Judith Perrignon : Kümmernisse
Inhaltsangabe
Kritik
Der Überfall
Die zweiundzwanzigjährige Helena Danec aus Saint-Michel-sur-Orge südwestlich von Paris und ein gleichaltriger Jazz-Musiker lernen sich in einer Bar in Paris kennen, wo er Saxofon spielt. Er war sieben Jahr alt, als sein Vater, ein Arbeiter, ins Säurebecken einer Fabrik stürzte und starb. Fünfzehn Jahre später verließ er seine Mutter, die nicht über den Tod ihres Mannes hinweggekommen ist. John Coltrane ist sein großes Vorbild.
Ein paar Wochen lang sind Helena und der Musiker ein Paar. Doch er will sich nicht dauerhaft binden und beschließt im Frühsommer 1967, sowohl die Geliebte als auch Frankreich zu verlassen. Um sich das Geld für die geplante Reise zu beschaffen, bereitet er einen Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft in Paris vor.
Helena bleiben seine Pläne nicht verborgen. In der Nähe des Juwelierladens passt sie ihn ab. Er schickt sie weg, es kommt zum Streit, aber er will vermeiden, dass sie auffallen. Helena nimmt ihm die Pistole aus der Tasche, zieht sich die Kapuze über den Kopf, den Seidenschal vors Gesicht und stürmt ins Geschäft. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich ebenfalls zu vermummen und ihr zu folgen. Mit vorgehaltener Waffe fordert Helena das schon etwas ältere Inhaber-Ehepaar auf, zwei Beutel mit Uhren und Schmuck zu füllen. Der Besitzer, der merkt, wie unsicher Helena ist, redet auf sie ein und nähert sich ihr, bis Helenas Komplize die Nerven verliert und ihm einen Faustschlag versetzt. Der Mann schlägt mit dem Kopf gegen die Kante des Ladentischs, bricht zusammen und bleibt bewusstlos liegen. Panisch vor Angst und Aufregung warten Helena und ihr Komplize nicht ab, bis alles zusammengerafft ist, sondern packen die Beutel und rennen davon. Weil sie davon ausgehen müssen, dass die Polizei nach der Zeugenaussage der Ladenbesitzerin ein Paar zur Fahndung ausschreiben wird, trennen sie sich, und Helena überlässt ihrem Geliebten die Beute.
Am 27. Juni 1967 wird sie in Paris auf dem Weg zum Zug nach Nantes verhaftet. Am nächsten Tag benachrichtigt man ihre Mutter Émiliana („Mila“) Danec in Saint-Michel-sur-Orge über die Festnahme.
Mila
Als junge Frau verdiente Mila ihr Geld als Animierdame in einem Nachtlokal. Ihr Vater beschimpfte sie deshalb als Nutte. Nach einem One-Night-Stand mit einem Pianisten wurde sie ungewollt schwanger.
Dieser bestimmte Abend, mit ihm, das war vielleicht nicht Liebe, aber es war auch nicht nur ein Augenblick der Unachtsamkeit, es war Hoffnung.
Sie ging zu einer Engelmacherin, kehrte jedoch vor der Türe um, ohne zu klingeln. Sie brachte Helena zur Welt, und weil sie das Kind von Anfang an liebte, beendete sie ihre unsolide Tätigkeit im Nachtklub. Fortan arbeitete sie als Verkäuferin oder Sekretärin, und sie heiratete einen Mann namens Maurice, der gut mit dem Kind umgehen konnte. Aber die Ehe scheiterte an ihrem Freiheitsdrang.
In einem Brief vom 28. Juni 1967 berichtet Mila ihrer Tochter von einer polizeilichen Hausdurchsuchung. Die Beamten hatten es auf Fotos und anderes Material abgesehen, von dem sie sich Hinweise für die Fahndung nach Helenas Komplizen versprachen. Mila, die nur weiß, dass es sich um einen Musiker handelt, drängt Helena, den Namen des Mannes anzugeben, weil sie dann mit einer Strafmilderung rechnen könnte. Helena verrät jedoch nichts und wird Anfang Oktober zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Niemand merkt, dass sie schwanger ist. Am 16. November 1967 kriegt sie im Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette ein Kind.
Drei Tage später holt Mila das Neugeborene und gibt ihm den Namen Angèle. Sie zieht ihre Enkelin liebevoll auf, und wenn sie zum Einkaufen geht, vertraut sie Angèle einer zuverlässigen Nachbarin an.
Mila beklagt sich darüber, dass Helena ihre Briefe nicht beantwortet. Erst im Juni 1968 schreibt Helena, und es geschieht nur ein einziges Mal. Empört zerreist Mila das Blatt, denn Helena behauptet, ihr Leben habe nichts mit dem ihrer Mutter zu tun und Vertrautheit habe es schon lang keine mehr zwischen ihnen gegeben.
Im Dezember 1968 kündigt Mila an, sie werde Helena in der Haftanstalt besuchen und das ein Jahr alte Kind mitbringen. Der Besuch findet am 2. Februar 1969 statt. Danach äußert Mila sich in einem weiteren Brief entsetzt darüber, wie kaltherzig und uninteressiert Helena mit ihrer Tochter umging.
Angèle
Milas letzter Brief an Helena ist vom 18. Februar 1972. Kurz danach wird die Siebenundzwanzigjährige freigelassen. Die fünf Jahre alte Angèle öffnet, als ihre Mutter in der Türe steht. Helena mietet eine eigene Wohnung in Saint-Michel-sur-Orge und holt ihre Tochter zu sich.
Das Gefängnis La Petite Roquette wird im März 1973 abgerissen, um Platz für Neubauten zu schaffen.
[…] entsteht ein Komplex von 72 Mietwohneinheiten im sozialen Wohnungsbau, 30 Mietwohneinheiten für junge Arbeiter, 30 Mietwohneinheiten für Senioren, 80 Mietwohneinheiten für junge Familien, eine Vorschule, eine Kinderkrippe, ein Seniorenclub, eine Mehrzweckhalle, ein öffentlicher Park, zwei Sportplätze.
Im Jahr darauf schneidet Helena ihrer schlafenden Tochter den Zopf und das lange Haar ab. Als das Kind aufwacht, sagt sie: „Jetzt bist du gewarnt.“ Aber Angèle weiß nicht, was ihre Mutter damit meint. Mila kommt vorbei und gerät außer sich, als sie das abgeschnittene Haar ihrer Enkelin erblickt. Sie beschimpft Helena als Hexe und Monster. Nun könne sie verstehen, warum der Musiker sie sitzenließ, sagt sie. Helena entgegnet ihr böse: „Und dich, wer hat dich geliebt?“
Mit fünfzehn lässt Angèle sich den ersten von mehreren Engeln tätowieren. Helena, die inzwischen in der Telefonzentrale eines Unternehmens arbeitet, merkt nichts davon.
Angèles geliebte Großmutter Mila stirbt 1987.
2007 findet eine Putzhilfe Helenas Leiche in der Wohnung. Sie starb völlig überraschend im Alter von zweiundsechzig Jahren an einem Aneurysma.
Angèle, die inzwischen in einem eigenen Geschäft in Paris und auf dem Flohmarkt von Saint-Quen altes Spielzeug verkauft, hatte in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen. In der Hinterlassenschaft der Toten findet sie einen undatierten, mit „Tom“ unterschrieben Brief, der offenbar von ihrem Komplizen bei dem Raubüberfall im Juni 1967 stammt. Er kündigte Helena an, dass er Frankreich verlassen und anderswo einen Neuanfang versuchen werde. Sie solle nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis nicht nach ihm suchen.
Liebe ist oft nicht mehr als ein schöner Unfall. Die unsere forderte ein Opfer, dich.
Außerdem stößt Angèle auf einen Zeitungsbericht vom Oktober 1967 über den Prozess gegen Helena. Der Text ist mit einem Foto der Angeklagten und einer Bleistiftzeichnung ihres Komplizen illustriert. Unter dem mutmaßlichen Phantombild schrieb Helena „Thomas Guitti“.
Victor Valbon
In der Hoffnung, mehr über ihre Mutter erfahren zu können, wendet Angèle sich am Tag nach der Beisetzung an den Autor des Artikels, den früheren Journalisten Victor Valbon in Paris. Der Sechsundsiebzigjährige erklärt sich sofort bereit, sie zu empfangen. Erst im Verlauf des Gesprächs begreift Angèle den Grund seines besonderen Interesses.
Victor Valbon ist einsam. Seine Frau Madeleine starb vor zwei Jahren an Brustkrebs, und sein Sohn Antonin lebt in Kanada. Er ist fast erblindet. Die Zeitung, für die er schrieb, gibt es nicht mehr.
Anfang 1968 gab jemand bei der Concièrge einen großen Umschlag für ihn ab. Darin fand Valbon den Zeitungsartikel, den er als Gerichtsreporter über den Prozess gegen Helena Danec geschrieben hatte, den mit „Tom“ unterzeichneten Brief und einige Schmuckstücke. Valbon war klar, dass er Teile der Beute aus dem Raub im Juni 1967 vor sich hatte. Aber statt zur Polizei zu gehen, versteckte er den Umschlag samt Inhalt in seinem Schreibtisch.
Im April 1974 spürte er Helena in Saint-Michel-sur-Orge auf. Er verabredete sich telefonisch in Paris mit ihr und übergab ihr den Umschlag. Helena behielt zwar den Brief und den Zeitungsartikel, weigerte sich jedoch, die Juwelen mitzunehmen. Obwohl er sich damit weiter strafbar machte, verhökerte Valbon den Schmuck nach und nach. Helena wies auch das Geld ab, das er dafür bekam. Aber sie erwähnte, dass sie Angèle gern in ein Internat geschickt hätte. Daraufhin wählte Valbon ein geeignetes aus und kam sechs Jahre lang für die Kosten auf.
Valbon drängt Angèle, nach ihrem Vater zu suchen. Weil zu vermuten ist, dass ein Jazzmusiker in New York leben könnte, gibt Valbon mit Angèles Einverständnis eine Suchanzeige auf, die ab 4. Februar 2008 mehrmals in einer New Yorker Zeitung veröffentlicht wird. Thomas Guitti wird gebeten, mit Victor Valbon in Paris Kontakt aufzunehmen. Helena sei gestorben, heißt es in der Anzeige; dass sie eine Tochter hatte, wird nicht erwähnt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Thomas Guitti
Mitte Juli 2008 erhält Valbon Post aus Amerika. Der Umschlag enthält jedoch nur ein drei Wochen altes Musikprogramm der Saint Peter’s Church in Manhattan. Offenbar finden dort regelmäßig Jazz-Vespern statt.
Angèle fliegt nach New York. In Saint Peter’s Church ist nichts über einen französischen Saxofonisten namens Thomas Guitti bekannt. Man verweist sie an einen Jazz-Club in Harlem. Der Wirt schreibt Angèle nach langem Zögern eine Telefonnummer auf, die Tom hinterließ, nachdem er hier gespielt hatte.
Thomas Guitti war am 27. Januar 1968 mit einem Frachtschiff in New York angekommen. Bei der Zeichnung, mit der die Polizei nach ihm gesucht hatte, handelte es sich nicht um ein Phantombild, sondern um eine von Helena angefertigte Porträtstudie. Sie war vermutlich bei der Hausdurchsuchung gefunden worden. Das Musikprogramm der Saint Peter’s Church schickte nicht er, sondern ein Bekannter ohne sein Wissen nach Paris. Tom will auf keinen Fall in die Vergangenheit zurück, aber er verabredet sich mit seiner Tochter in einem Bahnhof.
Hinter einer Zeitung versteckt, sitzt er am Bahnsteig und bemerkt zwei Polizisten in Zivil. Um Angèle zu warnen, ist es zu spät. Er beobachtet, wie sie abgeführt wird.
Damals ahnte Tom nichts von einem Kind. Weil er Helena nur als fröhliche, gefühlvolle, künstlerisch begabte und fantasievolle junge Frau kannte, malt er sich nun aus, wie sie Angèle nach der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe erzog. Bestimmt war sie eine liebevolle Mutter und erzählte ihrer Tochter viele Gute-Nacht-Geschichten. Vielleicht brachte sie ihr auch das Malen bei. Die Vorstellung macht Tom glücklich.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Wenn dieses Stück zu Ende ist, wirst du zu mir herkommen oder ich werde zu dir hingehen. Erwarte keine Entschuldigungen. Ich bin da angekommen, wo ich hingehen wollte, auch wenn ich weit von dem entfernt bin, was ich mir erhofft hatte. Ich habe niemals so gespielt, wie ich hätte spielen sollen, hätte spielen wollen, ich habe an manchen Abenden große Glücksmomente erlebt, aber Technik allein macht noch keinen echten Musiker, er muss Unschuld besitzen, und ich bin nicht unschuldig. Ich bin ein Flüchtling, verschanzt hinter seinen Träumen […]
Du wirst zu mir herkommen oder ich werde zu dir hingehen, ich werde dir jene Worte sagen, auf die sie wartete, aber die ich ihr nie zu sagen wusste, weil ich sie nicht beherrschte, weil sie mir egal waren, weil der Freiheitsdrang gegen das Gefühl kämpfte, weil die Tränen der Mütter und auch die der Mädchen Fallen waren, weil Verliebte immer wie Kinder sind und ich lange Zeit einen Widerwillen gegen die Kindheit empfand, weil ich davonfliegen wollte, weil ich sie nicht brauchen wollte, weil ich sie, einmal in Nantes angekommen, nicht mit mir an Bord hätte gehen lassen, weil die Liebe nicht dazu taugt, verstanden zu werden …
Wenn dieses Stück zu Ende ist, werde ich dir einfach sagen, dein Vater und deine Mutter haben sich geliebt.
„Kümmernisse“, der Debüt-Roman der französischen Journalistin Judith Perrignon, ist nicht nur berührend, sondern auch formal überzeugend.
Die traurige Geschichte handelt von drei Frauen: Großmutter, Mutter, Kind. Erzählt wird aus mehreren Perspektiven in der Ich-Form. Mila kommt ebenso zu Wort wie ihre Enkelin Angèle; nur deren Mutter Helena bleibt stumm, obwohl sich alles um sie dreht. Außer den beiden Frauen vernehmen wir in „Kümmernisse“ die Stimmen von Angèles Vater, die eines greisen Journalisten und auch – in kurzen Tagebuch-Auszügen – die seiner verstorbenen Frau. Der Text des Romans setzt sich vorwiegend aus Erinnerungen, Reflexionen und Briefen zusammen. Dialoge gibt es keine. Von Gesprächen erfahren wir immer nur im Nachhinein von einer der beiden beteiligten Personen. Es bleibt bei Monologen.
Dieses polyphone Gefüge ist kunstvoll komponiert. Wie in einem Musikstück arbeitet Judith Perrignon in „Kümmernisse“ mit Wiederholungen, Variationen und Entwicklungen. Sie erzählt nicht chronologisch, sondern beginnt mit dem Abriss des Frauengefängnisses La Petite Roquette. Nach und nach verstehen wir die Zusammenhänge. Allmählich entstehen aus der verschachtelten Darstellung feinfühlig gezeichnete Porträts der handelnden Figuren. Ein Bild ergibt sich, obwohl die Schilderungen der verschiedenen Ich-Erzähler subjektiv sind. Bestürzt lesen wir, wie unzutreffend sich ein Mann das Leben der vor langer Zeit verlassenen und inzwischen verstorbenen Geliebten vorstellt.
Hervorzuheben ist nicht zuletzt die dichte Atmosphäre des niveauvollen Romans von Judith Perrignon. „Kümmernisse“, das ist große Literatur.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach