Leonardo Sciascia : Der Tag der Eule

Der Tag der Eule
Originalausgabe: Il giorno della civetta Giulio Einaudi editore, Turin 1961 Der Tag der Eule Übersetzung: Arianna Giachi Olten Verlag, Freiburg i. B. 1964 Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009 ISBN: 978-3-8031-2619-1, 141 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Auf der Piazza Garibaldi in S., einer kleinen Ortschaft in Sizilien, wird Salvatore Colasberna erschossen, der Vorsitzende einer Baugenossenschaft. Niemand will etwas gesehen haben. Capitano Bellodi, der die Ermittlungen leitet, geht davon aus, dass Colasberna Schutzgeldzahlungen verweigerte und deshalb sterben musste. Er lässt drei Verdächtige festnehmen und bringt zwei von ihnen durch Täuschungen dazu, sich gegenseitig zu belasten. In Rom macht man sich Sorgen ...
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Kritik

Nüchtern und mit grimmigem Humor, weder verharmlosend noch glorifizierend, stellt der Sizilianer Leonardo Sciascia in dem packenden Kriminalroman "Der Tag der Eule" Verflechtungen der Mafia mit politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern dar.
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Frühmorgens fährt auf der Piazza Garibaldi in S., einer kleinen Ortschaft in Sizilien, der Bus nach Palermo ab. Da kommt Salvatore Colasberna gelaufen, der Vorsitzende einer Baugenossenschaft, und der Bus hält noch einmal an. Als Colasberna aufs Trittbrett steigen will, wird er von zwei Schüssen tödlich getroffen. Während der Schaffner die Carabinieri holt, verdrücken sich die Fahrgäste. Niemand will etwas gesehen haben.

Jahrhundertealtes Schweigen schien auf ihren Gesichtern eingegraben. (Seite 8)

Der Maresciallo Arturo Ferlisi, der Kommandant der Carabinieri-Dienststelle in S., vermisst nicht nur die Fahrgäste, sondern auch den Ölkuchen-Verkäufer, der seine Ware jeden Morgen vor der Abfahrt des Busses nach Palermo auf der Piazza Garibaldi anbietet. Man holt ihn, und nachdem er zugegeben hat, auch an diesem Morgen dagewesen zu sein, fragt ihn ein Carabiniere:

„Wer hat geschossen?“
„Wieso?“, fragte der Ölkuchenmann erstaunt und neugierig. „Ist denn geschossen worden?“ (Seite 12)

Die Ermittlungen leitet Capitano Bellodi, der Kommandant der Carabinieri-Kompanie in C., ein überzeugter Republikaner aus Parma.

Die vom Festland sind freundlich, begreifen aber nichts. (Seite 15)

Innerhalb von drei Tagen erhält er fünf anonyme Briefe mit Hinweisen auf den Mord. In einem davon wird die Mafia als Auftraggeber beschuldigt. Bellodi kann sich die Zusammenhänge vorstellen: Der rechtschaffene Maurer Salvatore Colasberna hatte vor zehn Jahren mit zwei Brüdern und vier oder fünf anderen Handwerkern die Baugenossenschaft Santa Fara gegründet. Vor einiger Zeit wurde er vermutlich aufgefordert, Schutzgeld zu bezahlen, aber er weigerte sich, obwohl er wissen musste, dass die Mafia auch die Ausschreibungen von Bauaufträgen kontrolliert. Bellodi fand bereits heraus, dass vor ein paar Wochen Warnschüsse auf Colasberna abgegeben worden waren. Die Mafia konnte seine Weigerung nicht hinnehmen. Jetzt ist er tot. Bellodi schildert seine Überlegungen den überlebenden Brüdern Colasberna, aber sie wissen angeblich von nichts. Nach der ergebnislosen Vernehmung fordert Bellodi sie auf, ihre Namen, Adressen, Geburtsorte und –daten aufzuschreiben. Als er diese Schriftproben mit dem Brief vergleicht, in dem es heißt, Colasberna sei im Auftrag der Mafia umgebracht worden, stellt er fest, dass Giuseppe Colasberna der anonyme Absender ist.

Bellodi bestellt einen Informanten zu sich: Calogero Dibella, genannt Parrinieddu. In der Nachkriegszeit hatte er sich als Schafdieb strafbar gemacht, aber das tut er inzwischen als Jugendsünde ab. Seit einiger Zeit vermittelt er Kredite zu Wucherzinsen, und wegen seiner kriminellen Vergangenheit wagt es niemand, mit der Tilgung oder den Zinsen in Rückstand zu geraten. Mit den Provisionen kann Dibella seine Frau und seine drei Kinder gut ernähren. Sein ältester Sohn soll Priester werden oder besser noch Rechtsanwalt.

Wenn ausnahmsweise Zahlungsaufschub gewährt wurde, so geschah es nach einem Progressionsprinzip. Wer zum Beispiel einen Kredit aufgenommen hatte, um sich einen Esel zu kaufen, den er für seinen Morgen Land brauchte, bei dem holte sich der Gläubiger nach Ablauf von zwei Jahren den Esel und den Morgen Land. (Seite 27)

Dibella hat sich eine Lügengeschichte zurechtgelegt. Der Capitano durchschaut es und setzt ihm so lange zu, bis er am Ende folgendes sagt:

„Ich weiß von nichts. Aber so aufs Geratewohl würde ich sagen, dass entweder Ciccio La Rosa oder Saro Pizzuco diese Vorschläge [den Schutz der Mafia annehmen] gemacht haben könnte …“ (Seite 33)

Weil die beiden Männer verfeindeten Familien angehören, ist Bellodi klar, dass nur einer der beiden Namen in die richtige Richtung führt: Rosario Pizzuco.

Der sizilianische Abgeordnete Livigni unterhält sich in Rom mit einem anderen Politiker:

„Kommunist – Sozialist, was ist das schon für ein Unterschied?“ […]
„Also, um zu vermeiden, dass dieser …“
„Colasberna …“
„… dieser Colasberna ein Märtyrer der kommunistischen … entschuldigen Sie, der sozialistischen Idee wird, muss sofort ermittelt werden, wer ihn umgebracht hat. Sofort, sofort. Damit der Minister antworten kann, Colasberna sei das Opfer einer geschäftlichen Angelegenheit oder einer Ehebruchsgeschichte geworden und die Politik habe nichts damit zu tun.“ (Seite 34)

Livigni sagt, bei der Mafia handele es sich nur um ein Hirngespinst und macht sich darüber lustig, dass kürzlich jemand erklärte, es gebe sie tatsächlich.

„Da hat er haarsträubende Dinge behauptet. Die Mafia existiere. Sie sei eine mächtige Organisation, die alles kontrolliere: Schafzucht, Gemüseanbau, öffentliche Arbeiten und griechische Vasen …“ (Seite 35)

Die Ehefrau des Baumschneiders Paolo Nicolosi kommt schon zum zweiten Mal zur Polizei in S., um ihren Mann als vermisst zu melden. Am fünften Tag nach Nicolosis Verschwinden wird endlich ein Protokoll aufgenommen. Als Bellodi erfährt, dass das Ehepaar in der Via Cavour in S. wohnt, befürchtet er, dass der Baumschneider tot ist. Denn der Mörder rannte vermutlich durch die Via Cavour vom Tatort fort. Dabei könnte Nicolosi ihn gesehen haben, als er sich mit seinem Esel auf den Weg zum Gutshof Fondachello machte, wo er nie eintraf. Bei der Befragung der Ehefrau stellt sich heraus, dass Nicolosi noch einmal kurz ins Schlafzimmer zurückkam, sie fragte, ob sie die beiden Schüsse gehört habe und erzählte, ein Mann sei fortgelaufen. Bellodi muss mehrmals nachfragen, bis die Frau den Spitznamen angibt, den Paolo Nicolosi ihr nannte: Zicchinetta.

Der Maresciallo geht sogleich zu Don Ciccio, dem Barbier, lässt sich rasieren und fragt nach Zicchinetta. Danach berichtet er Bellodi, Don Ciccio habe diesen Namen noch nie gehört, also gebe es ihn auch nicht in S. Aber der Barbier habe ihm erzählt, dass Nicolosis Frau die heimliche Geliebte eines Kassierers des Elektrizitätswerks mit Namen Passerello sei.

Der Spitzname Zicchinetta gehört zu Diego Marchica in B., einem Kriminellen, der erst vor einigen Monaten begnadigt und aus dem Zuchthaus entlassen wurde.

Calogero Dibella fällt nach seiner Vernehmung durch sein ängstliches Verhalten auf, das signalisiert, dass er der Polizei Namen nannte. Er wagt sich kaum noch aus dem Haus, und als er befürchtet, nicht mehr lang zu leben, schickt er Bellodi einen Brief, in dem er neben dem Namen Rosario Pizzuco einen weiteren nennt: Don Mariano Arena. Kurz darauf wird er auf der Schwelle seines Hauses mit zwei Schüssen getötet.

Dass ein Capitano der Carabinieri offenbar unbestechlich und furchtlos in einem sizilianischen Mordfall ermittelt und die Praktiken bei öffentlichen Ausschreibungen dabei mit einbezieht, schlägt Wellen. In Rom hält man Bellodi deshalb für einen Kommunisten und befürchtet einen nationalen Skandal.

Bellodi lässt Rosario Pizzuco, Diego Marchica und Don Mariano Arena festnehmen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Marchica täuscht er vor, Pizzuco habe ausgesagt und ihn belastet. Angeblich gab Pizzuco zu Protokoll, er habe Marchica erzählt, wie er von Salvatore Colasberna beleidigt wurde. Daraufhin sei ihm von Marchica angeboten worden, Colasberna etwas anzutun, aber das habe er abgelehnt. Trotzdem habe Marchica nicht nur Colasberna, sondern auch den Zeugen Nicolosi ermordet.

Nachdem Marchica das gefälschte Protokoll vorgelesen wurde, sagt er wütend aus, Pizzuco habe ihm Geld für die Ermordung Colasbernas angeboten. Nur weil er sich in einer finanziellen Notlage befunden und das Geld gebraucht habe, sei er darauf eingegangen und habe Colasberna mit einem von Pizzuco zur Verfügung gestellten Gewehr erschossen. Auf der Flucht sei er in der Via Cavour von Nicolosi gesehen worden. Pizzuco habe ihm versichert, er werde sich um das Problem kümmern.

Mit diesem echten Geständnis konfrontieren die Carabinieri Pizzuco. Außerdem lassen sie ihn wissen, dass sein Schwager mit der Tatwaffe, einem Gewehr mit abgesägten Läufen, ertappt wurde. Der Mann sagte aus, Pizzuco habe ihn beauftragt, die Waffe verschwinden zu lassen. Wütend erklärt Pizzuco daraufhin, er habe Colasberna vor drei Monaten gut gemeinte Ratschläge erteilen wollen, aber dieser sei nicht darauf eingegangen und habe ihn stattdessen beleidigt. Das habe er bei Gelegenheit Marchica erzählt. Einige Zeit später habe er Marchica im Landhaus seiner Frau übernachten lassen, ohne sich dabei etwas zu denken, und ihm auf seinen Wunsch hin ein Gewehr für die Jagd zur Verfügung gestellt. Erst als er von dem Mord gehört habe, sei ihm der Verdacht gekommen, Marchica könne die Waffe für etwas anderes benutzt haben. Um nicht in ein Kapitalverbrechen verwickelt zu werden, habe er seinen Schwager gebeten, das Gewehr fortzuschaffen.

Paolo Nicolosis Leiche wird in einer neun Meter tiefen Felsspalte im Chiarchiaro gefunden.

Aufgrund der Ermittlungsergebnisse erlässt der zuständige Richter Haftbefehle gegen die bis dahin nur vorläufig Festgenommenen Diego Marchica, Rosario Pizzuco und Don Mariano Arena, und zwar wegen Mordes bzw. Anstiftung zum Mord.

Ein Politiker berichtet dem Abgeordneten Livigni bei einer vertraulichen Unterredung, er habe 1927 eine dicke Akte über die Don Mariano Arena zur Last gelegten Verbrechen in der Hand gehabt. Diese sei dann aufgrund einer Intervention von weiter oben so lange zwischen Behörden hin- und hergeschickt worden, bis sie verschwand. Man dürfe auf keinen Fall zulassen, dass die Ermittler Don Mariano Arena zum Reden bringen. Die Politiker beschließen, Diego Marchica ein hieb- und stichfestes Alibi zu verschaffen und damit Bellodis Kartenhaus zusammenstürzen zu lassen. Falls Marchica bereits gestanden habe, müsse er sich darauf berufen, von der Polizei unzulässig unter Druck gesetzt worden zu sein und seine Aussage widerrufen.

Unter der Schlagzeile „Carabinieri übersehen Fährte bei den Morden in S.“ weist eine Zeitung auf die Liebesaffäre von Paolo Nicolosis Witwe mit Passerello hin.

Maresciallo Arturo Ferlisi wird, angeblich auf eigenen Wunsch, von S. nach Ancona versetzt.

Capitano Bellodi wird als Protokollführer zu einem Prozess nach Bologna abkommandiert. Danach macht er erst einmal Urlaub bei seiner Familie in Parma.

Der sizilianische Brigadiere D’Antona schickt ihm Ausschnitte aus Lokalzeitungen. Ihnen entnimmt Bellodi, dass der höchst angesehene, in P., einem 76 Kilometer von S. entfernten Ort lebende Doktor Baccarella inzwischen aussagte, Diego Marchica habe zur Tatzeit Gartenarbeiten für ihn verrichtet. Das bezeugten außer Baccarella auch noch andere ehrenwerte Männer. Marchica widerrief sein Geständnis und erklärte, er habe seinen Schwager gebeten, das Gewehr wegzubringen, weil er ein schlechtes Gewissen wegen des unerlaubten Waffenbesitzes bekommen habe. Die Witwe Nicolosi und ihr Liebhaber werden verhaftet. Es heißt, Capitano Bellodi habe unerklärlicherweise Indizien übersehen, die das Paar belasten.

Trotz allem rechnet Bellodi damit, dass er nach Sizilien zurückkehren wird.

„Ich werde mir den Kopf daran einrennen“, sagte er laut. (Seite 137)

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„Und wer für solch Hoffnung nicht will fechten, geh heim ins Bett, so wie bei Tag die Eule, beim Aufstehen dann verhöhnt und angestaunt“, sagt Herzog von Somerset in dem Drama „Heinrich VI.“ von William Shakespeare (3. Teil, 5. Aufzug, 4. Szene). Diese Zeile inspirierte Leonardo Sciascia (1921 – 1989) zu dem Titel „Der Tag der Eule“, den er für den ersten seiner sechs „sizilianischen Kriminalromane“ wählte.

Ohne Verharmlosung oder Glorifizierung stellt der Sizilianer Leonardo Sciascia Verflechtungen der Mafia mit politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Entscheidungsträgern dar. Dabei ist die Mafia für ihn ein Symbol für einen Staat im Staat, für Korruption, Machtmissbrauch und ein gewaltsam aufrechterhaltenes System.

Die Familie ist der eigentliche Staat des Sizilianers. Der Staat, das, was für uns der Staat ist, liegt ihm fern: ein reines Machtgefüge, das ihm die Steuern, den Militärdienst, den Krieg und die Carabinieri auferlegt. Innerhalb der Institution der Familie überwindet der Sizilianer seine naturgegebene tragische Einsamkeit und fügt sich, unter haarspalterischen vertraglichen Regelungen, dem Zusammenleben. (Seite 108)

Die archaische Denkweise traditionsbewusster Sizilianer umreißt Leonardo Sciascia mit dem Satz:

Der Tod ist nichts im Vergleich zur Schande (Seite 14)

„Der Tag der Eule“ ist jedoch kein Sachbuch, sondern ein packender, überzeugend konstruierter Kriminalroman mit ernstem Hintergrund. Wie bei einer Collage fügt Leonardo Sciascia in die Handlung Dialoge anonymer Drahtzieher ein. Die Darstellung ist nüchtern, aber auch von grimmigem Humor geprägt.

Der Roman „Der Tag der Eule“ wurde von Damiano Damiani verfilmt.

Der Tag der Eule / Don Mariano weiß von nichts – Originaltitel: Il giorno della civetta – Regie: Damiano Damiani – Drehbuch: Damiano Damiani, Ugo Pirro, nach dem Roman „Der Tag der Eule“ von Leonardo Sciascia – Kamera: Tonino Delli Colli – Schnitt: Nino Baragli – Musik: Giovanni Fusco – Darsteller: Claudia Cardinale, Franco Nero, Lee J. Cobb, Tano Cimarosa, Gaetano Cimarosa, Nehemiah Persoff, Ennio Balbo u.a. – 1968; 110 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Paul Zsolnay Verlag

Leonardo Sciascia: 1912 + 1

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.