss sie sich einer Vernehmung stellen.

Über die Motive, die sie dazu brachten, sich zu prostituieren, schweigt Isabelle. Sie will auch nicht mit einem Psychologen (Serge Hefez) sprechen, aber als ihre Mutter mit einer Einlieferung in die Psychiatrie droht, fügt sie sich.

Während Patrick gelassen bleibt, grübelt Sylvie darüber nach, was sie in der Erziehung ihrer Tochter falsch gemacht haben könnte. Immer wieder gerät sie mit ihr in Streit. Dabei fragt Isabelle sie einmal provozierend, ob sie Patrick mit Peter betrogen habe.

Von Isabelles Doppelleben wissen nur die Eltern, der Bruder Victor und die Haushälterin Mouna (Akéla Sari).

Nicht einmal ihrer besten Freundin Claire sagt Isabelle etwas. Als diese ihr von dem enttäuschenden Erlebnis ihrer herbeigesehnten Defloration berichtet, zeigt Isabelle Verständnis, aber Claire, die sie für sexuell unerfahren hält, meint, sie könne das noch nicht nachempfinden.

Auf einer Party küssen sich Isabelle und ihr Mitschüler Alex (Laurent Delbecque).

Frühling

Alex wird von Sylvie, Patrick und Victor als fester Freund Isabelles akzeptiert. Er darf auch im Haus übernachten und mit Isabelle schlafen. Beim ersten Mal stellt er sich ungeschickt an, aber Isabelle zeigt ihm, wie es geht. Bald darauf erklärt sie ihm unvermittelt, sie liebe ihn nicht und beende deshalb die Beziehung mit ihm.

Als sie ihre zweite SIM-Karte wieder einlegt, wird eine ganze Flut von SMS geladen.

Ohne sich umzuziehen – also in Parker, Jeans und mit Turnschuhen – geht sie in das Hotel, in dem sie sich mit Georges zu treffen pflegte und wartet in der Halle auf jemand. Es ist kein Mann, sondern eine ältere Dame: Georges‘ Witwe Alice (Charlotte Rampling). Sie habe von den Seitensprüngen ihres Mannes gewusst, sagt sie, und sogar das Hotelzimmer 6095 jeweils für ihn reservieren lassen. Außerdem gesteht Alice, dass sie es selbst reizvoll gefunden hätte, sich zu prostituieren, aber nie den Mut dazu aufgebracht habe. Wie ein Freier bezahlt sie Isabelle dafür, mit ihr gemeinsam in das Zimmer 6095 zu gehen und sich dort aufs Bett zu legen. Alice streichelt das Gesicht des jungen Mädchens, bis es einschläft.

Als Isabelle aufwacht, ist sie allein im Zimmer.

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„Jung & Schön“ handelt von einer 17-Jährigen, die sich heimlich prostituiert. François Ozon beobachtet es, aber es geht ihm weder um eine moralische Beurteilung noch um eine Erforschung der Gründe. Dadurch zwingt er den Zuschauer, über Isabelles Motive nachzudenken. Sie bleiben allerdings geheimnisvoll, wie die von Sévérine Serizy in „Belle de Jour“. Isabelle benötigt das Geld ebenso wenig wie Sévérine. Sexsucht treibt Isabelle offenbar auch nicht an, und sie ist auch keine jugendliche Rebellin, die gegen ihre großbürgerlichen Eltern aufbegehrt. Lässt sich die Prostitution einer Heranwachsenden als Autoaggression (wie Ritzen und Magersucht) verstehen? Oder genießt Isabelle die Macht, die ihr der gerade erst aufgeblühte schöne Körper über Männer verleiht? Bei der Defloration glaubt Isabelle, neben sich zu stehen, und als Prostituierte benutzt sie nicht nur einen anderen Namen, sondern zieht sich auch um, bevor sie die Freier aufsucht. Weist François Ozon damit auf einen Riss in der Persönlichkeit hin? Dass Isabelles biologischer Vater zweimal im Jahr 500 Euro schickt und ansonsten nichts von sich hören lässt, könnte darauf hindeuten, dass der Sex mit Männern gegen Bezahlung mit ihm oder seinem Fehlen zusammenhängt.

Jedenfalls hat Isabelles Verhalten etwas mit der Erforschung der Sexualität, Selbsterfahrung und dem Versuch der Selbstfindung zu tun. „Jung & Schön“ ist ein Film über das Erwachsenwerden (Coming of Age). Als Protagonistin hat François Ozon weder ein Missbrauchsopfer noch eine tobende Rebellin im Drogenrausch gewählt, sondern eine in sich gekehrte, unsichere junge Frau, die von Marine Vacth überzeugend und facettenreich verkörpert wird.

„Jung & Schön“ ist in vier Kapitel unterteilt, die Isabelles Entwicklungsstufen entsprechen: Sommer, Herbst, Winter, Frühling. Am Ende der Kapitel sind Lieder von Françoise Hardy zu hören, und die Texte wirken wie Kommentare.

Einige entscheidende Details über zurückliegende Ereignisse erfahren wir, als Isabelle von der Polizei vernommen wird. Ansonsten entwickelt François Ozon die Geschichte chronologisch und linear. Die Inszenierung ist unaufgeregt, unspektakulär und kommt ohne Effekthascherei aus. Trotz des ernsten Themas und obwohl François Ozon auch alles andere als oberflächlich damit umgeht, handelt es sich bei „Jung & Schön“ um einen mit scheinbar leichter Hand inszenierten Film. Ihn anzuschauen, ist nicht anstrengend, aber die offenen Fragen schwingen lange nach.

„Jung & Schön“ wurde 2013 für eine „Goldene Palme“ nominiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015

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"Statt etwas oder Der letzte Rank" von Martin Walser ist "Gedankenlyrik in Prosa" (Jens Jessen), nicht nur wegen des fehlenden Plots, sondern v. a. wegen der geschliffenen Sprache und den von der Musik inspirierten Leitmotiven, Wieder­holun­gen und Variationen.
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