Manja Präkels : Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß Originalausgabe: Verbrecher Verlag, Berlin 2017 ISBN: 978-3-95732-272-2, 230 Seiten ISBN: 978-3-95732-291-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin Mimi Schulz wächst in einer Kleinstadt an der Havel auf. Der Nach­bar­junge Oliver, mit dem sie als Kind befreundet ist, rückt noch vor der Wende von ihr ab und radikalisiert sich in der rechts­radikalen Szene, die in dem Maße erstarkt, wie die gewohnte Ordnung zer­bricht, viele arbeitslos werden und aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche keine Zukunftsperspektive für sich mehr sehen. Oliver nennt sich Hitler und organisiert mit Gesinnungsgenossen Angriffe gegen Ausländer und Andersdenkende ...
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Kritik

Die Handlung des Romans "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" weist autobiografische Züge auf und spielt hauptsächlich in Manja Präkels Geburtsort Zeh­de­nick. Wobei "spielt" eigentlich nicht zutrifft, denn die Autorin ver­zichtet weitgehend auf konkret ausgemalte Szenen.
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Mimi und Oliver

Mimi Schulz wächst mit ihrem fünf Jahre jüngeren, 1974 geborenen Bruder Adolar in einer brandenburgischen Kleinstadt an der Havel auf. Zu ihren Freunden gehört der zwei Jahre ältere Nachbarssohn Oliver, der mit Dirkie ebenfalls einen jüngeren Bruder hat. Mimis Onkel Wilhelm ist ein hohes Tier bei der SED-Kreisleitung, und ihre Mutter, eine Lehrerin, die der Partei ebenfalls angehört, avanciert zur Stellvertreterin des Schuldirektors. Der Vater ist HO-Verkaufsstellenleiter, fällt jedoch häufig wegen Krankheiten aus. (Er wird später in Rostock eine Niere transplantiert bekommen.)

Als es sich für Jungen in seinem Alter nicht mehr schickt, mit Mädchen zu spielen, rückt Oliver von Mimi ab. Er hilft ihr auch nicht, als sie von den Steinmann-Brüdern mit leeren Flaschen beworfen wird.

Die Wende

Oliver wird zum Anführer der „Gorillas“ genannten Jugendlichen, die ihre Aggressionen ausleben und Parteimitglieder verachten. Nach der Öffnung der Berliner Mauer wird Mimis Mutter einmal von vier jungen Männern, deren Gesichter sie im Dunkeln nicht sehen kann, als „rote Fotze“ beschimpft. Ein zu den Gorillas gehörender Jugendlicher sticht einen angolanischen Vertragsarbeiter nieder und verletzt ihn lebensgefährlich. Die polizeiliche Fahndung nach dem Täter bleibt erfolglos.

Was mit unserem Land, der DDR, geschah, war aus der Froschperspektive schwer zu überblicken. Niemand sprach mehr von ihr. Waren wir noch da? Es hatte freie Wahlen gegeben. Mein neuer Reisepass wies mich als Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik aus. Aber alle redeten nur von Deutschland und meinten die BRD. Karl-Marx-Stadt hieß jetzt Chemnitz.

Als die SED keine Staatspartei mehr ist, verliert Onkel Wilhelm nicht nur seine Funktion in der Partei, sondern wird außerdem arbeitslos.

Mimi besucht nun ebenso wie ihre Freundin Ulli Schmidtke eine erweiterte Oberschule in der Kreisstadt. Einige Lehrer unterrichten plötzlich nicht mehr. Gerüchten zufolge hatten sie als Informanten für die Stasi gearbeitet. Als Ersatz kommen Lehrer aus Westdeutschland.

In einem Ferienlager am Nacktbadestrand von Usedom hatte Mimi einen Jungen kennengelernt, der „Zottel“ gerufen wurde. Der absolviert eine Maurerlehre, und weil es danach keinen Arbeitsplatz für ihn gibt, wird er gleich im Anschluss an die Ausbildung zum Maler umgeschult.

Die Regeln, nach denen wir Kinder von Putzfrauen, Ingenieuren, Lehrerinnen und Verkäufern uns einst am schönen Ostseestrand als Gleiche unter Gleichen begegnet waren, galten nicht mehr. Unsere Welt zerfiel in zwei Hälften.

Rechtsradikale

Immer mehr Jugendliche laufen mit Glatzen herum, tragen grüne Bomberjacken und Springerstiefel, darunter Oliver, die Steinmann-Brüder, der Bauernsohn Mike Lehmann und der Fleischersohn Mario Möllemann. Das Jugendklubhaus wird von ihnen beherrscht. Oliver nennt sich nun „Hitler“.

Sie hatten ihn zu ihrem Führer erkoren. Schon bald scharten sich um Hitlers unscheinbare Hänflingsgestalt die Busen­wunder, Diskomiezen und Pudelfrisuren des Ortes.

Die jungen Nazis schlagen Mimis Freund Michael Müller mehrmals zusammen. Ein Wohnheim von ausländischen Vertragsarbeitern wird überfallen. Die Wachtmeister Schäfer und Glubke erwischen ein paar von den Angreifern. Es sind Kinder: Die Anführer schickten ihre jüngeren, noch nicht strafmündigen Geschwister vor.

Mimi gilt bei den Neonazis als „Zecke“ und muss sich vor ihnen in Acht nehmen. Sie erfährt, dass Hitler seinen Hund aus dem Fenster schleuderte, weil ihm das Tier nicht aggressiv genug war.

Am ersten Wochenende des Jahres 1992 sitzt Mimi in der Gaststätte „Wolfshöhle“, als fünfzehn mit Baseballschlägern bewaffnete Neonazis hereinkommen. Sie und Zottel fliehen durch ein Fenster, aber Zottels jüngerer Bruder Krischi wird totgeschlagen. Der Täter kommt mit drei Jahren auf Bewährung davon.

Intermezzo in Berlin und Görlitz

Mimi zieht nach Berlin. In der Annahme, dass sie an der Humboldt-Universität studieren würde, hat die Mutter ihr eine Wohnung in Marzahn gemietet.

„Zecke! Punkdreck! Lesbensau!“ Willkommensgrüße wie diese sollten meinen Weg von der S-Bahn-Station bis hin zum Wohnblock begleiten.

Statt ein Studium zu beginnen, fährt Mimi nach Görlitz, zu Mäckie, den sie aus dem Heimatort kennt. Er möchte Organist werden, besucht die Kirchen­musik­schule und schlägt sich als Barpianist durch. Zusammen mit Timo, der ebenfalls aus der Havelstadt stammt, haust er in einer leerstehenden, besetzten Wohnung. „Such dir ein Plätzchen. Irgendwo liegt noch ein Schlafsack rum“, sagen sie zu Mimi.

Nach einer Weile kehrt Mimi nach Hause zurück, gesteht ihrer Mutter, dass sie nicht studieren werde und bezieht ihr altes Zimmer. Erst als der schwerkranke Vater droht, sie hinauszuwerfen, schaut sie sich nach einem Arbeitsplatz um und fängt bei einer Lokalzeitung in der Kreisstadt als Reporterin an.

Nach der Wende

Nachts blüht an den Tankstellen der Schwarzhandel. Aus Kofferräumen wird Diebesgut und aus Polen eingeschmuggelte Ware verhökert.

Von Oliver bzw. Hitler sieht Mimi nichts. Es heißt, er pflege Beziehungen zu polnischen Gesinnungsgenossen und beherrsche mit seiner Bande den örtlichen Drogenmarkt. Dann erfährt Mimi, dass Oliver nicht nur seinen eigenen jüngeren Bruder Dirkie, sondern auch Adolar als Tarnung bei Kurierfahrten einsetze. Daraufhin besorgt sie sich Olivers Adresse von seinem Vater, ruft ihn an und fordert ihn auf, die beiden Jungen in Ruhe zu lassen. Er antwortet:

„Scheiß auf Adolar, aber Dirkie ist meine Sache! Ruf hier nie wieder an.“

Mimi, Michael Müller und ein paar andere organisieren ein Volksfest. Aber zwei Stunden vor dem Beginn umringen Glatzköpfe das von der Polizei geschützte Gelände. Steine und Flaschen werden geworfen. Als sich die Nachricht verbreitet, dass die Polizei den Befehl zum Abzug erhalten hat, bricht eine Panik aus und das Volksfest muss beendet werden, bevor es überhaupt begonnen hat.

Junge Nazis liefern sich ein illegales Autorennen. Gewinnen soll, wer am knappsten vor einem anfahrenden Zug über einen unbeschrankten Bahnübergang kommt. Der Sieger prallt gleich hinter den Gleisen gegen einen Alleebaum. Der Verlierer – den Mimi gut kennt – rast ungebremst in den Zug und kommt dabei ums Leben.

Drei Jahre nach Krischis Ermordung werfen Mimi, Timo und Michael zunächst Steine, dann Molotow-Cocktails durch Fenster des Hauses, in dem Mario Möllemann und Mike Lehmann Treffen Gleichgesinnter veranstalten.

Mimi und Oliver

Hitler wird von Konkurrenten aus seiner Machtposition verdrängt. Er sinkt zum Kleindealer hinab.

Michael Müller erhängt sich.

Mimi kündigt bei der Zeitung und zieht wieder nach Berlin.

Zur Beerdigung ihres Vaters fährt sie in den Heimatort. Beim Leichenschmaus sitzt sie Oliver gegenüber, und sie essen Schnapskirschen, die in kleinen Schalen auf dem Tisch stehen, trinken Kaffee und Cognac.

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Manja Präkels nennt den Heimatort der Ich-Erzählerin Mimi Schulz nicht, spricht nur von der „Havelstadt“. Diese Zusatzbezeichnung gilt seit 2013 für Zehdenick nördlich von Berlin, den Geburtsort der Autorin. In Klein-Mutz, einem Ortsteil dieser brandenburgischen Stadt, kam in der Nacht auf den 5. Januar 1992 der 18 Jahre alte Ingo Ludwig aus der Gemeinde Löwenberger Land ums Leben. Offiziell hieß es später, die tödlichen Verletzungen seien nicht durch Fußtritte bei einer Schlägerei in der Gaststätte „Wolfshöhle“ entstanden, sondern beim Sturz des Betrunkenen auf einer Treppe. Die Journalistin Manja Präkels, die damals Augenzeugin war und darüber 2013 in der Wochenzeitung „Jungle World“ berichtete, zog die offizielle Darstellung in Zweifel. Ihren 2017 veröffentlichten Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ widmete sie Ingo Ludwig (und dem 2002 gestorbenen Silvio Seydaack).

Im Roman ist es ein Junge namens Krischi, der von jungen Nazis in der Gaststätte „Wolfshöhle“ erschlagen wird.

Der Titel bezieht sich auf einen Anführer der Neonazis in der Havelstadt, der eigentlich Oliver heißt, sich aber Hitler nennt.

In „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erzählt Manja Präkels vom Leben in einer Kleinstadt der DDR vom Ende der Siebzigerjahre bis nach der Wende, als die gewohnte Ordnung und die bisherige Lebensanschauung zerbrachen, viele arbeitslos wurden und aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche keine Zukunftsperspektive für sich mehr sahen. Frustration und Orientierungslosigkeit trieben vor allem junge Männer in den Radikalismus.

Manja Präkels schildert diese Entwicklung, ohne sich allerdings an einer Analyse zu versuchen.

Statt die augenscheinlich zum großen Teil auf eigenen Erlebnissen basierende Romanhandlung in konkret ausgemalte Szenen aufzulösen, erzählt Manja Präkels in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ und reiht dabei Impressionen und Ereignisse chronologisch aneinander. Beispielsweise schreibt sie:

Am Feuerwehrplatz, in einem der zerfallenden Nebengebäude der Domäne, lebten die Findigs. Unterm löchrigen Dach fanden Vater, Mutter und acht Kinder Platz, die meist ungekämmt und plappernd um die Häuser zogen. Vorneweg lief Mattes, mit dem ich in dieselbe Klasse eingeschult worden war. Doch schon nach ein paar Wochen war er nicht mehr bei uns gewesen, war ein Busschüler geworden, auf dem Weg zur Sonderschule. Er war der Älteste und der Einzige der Kinderbande, der aussah wie wir anderen. Zwei seiner Schwestern hatten einen Buckel, der kleine Hein humpelte ein bisschen, und vorm mittleren Bruder fürchtete ich mich, weil seine Augen aus dem Gesicht zu fallen drohten. Jedenfalls sah es so aus. Die Findig-Kinder schleppten einen Kuddelwagen mit sich herum, den sie im Laufe des Tages mit Altpapier und Flaschen beluden. Sie suchten und sammelten und brachten alles zur Sero-Annahmestelle, wo man Geld für die Altstoffe bekam. Mutter Findig war eigentlich nie zu sehen, der Vater, hieß es, sei ein brutaler Säufer.

Im zweiten der vier Teile von „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ beginnt Manja Präkels immerhin mit Veranschaulichungen durch Miniszenen wie dieser:

Ich schlief auf dem Flur der Wolfshöhle ein, in Hauseingängen und fremden Autos. Am nächsten Tag konnte ich mich nicht mehr erinnern, wie ich nach Hause gekommen war. Erst als ich eines Morgens erwachte und ein Zahn fehlte, einer von den schönen, weißen, ganz geraden Schneidezähnen oben links, erschrak ich vor mir selbst. Die linke Gesichtshälfte war dunkelblau und zugeschwollen. Blut klebte überall an meinen Kleidern. Minutenlang starrte ich in das Gesicht. Bis kein Zweifel mehr bestand. Das war ich.
Die Familie saß am Frühstückstisch. Sie sah wunderschön und sauber aus. Draußen lag frischer Schnee, und die Sonne schien. Die Mutter ließ das Messer fallen.

Von Mimi Schulz‘ Singapur-Reise erzählt Manja Präkels auf gerade einmal zwei Seiten. Diese ebenso fragmentarische wie flüchtige Darstellung lässt keinen Spannungsbogen entstehen. Dazu kommt, dass die meisten Figuren nicht vorgestellt werden und wir von vielen kaum mehr als den Namen erfahren.

Manja Präkels wurde am 21. Dezember 1974 in Zehdenick geboren. Nachdem sie einige Zeit als Lokalreporterin gearbeitet hatte, studierte sie an der FU Berlin Philosophie und Soziologie. 2001 gründete sie die Band „Der Singende Tresen“. Mehrmals organisierte sie in Berlin ein dem 1934 im KZ Oranienburg ermordeten Schriftsteller Erich Mühsam gewidmetes Kulturfestival. 2015/16 druckte die „tageszeitung“ Manja Präkels‘ Roman „Im Anwohnerpark“ in Fortsetzungen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Verbrecher Verlag

Katharina Faber - Manchmal sehe ich am Himmel einen endlos weiten Strand
Das Leid der Protagonisten geht unter die Haut, aber das Besondere an diesem Roman ist die Form: Nicht die Stimme eines Erzählers hören wir, sondern eine Komposition aus einem inneren Monolog der Hauptfigur und eingestreuten Kommentaren von insgesamt mehr als dreißig Figuren.
Manchmal sehe ich am Himmel einen endlos weiten Strand

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.