Cheyenne. This Must Be the Place

Cheyenne. This Must Be the Place

Cheyenne. This Must Be the Place

Cheyenne. This Must Be the Place – Originaltitel: This Must Be the Place – Regie: Paolo Sorrentino – Drehbuch: Umberto Contarello, Paolo Sorrentino – Kamera: Luca Bigazzi – Schnitt: Cristiano Travaglioli – Musik: David Byrne, Will Oldham – Darsteller: Sean Penn, Frances McDormand, Judd Hirsch, Eve Hewson, Kerry Condon, Harry Dean Stanton, Joyce Van Patten, David Byrne, Olwen Fouéré, Shea Whigham, Liron Levo, Simon Delaney, Heinz Lieven u.a. – 2011; 115 Minuten

Inhaltsangabe

Nach dem Suizid zweier Jugendlicher, die sich seine düsteren Songs zu Herzen genommen hatten, beendete Cheyenne seine Karriere als Rockstar. Allerdings schminkt und kleidet er sich noch immer wie die Kunstfigur. Schuldgefühle drücken ihn nieder. Weil er den Atlantik wegen seiner Flugangst mit dem Schiff überquert, kommt er erst in New York an, als sein Vater bereits tot ist, und er kann sich nicht mehr mit ihm versöhnen ...
mehr erfahren

Kritik

Paolo Sorrentino hat die poetisch-fantasievolle Tragikomödie "Cheyenne. This Must Be the Place" mit skurrilen Figuren und absurden, irrwitzigen Szenen gespickt. Einfallsreich plädiert er für eine Vielfalt von Lebensarten.
mehr erfahren

Cheyenne (Sean Penn) war ein Rockstar. Sogar Mick Jagger hatte mit ihm zusammen gesungen. Aber seine Depro-Punk-Songs lösten bei den beiden 16 bzw. 15 Jahre alten Brüdern Shane und Liam Keogh Selbstmordgedanken aus, und am 18. August 1988 nahmen sie sich das Leben. Daraufhin beendete Cheyenne seine Karriere. Schuldgefühle drücken ihn zu Boden. Er geht noch immer ans Grab der beiden Jugendlichen, obwohl ihn deren Eltern dort nicht sehen wollen.

Von dem damals verdienten Geld hatte er sich eine Villa in Dublin gekauft. Dort wohnt er mit der Feuerwehrfrau Jane (Frances McDormand), mit der er seit 35 Jahren verheiratet ist. Abgesehen von der Liebe seiner lebenstüchtigen Frau ist Cheyennes Leben trist und leer. Sein Outfit ist noch immer der des Rockstars, einer Kunstfigur, geschminkt wie eine Drag Queen, das tiefschwarze Haar auftoupiert und gothic Klamotten tragend. Obwohl Cheyenne Mitte 50 ist, wirkt er nicht erwachsen. Dass er an der Börse spekuliert, ist für ihn nichts anderes als ein spielerischer Zeitvertreib. Die Depression zeigt sich in langsamen Bewegungen, Schlurfen, Lakonie und Fistelstimme. Er fühlt sich viel zu müde, um böse zu sein, aber zwei junge Damen (Danielle O’Brien, Margaret O’Reilly), die sich in einem Supermarkt über den aus der Zeit gefallenen Grufti mokieren, finden ein paar Minuten später ihren Einkaufswagen mit zerstochenen Milchtüten vor.

Der extravertierte Nachbar Jeffery (Simon Delaney) erzählt fortwährend von neuen Abenteuern beim Sex mit rasch wechselnden Frauen, aber Cheyenne interessiert das alles gar nicht.

Platonisch befreundet ist Cheyenne mit dem Goth-Girl Mary (Eve Hewson), dessen in der Nachbarschaft wohnende Mutter (Olwen Fouéré) nur noch am Fenster steht und auf die Rückkehr des seit drei Monaten vermissten Sohnes Tony wartet. Als er merkt, dass sich der schüchterne Kellner Desmond (Sam Keeley) in die 16-Jährige verliebt hat, diese jedoch von dem Spießer nichts wissen will, versucht er, die beiden jungen Leute miteinander zu verkuppeln.

Eines Tages erhält er von seinem Cousin Richard (Liron Levo) die Nachricht, dass sein Vater, mit dem er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, in New York im Sterben liegt. Wegen seiner Flugangst reist Cheyenne mit dem Schiff – und trifft deshalb erst im Haus des Vaters ein, als sich dort bereits die Trauergäste versammelt haben. Für eine Versöhnung von Vater und Sohn ist es zu spät. Als Cheyenne den Toten betrachtet, fällt ihm die am Arm eintätowierte KZ-Nummer auf.

Cheyenne erfährt, dass sein jüdischer Vater seit dem Zweiten Weltkrieg vergeblich nach dem früheren KZ-Schergen Alois Lange (Heinz Lieven) fahndete, der ihn vermutlich in Auschwitz drangsaliert hatte. Weil der 79-jährige Mordecai Midler (Judd Hirsch), der sein Leben der Aufspürung von nationalsozialistischen Verbrechern gewidmet hat, Cheyenne seine Hilfe verweigert, macht dieser sich allein auf die Suche, und zwar in einem Auto, das ihm ein Zufallsbekannter leiht, der aus Texas stammende Ernie Ray (Shea Whigham). Der Börsenmakler muss unerwartet von New York weiter nach London und ist froh, während der vierwöchigen Abwesenheit nicht die hohen Gebühren in einem New Yorker Parkhaus bezahlen zu müssen.

In Bad Axe/Michigan spürt Cheyenne die Geschichtslehrerin Dorothy Shore (Joyce Van Patten) auf, die Ehefrau des inzwischen schätzungsweise 95-jährigen Alois Lange, und gibt sich als ehemaliger Schüler aus. Er heiße John Smith, lügt er. Dorothy Shore kann sich an keinen Schüler dieses Namens erinnern, und Jackie (Madge Levinson), die bei ihr im Wohnzimmer sitzt, findet den Fremden im gothic look abstoßend. Dennoch bieten sie ihm eine Tasse Tee an. Ihr Mann sei vor zehn Jahren gestorben, sagt Dorothy Shore. Ihr Sohn Neven sei nach Australien ausgewandert, aber sie sehe hin und wieder ihre in Alamogordo/New Mexico lebende Enkelin Rachel (Kerry Condon) und deren Kind Tommy (Grant Goodman).

Also macht Cheyenne sich auf den Weg nach Alamogordo. An einer Tankstelle setzt sich ein Indianer (Frank Adakai) wortlos auf den Beifahrersitz. Auf einer durch weite Kornfelder führenden Straße bedeutet er Cheyenne, dass er aussteigen wolle und geht dann querfeldein.

Rachel arbeitet als Bedienung in einem Fast-Food-Restaurant. Er verabredet sich mit ihr und erzählt ihr, dass er es bereue, die Beziehung zu seinem Vater vor langer Zeit abgebrochen zu haben. Rachel vertraut ihm an, dass ihr inzwischen in Hongkong lebender Vater ebenfalls keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern habe, weder zu ihrer Großmutter in Bad Axe/Michigan, noch zu ihrem Großvater in Huntsville/Utah.

Während eines Tankstopps auf der Fahrt von Michigan nach Utah geht das von Ernie Ray geborgte Auto in Flammen auf.

Cheyenne kauft eine Pistole.

In einer Gaststätte in Huntsville setzt sich Cheyenne, der stets einen Trolley zieht, zu einem Bewohner der Kleinstadt an den Tisch. Robert Plath (Harry Dean Stanton) behauptet, der Erfinder des Rollkoffers zu sein. Auf Cheyennes Frage nach einem aus Deutschland stammenden Greis nennt er ihm den Namen Peter Smith. Dessen Behausung steht allerdings leer.

Überraschend taucht Mordecai Midler bei Cheyenne im Hotel auf. Er hat es sich anders überlegt und will ihm nun doch helfen, die Suche des Vaters nach Alois Lange fortzusetzen. Mordecai Midler weiß auch schon, wo Alois Lange alias Peter Smith zu finden ist: in einer mobilen Holzhütte auf einem abgelegenen Hochgelände.

Während Mordecai Midler im Auto wartet, stellt Cheyenne den ehemaligen SS-Mann zur Rede. Alois Lange berichtet von seiner Begegnung mit Cheyennes Vater im Winter 1943. Der jüdische Häftling machte damals etwas verkehrt; Alois Lange erinnert sich nicht mehr, was es war. Jedenfalls reagierte der KZ-Wächter darauf mit der Drohung, er werde ihn von seinem Schäferhund in Stücke reißen lassen, und das Tier knurrte. Alois Lange wollte nur Spaß machen, aber Cheyennes Vater fürchtete sich, empfand das als Demütigung und verfolgte seinen Peiniger deshalb bis zu seinem Tod. Über diese Beharrlichkeit äußert sich Alois Lange respektvoll.

Statt den Deutschen zu erschießen, knipst Cheyenne in Foto von ihm und zwingt ihn dann, sich splitternackt auszuziehen. Mordecai Midler kann es kaum fassen, als er den frierenden Greis aus der Tür kommen und durch den Schnee gehen sieht.

Cheyenne überwindet seine Flugangst und kehrt mit der nächsten Maschine nach Dublin zurück.

Marys Mutter sieht durchs Fenster, wie er sich nähert. Cheyenne hat sich die Haare schneiden lassen, ist nicht mehr geschminkt und ganz normal gekleidet. Unter dem Fenster bleibt er stehen und blickt zu der Nachbarin hinauf, die ihren Sohn vermisst. Sie lächeln sich an.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Cheyenne. This Must Be the Place“, eine Mischung aus Roadmovie und Tragikomödie von Umberto Contarello und Paolo Sorrentino, dreht sich um die Identitätssuche und Selbstfindung eines exzentrischen Künstlers Mitte 50. Es ist nicht zuletzt ein Plädoyer für eine Vielfalt von Lebensarten. An der Frage, ob das Thema Holocaust nicht zu ernst ist, um ohne politischen Ansatz in einem Film tangiert zu werden, scheiden sich die Geister.

Auf jeden Fall ist „Cheyenne. This Must Be the Place“ nicht einfach nur die Illustration einer Erzählung, sondern großes, fantasievolles Kino fernab vom Mainstream. Mit überbordendem Einfallsreichtum hat Paolo Sorrentino den einfachen, geradlinigen Plot sowohl mit skurrilen Figuren als auch absurden, irrwitzigen, schrägen und versponnenen Episoden bereichert. Dabei schreckt er auch nicht vor poetischem Nonsens zurück, aber selbst die unsinnigsten Szenen wirken prägnant und fügen sich nahtlos ein, etwa wenn ein Einbrecher Gefahr läuft, durch das Geschnatter einer Gans in der Küche von der Hausbesitzerin entdeckt zu werden. Ungewohnte Kamerabewegungen und opulente Bilder in kräftigen, bunten Farben untermalen die außerordentliche Kreativität der Filmemacher.

Paolo Sorrentinos Vorbild für den Protagonisten Cheyenne soll der englische Musiker Robert James Smith (* 1959) gewesen sein, der Gründer der Rockgruppe „The Cure“, der mit toupiertem Haar und verschmiertem roten Lippenstift auftrat.

Mary wird von der Irin Eve Hewson gespielt, der 1991 geborenen Tochter des Rock-Sängers Bono und der Aktivistin Ali Hewson.

Den Titel „This Must Be the Place“ hat Paolo Sorrentino von einem Song der amerikanischen Rockgruppe „Talking Heads“ übernommen, deren Gründer und Frontman David Byrne die Filmmusik mit Will Oldham zusammen geschrieben hat. David Byrne ist in „This Must Be the Place“ nicht nur in einem Cameo-Auftritt als Cheyennes Freund, sondern auch bei einem Konzert in einem Club in New York zu sehen bzw. zu hören.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016

Paolo Sorrentino: Il Divo
Paolo Sorrentino: La Grande Bellezza. Die große Schönheit
Paolo Sorrentino: Ewige Jugend

Magdalen Nabb - Tod in Florenz
"Tod in Florenz" ist ein unterhaltsamer, passagenweise volkstümlicher Kriminalroman von Magdalen Nabb, der allerdings formal nicht ganz überzeugt.
Tod in Florenz